Wessen Krise?
Ein Gespräch zwischen einem Nachdenklichen und einem Besorgten über das Corona-Virus und die Gesundheitskrise – auch als Selbstgespräch ein und derselben Person vorstellbar
A: Alle reden übers Virus. Wir nicht.
B: Wir nicht? Doch, auch wir. Bekommst Du denn nicht mit, was los ist?
A: Aber Viren sind immer ein Teil unseres Lebens. Manchmal schützen wir uns vor ihnen. Manchmal erledigt das unser Immunsystem. Und manchmal brauchen wir ärztliche Hilfe.
B: Das Corona-Virus ist eine große Gefahr. Für uns alle und besonders für die Alten und Kranken. Und vielleicht auch die Raucher.
A: Unwahrscheinlich. Auch sind Corona-Viren uns nicht unbekannt. Allein vier dieser Sorte verursachen jährlich zahlreiche grippale Infekte. Und dann gibt es die anderen drei bekannten: SARS, MERS und SARS2. Nun geht es um letzteres. Und von dem wissen wir keineswegs, wie gefährlich es ist. Es geht einerseits um Mathematik. Es ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Wenn wir nun ein bestimmtes Ergebnis sehen, könnten wir fälschlicherweise annehmen, das wäre allein auf einen dieser Faktoren zurückzuführen. Doch stimmt die ganze Rechnung schon nicht, sobald andere Faktoren hinzukommen. Wenn wir also von A wie Asbest über L wie Luftverschmutzung bis T wie Tabakrauch andere Faktoren jeweils beziffern könnten, schaut V wie Virus vielleicht schon weniger allmächtig und furchtbar aus. Alle Rechenmodelle haben den Nachteil, dass sie wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn ein Faktor nicht stimmt. B: Aber es gibt Zahlen und Fakten! Was ist mit dem exponentiellen Wachstum der Infizierten? Was mit den steigenden Todeszahlen?
A: Das ist anderseits das Gebiet der Statistik. Selbst wenn wir mathematisch alle Unbekannten wüssten, dann hätten wir die Ergebnisse noch immer ins Verhältnis zu setzen. Um zu wissen, was hohe Todeszahlen sind, muss man den statistischen Schnitt kennen und vergleichen. Um Infiziertenzahlen zu kennen, muss man verdachtsunabhängig testen. Aus der bisherigen Testpraxis lässt sich keine Ausbreitungsgeschwindigkeit ableiten. Denn bisher gibt es nur einen Anstieg der positiv Getesteten. Weil nur Menschen mit typischen Symptomen getestet werden. Der Anstieg der positiven Testergebnisse spiegelt also den Anstieg der Tests bei Verdachtsfällen wider. Das ist tautologisch und sagt nichts über die Verbreitung des Virus aus. Vor allem aber nichts über dessen Gefährlichkeit. Wir wissen wenig über das Virus, und das steht im offensichtlichen Missverhältnis zu der Reaktion. Zahlen sagen nichts, wenn man nicht die anderen Faktoren und die statistischen Verzerrungen beachtet.
B: Doch müssen wir bei aller Statistik nicht den Einzelfall im Auge behalten. Es haben doch immer bis zu zehn Prozent aller Menschen schwere Symptome. Die zu retten, ist unsere Pflicht.
A: Ein ähnlicher statistischer Fehlschluss. Man müsste die Gesamtmenge kennen und das tut man nicht. So stochert man im Nebel. Es sind wohl wenn überhaupt nur zehn Prozent derer mit Symptomen, die dann mit einem schweren Verlauf zu rechnen haben. Wobei ein solcher Verlauf nicht von dem Virus, sondern von anderen Faktoren wie Alter und Krankheit abhängt. Man stirbt doch auch dieser Tage nicht nur am Virus. Das Virus ist keine tödliche Krankheit wie Ebola, bei es eine Überlebenschance von zehn Prozent gibt. Menschen sterben mit, nicht an Corona. Wie gesagt: Wir leben immer mit Viren, weniger und mehr gefährlichen. Corona ist nicht tödlich und vermutlich nicht einmal besonders gefährlich, aber es verbreitet sich schnell. Bei Influenza-Viren geschieht das auch. Das alles wäre unter besseren Umständen kaum der Rede wert. Nun aber sehen alle in ihren Mitmenschen nur noch die virale Bedrohung. Das dürfte zuvor nicht unähnlich gewesen sein. Im Kapitalismus ist der Mensch dem Menschen kein Helfer. Zur ethischen Pflicht: Auch die geringe Zahl soll geschützt sein. Doch stehen die jetzigen Maßnahmen dem eher im Wege. Denn die sind so umfassend, dass darin die Wirkung des Virus auf den Menschen wie in einer Black Box bleibt – und gezielter Schutz gerade nicht garantiert wird.
B: Aber ist social distancing nicht trotzdem die beste Möglichkeit, um uns und andere zu schützen. Wir wissen nicht, wie das Virus sich verhält, also bleiben aus Solidarität zu Hause. Das ist der Weg des geringsten Risikos, der trotzdem maximalen Schutz erlaubt.
A: Zunächst schützen wir damit vor allem ein marodes Gesundheitssystem vor der Überlastung. Das wurde so kaputtgespart, dass es schon durch eine an sich wenig gefährliche, aber flächendeckende Infektion zusammenzubrechen droht. Personalmangel, Überlastung und mangelhafte Ausstattung sind seit Jahren ein Thema. Alles wenig überraschend. Zu Hause bleiben können nebenher auch nicht alle, das muss man sich leisten können. Schutz für alle ist es also schon einmal nicht. Und Solidarität heißt doch nicht, dass alle nun so tun, als wären sie im höchsten Maße gefährdet, was sie nicht sind. Man müsste gezielt agieren, nicht flächendeckend. Im Moment scheint es vor allem eine rasante Verbreitung von Panik und Angst zu geben. Die Schockwirkung ist durchaus erwünscht, wie aus dem Innenministerium zu vernehmen ist, der worst case soll das öffentliche Bewusstsein paralysieren.
B: Aber es ist auch tatsächlich eine Ausnahmesituation. Wir müssen in einer solchen Situation alle Verantwortung übernehmen und können nicht nach dem üblichen Muster verfahren. Wenn wir aufeinander acht geben und uns voneinander fernhalten, werden wir diese Krise überstehen.
A: Warum sollte ein Fall, von dem seit Jahren bekannt ist, dass er eintreten kann, eine Ausnahmesituation sein? Das ist nur möglich, wenn er entweder ignoriert oder gewollt wurde. Und warum sollten wir nun alle dafür verantwortlich sein? Das Gesundheitssystem wurde willentlich kaputtgespart und privatisiert. Sein Zweck wurde verändert: Es sollte nicht länger zur öffentlichen Versorgung gehören, sondern als Mittel zum Profit dienen. Nun sehen wir in aller Deutlichkeit, was wir schon wussten. Aber noch Ende Februar wünschte sich der Gesundheitsminister mehr Mut in der Debatte über Krankenhausschließungen.
B: Dem Gesundheitssystem wird nun geholfen. Es gibt mehr Geld, auch mehr Personal. Es werden Notkrankenhäuser eingerichtet. Und selbst die Bundeswehr unterstützt. Das könnte sogar zu langfristigen Verbesserungen führen. Pflegeberufe bekommen mehr Anerkennung.
A: Das ist viel Aufwand, um alles zu lassen, wie es ist. Weder werden die unsinnigen Fallpauschalen in Frage gestellt noch der Profit als Zweck. Die Gesundheits- und Pharmaindustrie freuen sich. Sie werden für ihr asoziales Tