Horst Pankow: Von Caligari zu Corona
Erstaunliche Tiefschürfung auf den Bahamas
War eigentlich der Doctor Caligari ein Philanthrop? Noch vor einigen Jahren hätte diese Frage unter Cineasten, Psychohistorikern und diskurskritischen Entrümplern eines vermeintlich repressiven Humanismus als Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten, von Seminaren und Kongressen Spitzenwerte in der Publikumsbeurteilung erzielt. Inzwischen dürfte man auch dort etwas gelassener sein. Ja, selbstverständlich, würde man sagen, war er das, denn man wisse doch längst, dass die schlimmsten Dinge den besten Absichten entsprängen.
Nun hat aber eine jüngst von der Redaktion Bahamas durchgeführte Tiefschürfung die Frage nicht nur aufs Neue aufgeworfen, sondern sogar erweitert: dergestalt ob der Doctor Caligari nicht auch zu den großen Überschusstätern der Film- und Medizingeschichte, solchen, die aus einem Überrmaß an persönlicher wie beruflicher Leidenschaft handeln, zu zählen sei. Bekanntlich hatte der Heilige Augustinus schon im 5. Jahrhundert herausgefunden, dass das Böse einem Übermaß an Gutem entspringt und die Sünde einem Übermaß an Tugend. Wohl solcherart belehrt, nähert sich die Redaktion einem Beispiel zeitgenössischen Caligarismus mit aller geziemenden Temperance. In ihrem Editorial zur gerade erschienenen Nummer 84 teilt die Redaktion zunächst das Folgende mit: „Die Redaktion Bahamas maßt sich nicht an, beurteilen zu können, ob die mit Wörtern wie Kontaktverbot oder Ausgangssperre verbundenen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus der Weisheit letzter Schluss sind.“
Besser könnte eine anschleimende Formulierung die Rezipienten nicht auf ihre eigene Torheit verweisen. Denn dummerweise haben wir uns wohl daran gewöhnt, zur Schau gestellte Bescheidenheit als Tugend und nicht als Kalkül einer behelfsmäßigen Diplomatie zu werten. Wer würde sich schon eine Beurteilung herausnehmen, ohne sogleich vom schlechten Gewissen des Anmaßenden, denn Anmaßung ist Usurpation und damit illegitim, befallen zu werden. Und wer würde sich ohne anschließende bittere Reue gar anmaßen, „der Weisheit letzter Schluss“ zu verkünden. Mea culpa, mea maxima culpa. Nun maßt die Redaktion Bahamas sich die Beurteilung von „Maßnahmen“, die mit gewissen „Wörtern“ „verbunden“ sind, nicht an. Die Verbindung eines Nomens mit anderen Wörtern muss selbstverständlich nicht immer eine attributische sein, selbst dann, wenn es sich dabei um eine syntaktisch offensichtliche handelt, kann der kritische Interpret immer noch sagen: „Das hat sachlich überhaupt nichts miteinander zu tun, das ist reine Willkür.“ Der Redakteur einer „ideologiekritischen“ Quartalsschrift ist ein solcher kritischer Interpret. Er mag daher solche Schroffheit der anderen nicht und verkündet unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Coolness die Entdeckung einer „Verbindung“, einer häßlichen. „Maßnahmen“, die „zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus“ dienen, wer könnte gegen die schon etwas haben, werden mit „Wörtern“ verbunden, die durchschnittlichem Gebrauch und Verständnis zufolge, unangenehme Dinge bezeichnen: „Kontaktverbot oder Ausgangssperre“. Warum „oder“? Warum auch immer, die Autoren des Editorials scheinen sie als unangemessen, d. h. der „Maßnahme“ nicht gemäß, zu werten.
Ein Schelm, wer darauf beharrt, Ausgangssperren und Kontaktverbote, die Aufhebung der seit der Französischen Revolution selbstverständlichen „bürgerlichen Freiheiten“, temporär abgeschafft nur durch Herrschaftsformen, denen zwar grob verallgemeinernd, dennoch im moralischen Sinne berechtigt, das Stigma „faschistisch“ anhängt, seien für eine „normale“ bürgerliche, auch spätbürgerliche Herrschaft unabdingbar, ihre Abschaffung nur dann geboten, wenn so auf revolutionäre Weise die Möglichkeiten menschlicher Freiheit ausgeweitet würden. Aber wem geht es noch um Freiheit, wem kann es überhaupt noch darum gehen, wenn durch einen Virus die Volksgemeinschaft bedroht scheint? Der Redaktion Bahamas jedenfalls nicht.
Im Reich des Apodiktischen
„Unbestreitbar ist, dass ein solches Vorgehen die Ausbreitung einer Epidemie eindämmen kann.“ Tatsächlich unbestreitbar, und nichts anderes, ist hier zunächst die richtige, das heißt apodiktische, Verwendung des Abverbs „unbestreitbar“. Varianten wie „Es kann doch wohl nicht bestritten werden, dass …“ oder „Wir halten es für unbestreitbar, dass …“ Freilich erforderten solche Sätze noch eine weitere Konjunktion, nämlich „weil“. Und dieses „weil“ könnte hier nur auf Quellen verweisen, etwa „weil die Regierung“, „weil die Massenmedien“ oder „weil die von beiden aufgebotenen Spezialisten“ … Durch solcherart Konditionalsätze könnte allerdings der Eindruck erweckt werden, es gäbe noch andere Quellen, die das suggestiv unbezweifelbare Fundament des Adverbs „unbestreitbar“ in Frage stellen könnten. Deshalb ist die Konjunktion „weil“ im apodiktischen Zusammenhang meistens tabu. Hat die Redaktion auf diese Weise erst einmal ein „Jeder weiß …“ oder „Wir alle wissen doch …“ in die Welt gesetzt; wer würde sich an diesem Betonpfeiler den Kopf einrennen, ohne ein hämisches „Selbst schuld“ zu ernten.
Auf der Grundlage dieser Gewissheit fährt man dann scheinbar relativierend fort, indem man die Selbsteinschränkung „so sehr auch“ in Einsatz bringt, mit der man großzügig einräumt, nicht alles, was die affirmierte Partei ausmacht auch selbst zu goutieren. „So sehr im Fall des Coronavirus“, heißt es im Bahamas-Editorial, „die staatlich verfügten Einschränkungen des öffentlichen und auch ganz[!] privaten Lebens an Notstandsmaßnahmen erinnern, völliger Unsinn wäre es, Mitte April 2020 der Bundesrepublik Deutschland oder einem anderen demokratischen Land zu unterstellen, diese Aktivitäten seien eine Inszenierung des Staates, um die totale Beherrschung seiner Bürger mit deren Einverständnis herzustellen, oder sie dienten gar der präventiven Konterrevolution gegen potentiell aufrührerische Elemente.“ Erinnern? Hier ereilt den distanzierten Leser zunächst eine eigene Erinnerung – und zwar an den bewußt paradoxen Bestsellertitel „Erinnerungen an die Zukunft“. Die gegenwärtigen „Einschränkungen“ erinnern nicht, sie stellen klar. Alle, sowohl die majoritären Befürworter als auch die minoritären Kritiker der Maßnahmen sind derzeit darüber einig, mit etwas völlig Neuem zu tun zu haben. Mindestens seit dem 2. Weltkrieg habe es so etwas in Deutschland nicht gegeben, verkündet die Regierungschefin mit unverhohlenem Stolz, und alle nicken, manche vielleicht ohne Stolz, aber sie nicken mit Recht. Denn das Neue, und daher nicht Erinnerbare des befremdlichen Gesamtkunstwerkes Corona-Deutschland besteht doch gerade in der Abwesenheit traditioneller Ursachen für einen staatlichen Notstand. Auffällig an der gesamten Inszenierung ist doch ihr weitgehend ziviler Charakter. Nicht Panzer mit erigierten Geschützen halten aufgebrachte Menschenmengen in Schach, die Leute bleiben von selbst zu Hause, einfach, weil sie dazu aufgefordert werden. Nicht Spezialkommandos der Exekutivkräfte stürmen die Wohnungen Oppostioneller und verfrachten sie in Fußballstadien und andere Sammelstellen, es gibt gar keine Oppositionelle, deretwegen sich solcher Aufwand lohnen würde. (Ach, halt … Da hat gerade ein Schlaumeier etwas Richtiges gesagt: „Fußballstadien und so würden gar nicht gehen, weil die Leute da ja nicht den Corona-Abstand von mindestens ein Meter fünfzig einhalten würden.“ Das stimmt wohl.) Wer dennoch zu Widerspruch geneigt ist, gerät schnell in Gefahr als „Verschwörungstheoretiker“ oder auch „Corona-Leugner“ stigmatisiert zu werden, was bisweilen den sozialen Tod nach sich ziehen kann.
Auf die Einschränkung „so sehr auch“ folgt in der Regel eine hammerharte Klarstellung. So auch hier: „… völliger Unsinn wäre es …“, ja, was wohl? Den Guten Böses „zu unterstellen“. Und die Guten sind alte Bekannte wie auch die Bösen, die „der Bundesrepublik Deutschland oder einem anderen demokratischen Land [etwas] zu unterstellen“ sich anmaßen. Solchen staatsförmigen Unschuldslämmer etwas „zu unterstellen“ kann nur bösen Menschen einfallen, denen immer noch ein gehässiges BRD entfährt, wo doch staatsbürgerlich loyal die amtlich verbriefte Staatsbezeichnung aufzusagen wäre. Wiederholen wir noch einmal die oben schon zitierte Unterstellung: „ .. diese Aktivitäten seien eine Inszenierung des Staates, um die totale Beherrschung seiner Bürger mit deren Einverständnis herzustellen, oder sie dienten gar der präventiven Konterrevolution gegen potentiell aufrührerische Elemente.“ Ja, aber wer sagt denn so etwas überhaupt? Man ist geneigt, hier an die einst von dem spanischen Surrealisten Fernando Arrabal während unangenehmer Erfahrungen mit der autoritären Linken entdeckte „Ollendorf-Methode“ zu denken. Arrabal hat zwar nicht verraten, wer Ollendorf war und wie dieser Terminus entstand, doch hat er seinen Inhalt ziemlich präzise skizziert: „Diese Methode besteht darin, jede beliebige These mit Hilfe von Argumenten zu widerlegen, die nicht das geringste mit der Sache zu tun haben.“ Zweck dieser Methode sei es, so Arrabal, am Ende ein „Gesinnungsurteil“ über den/die Kritiker zu verhängen. (Fernando Arrabal: Kloaken der Macht. Brief an General Franco. Brief an die spanischen Kommunisten. Karin Kramer Verlag Berlin: 1981. S. 101)
„Wir können auch anders“
„Vorläufig, das heißt, bis zur eher unwahrscheinlichen Belehrung eines Schlechteren, muss davon ausgegangen werden, dass Staat und Politik wirklich Leben retten wollen.“ Wer „vorläufig“ sagt, behauptet so souverän zu sein, dass er es sich auch noch anders überlegen kann. Damit diese Feststellung nicht als Drohung zur Rückkehr auf frühere kritische Positionen mißverstanden wird, beeilt sich die Redaktion, diesbezügliche Befürchtungen mit dem Verweis auf eine „eher unwahrscheinliche Belehrung zum Schlechteren“ zu relativieren. Darin schließt ein apodiktisch vorgetragener Imperativ „muss davon ausgegangen werden, dass …“ an. Bei dem folgenden Nebensatz handelt es sich dann um eine irgendwie schon atemberaubende Apotheose des „menschenfreundlichen Menschenfressers“. Bei der Formulierung dieses Paradoxons mag der mexikanische Autor Octavio Paz auch an den Doctor Caligari gedacht haben, trotz aller Skepsis in Sachen Revolution meint er jedoch den Staat, und zwar jeden Staat.
Wenngleich es zu den bitteren Erfahrungen im Leben eines Gesellschaftskritikers zählt, einstmals kritische Mitmenschen, Mitstreiter, auf das intellektuelle Niveau von Staatsbürgern herabgewürdigt zu sehen, und es sich dabei auch noch um die Folge einer Selbstherabwürdigung handelt, sollte im Rahmen einer fundamentalen Kritik wie dieser auf Contenance und Fairness geachtet werden. So wäre es im Sinne einer stringent logischen Satzanalyse natürlich durchaus fragwürdig, wenn nicht gar unfair, würde man nun darauf hinweisen, dass die Subjekte Staat und Politik sich bis dahin nicht gerade durch den Willen Leben zu retten übermäßig auszeichneten, denn dieser Hinweis kann ja stets nur die Vergangenheit betreffen. Als im Rahmen ihrer selbst geschaffenen Voraussetzungen freie Subjekte, könnten sie ja, ohne große Rechtfertigung, schon jetzt mit ihrem Rettungswerk beginnen. Aber tun sie das auch? Würde man diese Frage nicht nur als eine rein rhetorische stellen, erhielte man wohl vielerlei Antworten, die mit vielen empirischen Details über staatliches Handeln, und wohl mehr noch, über staatliches Nichthandeln gespickt wären. Ein endlos erscheinender Klagekatalog verlangte dann nach Aufmerksamkeit und Erledigung. Als wisse sie das auch, wirft die Redaktion Bahamas nun ein neues Blatt ins Spiel, eine Variante des legendären Wir können auch anders:
„Auf einem ganz anderen Blatt steht die Frage, wie kompetent der Kampf gegen den Virus geführt wird, welchen ideologischen Mehrwert die Politik für die Zeit nach der Epidemie daraus ziehen kann und will und in welchem Zusammenhang ein heruntergewirtschaftetes Gesundheitssystem mit der möglicherweise unzureichenden Behandlung der Infizierten steht. Das wird die Redaktion Bahamas noch beschäftigen.“ Gut gebrüllt, Redaktion Bahamas. Die Ansage kann immerhin als Bewerbung für den Posten eines Kammerjägers der Nation aufgefasst werden, den die Redaktion aber nicht bekommen wird, weil andere Bewerber, linke wie rechte, in dieser Hinsicht einfach geschickter und anschmiegsamer agieren. Immer, wenn Linke – kleine Redaktionen, Splittergruppen bis zu großen Parteien – ihren Frieden mit der jeweils aktuellen Macht schlossen, versicherten sie, ganz genau hinsehen zu wollen, ob die Politik, der sie sich unterwarfen, ihre unterstellten, zumeist nationalen Aufgaben auch akkurat erfüllte. Falls nicht, und ein entsprechendes Misstrauen verdichtete sich oft schnell zu handfestem Verdacht mit anschließender Evidenz, wollte man unnachsichtig die Frage nach der wahren Interessenvertretung der nun klassenübergreifenden Gemeinschaft stellen. Grrh …
Geschicklichkeit und Anschmiegsamkeit an tagespolitische Bedürfnisse der Staatsmacht haben beispielsweise der AfD in den letzten Wochen einige Vorteile verschafft. Der ehemalige Paria des deutschen Parteiensystems hatte noch in der ersten Woche des Ausnahmezustandes das volksgemeinschaftliche Bashing der demokratischen Medien-Büttel duldvoll hinzunehmen. Das sollte sich später ändern. Die AfD hatte sich nämlich mit einem konstruktiven Verschlag ihrer Berliner und Brandenburger Dependencen den Widersachern präsentiert: Maskenpflicht für alle. Zunächst wurde die Idee höchst distanziert aufgenommen, hauptsächlich Abgeordnete der Linkspartei in Landesparlamenten mochten sich dafür erwärmen. Dann aber trat die offiziell privatisierende, gleichwohl höchst umtriebige Frau Wagenknecht in die massenmediale Arena und bewarb die Maskenpflicht als „vernünftige Idee“, wenngleich etwas plagiatorisch, denn die geistige Urheberin nannte sie nicht. Schließlich adaptierte der bayerische Regionalmatador Söder die Bürgerpflicht zum Maskentragen als persönliche Innovation, setzte sie in Bayern durch und stellte am 21. April diesbezüglich ein selbstgedichtetes National-Credo für Corona-Deutschland vor: „Mit Corona zu leben, heißt vorsichtig zu leben.“ Inzwischen ist die Maskenpflicht in nahezu allen Bundesländern durchgesetzt und wird wohl am 27. April flächendeckend für die gesamte BRD gelten. Varianten gibt es nur in Bezug auf die Orte des verpflichtenden Maskentragens: Während offenbar in Bayern die staatsbürgerliche Vermummung allüberall gelten soll, ist das „weltoffene“ Berlin etwas liberaler, hier haben sich nur Passagiere öffentlicher Verkehrsmittel zu vermummen, während etwa in Brandenburg neben dem öffentlichen Nahverkehr auch Ladengeschäfte als Vermummungszonen gelten. In Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam, heißt es, soll an einer Verbindungsstraße zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Ministerium des Inneren vor einigen Wochen eine bislang dem Verfall anheim gegebene Gründerzeitvilla wieder in Betrieb genommen worden sein, als „eine Art Sanatorium“, wie Anwohner berichten. Als Betreiber sei „ein gewisser Dr. Caligari“, den „hier aber niemand kennt“, in die städtischen Register eingetragen.
Trapped In
Ja, Corona-Deutschland erfüllt de facto nicht nur alle Kriterien einer „Abschottung“, wie sie noch vor wenigen Jahren von Flüchtlingsdeutschland staatlichen Skeptikern einer islamischen Masseneinwanderung um die Ohren gehauen wurden, es geht sogar noch über diese hinaus. Vorbei die Zeiten, als deutsche „Seenotretter“ das Mittelmeer unsicher machten wie 600 Jahre zuvor die Malteser Ritter, mit der Ausnahme, dass es jene nicht nach Gold und menschlichem „Frischfleisch“ gelüstete, sondern nach „offenen Grenzen“ für islamische „Geflüchtete“. „Abschottung“ wandelte sich im deutschen Verständnis innerhalb weniger Tage und Wochen vom Fluch zum Segen. Von „Abschottung“ sind derzeit aber nicht nur die Staatsgrenzen betroffen, auch regionale Verwaltungsgrenzen im Innern des Landes, vor allem in seinem Osten, werden zu Schutzwällen umfunktioniert, die nicht nur Ausländer und Wessis abweisen, sondern auch einheimischen Ossis die Zumutung fremdstämmiger Ossis ersparen sollen.
Ach, wie gut hatten es doch die Bewohner der einstigen DDR. Diese gerieten bekanntlich manchmal in ernsthafte Schwierigkeiten, wenn sie ohne Einwilligung der Obrigkeit das Land verlassen wollten und die Obrigkeit verhielt sich häufig recht knausrig, was derlei Einwilligung betraf. Einwohner Corona-Deutschlands hingegen sind von ihrer Obrigkeit angehalten, nicht einmal mehr ihre Wohnung zu verlassen, es sei denn, sie können den Ordnungskräften einen „triftigen Grund“ fürs Ausgehen nachweisen. Nun soll dem realen Grauen dieser Zustände aber nicht noch auf wohlfeile Art zusätzlicher Horror beigemischt werden: Derzeit kann zumindest in Berlin festgestellt werden, dass die Ordnungskräfte recht mäßig bis müßig auf solcherlei Eigenwilligkeit reagieren. Anders stellt sich der Eindruck dar, den viele gewöhnliche Menschen zu hinterlassen bemüht sind. Diese tragen oft ihre Corona-Masken wie Parteiabzeichen oder Siegermedaillien unter ihren abstandheischenden Augen, stülpen sich beim Einkauf meist blaue OP-Handschuhe über die auch bei Jüngeren arthritisch anmutenden Finger- und Handgelenke, schwenken dann einen Einkaufswagen als mobile Barrikade um sich herum und vor sich her, und die Frage drängt sich auf: Ist man hier noch im Supermarkt oder schon in einer Klinik des Doctor Caligari?
Die relative Zurückhaltung der Ordnungskräfte wird aber wohl auch in Berlin nicht so bleiben. Die „Gewerkschaft der Polizei“ beschwert sich über eine mangelnde Klarheit der vom Senat gelieferten Erlasse und ihrer Ausführungsvorschriften. Beim derzeitigen Stand könne davon ausgegangen werden, dass eine Vielzahl polizeilicher Maßnahmen hinterher juristisch durchaus erfolgreich angefochten werde, dies sei den Polizisten nicht zuzumuten. Handlungsbedarf der Ordnungskräfte ergibt sich den Berliner Qualitätsmedien zufolge aus einem erschreckenden Anwachsen von provokanten Manifestationen gleichsam unbelehrbarer wie unverantwortlicher Gegner der heilsamen Corona-Maßnahmen. Dies Leute sind laut einer Schlagzeile des Tagesspiegel: „Dumm, gefährlich, tödlich“. Eine Attributierung, die nur wenig Spielraum für das Umgehen mit solchen Leuten bereit hält. Man braucht nicht viel nachzudenken und auch nicht beim Doctor Caligari nachfragen, um zu wissen, welchem Schicksal diese Leute eigentlich überantwortet gehörten. Hinzu kommt, dass nicht wenige im Verdacht stehen, auf „verschwörungstheoretische“ Weise mit dem transatlantischen Weltfeind zumindest ideell zu kollaborieren. Unter dem Zwischentitel „Trump der Retter“ klärt der Tagesspiegel auf: „Verschwörungstheoretiker, die von einem Kampf guter Kräfte gegen böse Eliten ausgehen, sehen US-Präsident Trump als Retter, der sich den Eliten entgegenstellt. So ergebe auch sein viel kritisiertes Krisenmanagement Sinn: Zum Beispiel habe Trump nur deswegen weniger Corona-Tests angeordnet als andere Staatschefs, weil Menschen erst durch die Tests selbst krank gemacht würden.“ (Tagesspiegel 09. 04.) Sachliche Nachfragen, wie etwa: Welche anderen Staatschefs haben denn wie viele Corona-Tests angeordnet? Wie viele sind wo durchgeführt worden und was haben sie ergeben? gehen hier von vornherein in die Irre. Auf Sachliches kommt es hier überhaupt nicht an, nur auf die Denunziation von Corona-Kritikern als Trump, dem Inbegriff alles Schlechten für rechtschaffene Deutsche, anhängende „Verschwörungstheoretiker“.
Wer nun als hartnäckiger Anhänger der Aufklärung meinte, jenseits dieser Hetze in deutschen Corona-Kritikern Verbündete zu finden, ginge dummerweise auch in die Irre. Leider zeugt der Tagesspiegel nur von seinem eigenen antiamerikanischen Wahn. Nach derzeit dem Verfasser vorliegenden Informationen ist die Mehrzahl dieser Leute nicht weniger verrückt als der majoritäre Rest. Man könnte meinen, dass es kaum eine Protestbewegung der Vergangenheit argumentativ so leicht gehabt habe wie die derzeit entstehende. Schließlich brauchte sie nur wenige langweilige Dinge zu tun, wie Statistiken sichten, Erkrankungs- und Sterbetabellen nationaler Gesundheitsbehörden vergleichen und sich einen Überblick über die Verheerungen thatcheristischer, sozialdemokratischer und schließlich unter deutschem Diktat durchgeführter europäischer Sozialpolitik (genau in dieser Reihenfolge) verschaffen und schon könnte sie den scheinbaren Sachgehalt der Corona-Hysterie der Staaten als Luftnummer zerplatzen lassen. Sie brauchte nur die videographischen Porträts des obersten Trenchcoat-Virologen, des Chefs einer heruntergekommenen Klitsche mit dem Kürzel WHO und der deutschen Botox-Queen ein paar Augenblicke länger als üblich zu betrachten, und schon wüssten die meisten von ihnen einiges über die Abgründe von Enttäuschung, Verbitterung, erlittener Demütigung und verratenen Versprechen und damit sehr viel über das menschliche Elend, das diese unerlöste Welt auch für materiell Privilegierte bereit hält. Nach Sinn, kalkülhaft bestimmten Zwecken und Zielen suchten sie dann wohl nicht mehr.
Aber die Leute wollen unbedingt Sinn. Wenn ihre Obrigkeit einen zeitlich weitgehend unbestimmten „Shutdown“ von Wirtschaft, Verwaltung und Logistik verfügt und damit die Grundlagen der Nationalökonomie im Wortsinn „in die Tonne tritt“, muss das einen Sinn haben. Wenn dieselbe Obrigkeit ihnen ein persönliches „Locked In“ auf unbestimmte Zeit verordnet und damit fast jede Möglichkeit auch der informellen ökonomischen Reproduktion unterbindet, muss das einen Sinn haben. Und wenn wieder dieselbe Obrigkeit sie zu einem ebenfalls unbestimmten „Trapped In“ in ihren Wohnzellen verurteilt und ihnen damit nur die Möglichkeiten offen lässt, sich gegenseitig an die Kehlen zu gehen oder Halluzinationen über ein unbeschwertes Singledasein in einem imaginären „Danach“ zu produzieren, soll auch dieses einen Sinn haben. Man wünschte fast, all dies hätte einen Sinn, dann kämen die Leute vielleicht nicht immer auf dieselben dummen Antworten: die Pharmakonzerne, die Geheimdienste und immer wieder die Amerikaner. Auf die Frage nach den Motiven kommen dann Antworten wie: um die Profite zu erhöhen, um die allgemeine Verwirrung zu verstärken und selbstverständlich auch: um die Weltherrschaft zu erringen. Demnach machen also alle identifizierten Corona-Akteure das weiter, womit sie nach Ansicht ihrer Kritiker auch schon in Vor-Corona-Zeiten beschäftigt waren. Nach dem Doctor Caligari fragt man hier am besten erst gar nicht.
„Farewell to America?“
Obgleich die antisemitischen Grundmuster bei allen der erwähnten Akteure – Regierung, Massenmedien und Corona-Kritikern – offen auf der Hand liegen, ist zumindest dem Verfasser bisher noch keine direkte Invektive gegen Juden aufgefallen. Zwar sind die Massenmedien voll von verbalen Antisemitismusvorwürfen gegen eigentlich alle, die dem Corona-Kurs der Regierung nicht zustimmen. Eine interessante recuperacion, Antisemitismus als Vorwurf von zumindest potenziellen Antisemiten. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich der Antisemitismusbegriff dieser Leute als relict in reverse aus der Zeit Flüchtlingsdeutschlands: Wurde seinerzeit Antisemitismus von den deutschen Qualitätsmedien vor allem als Ablehnung des Islams („Islamophobie“ = Antisemitismus) und als Kritik des deutsch-europäischen imperialen Konzepts globaler Grenzenlosigkeit definiert, ist es heutzutage nahezu umgekehrt. Zwar will man nach wie vor auf den Islam nicht viel Schlechtes kommen lassen, und manchen könnte die Vorstellung einer islamisch-deutschen „Corona-Polizei“, rekrutiert aus „Geflüchteten“, attraktiv vorkommen, doch wer immer noch die alte volksgemeinschaftliche Parole nach „offenen Grenzen“ anstimmte, würde wohl schnell als „Verschwörungstheoretiker“ isoliert.
Die deutsche Regierung und ihre Qualitätsmedien haben ihren Corona-Wahn von Anfang an, gemeinsam mit ihren europäischen und internationalen Verbündeten, im Rahmen antisemitischer Deutungen betrieben. Es war ein „unsichtbarer Feind“, ein „nicht greifbarer Gegner“, dem man an der „Front gegen Corona“ gegenüber steht. „Wir sind im Krieg“ zitiert die Berliner Zeitung zustimmend per Schlagzeile den Franzosen Macron am 18. März, und der Tagesspiegel verkündet am 20. März fast den totalen Krieg: „Die Front ist überall“. Anstatt der Juden waren diesmal freilich in der deutschen Rhetorik zunächst die Amerikaner an der Reihe. Das verwundert nicht, zumal die USA seit der Wahl Donald Trumps der deutschen Volksgemeinschaft als quasi Hauptfeind gelten. Das verwundert vor allem Bahamas-Leser nicht, denen von Bahamas-Autoren seit fast zwanzig Jahren mehr oder weniger schlüssig, mehr oder weniger gelungen doch die fundamentale Erkenntnis zu vermitteln versucht wurde, dass auf dem Grund des deutschen und des europäischen sowie des drittweltlichen Antiamerikanismus der Antisemitismus nur scheinbar ruht, vielmehr darauf wartet, sein bekanntes Determinationspotenzial zu entfalten.
Heute, das kann sich freilich schon morgen wieder in Hinsicht auf etwa Israel ändern, sind die USA der Jude des deutschen Corona-Wahns. Heute, da der amerikanische Präsident einen möglicherweise verzweifelten Kampf der Vernunft gegen eine Kamarilla aus Europa- und Deutschlandfreunden und ultramerkantilen Globalisierern kämpft, wäre eine Unterstützung seitens deutschlandskeptischer Unzufriedener durchaus angesagt. Heute, das kann sich hoffentlich auch ändern, sind die Vereinigten Staaten das einzige westliche (was ist das eigentlich noch) Land, in dem sich ein Massenwiderstand gegen die negative Aufhebung bürgerlicher Staatlichkeit zu erheben scheint. Und das ist beispielhaft. Nun ist der Präsident Trump gewiss kein entristischer Trotzkist oder so etwas, einer, der sich darüber freuen mag, wenn die Massen zu seiner Unterstützung auf die Straße eilen. Als schlichter Bauunternehmer wird er die Aktivität dieser Leuten gewiss mit ziemlichen Misstrauen betrachten und sich im weiteren auf das beschränken, was ihm vertraut ist: Personalpolitik mit allen verhängnisvollen Implikationen. Aber was soll’s: Wir hätten all den Corona-Ärger nicht, wenn die USA noch Supermacht in Europa wären und das täten, was ihr Kritiker am meisten vorwerfen, nämlich Weltpolizist zu spielen.
Und schlußendlich noch einmal etwas zur Bahamas-Redaktion, diesmal in direkter Rede, Singular und Plural: Keine Ahnung, wo oder/und wie ihr die letzten vier, fünf Wochen verbracht habt. In Erdlöchern, in Luxusappartments oder –villen, vielleicht auch in der ostdeutschen Datsche, vielleicht auch nur im Dauerstream des Net. Sei’s drum, ich bin bestimmt der Letzte, der anderen Realitätsflucht oder sowas vorwürfe, phantasiere ich doch in letzter Zeit ständig von einer Fundraising-Kampagne, deren Ergebnis es dem Horst Pankow ermöglichte, nach Brasilien auszuwandern. Allerdings euer Editorial, Lichtjahre entfernt von der Lebensrealität Corona-Deutschlands, ist wie ein Schlag in die Magengrube oder eine ähnlich hinterhältige Attacke, mit der vorher nicht zu rechnen war. Oder etwa doch? Corona-Deutschland zu verteidigen wie ein unterwürfiges Mainstream-Medium, bedeutet, das neu entstandene und noch weiter entstehende Elend zu rechtfertigen. Und das alles noch aufgebrezelt im spätstalinistischen Möchtegern-Stil des „Unbestreitbar ist …“ Bei aller Contenance und bei allem Respekt vor dem Doctor Caligari: Wir brauchen keine Anstaltsgeistlichen, wollen keine Gefängnispfarrer und verzichten gern auf Knastphilosophen.
Horst Pankow
24.4.2020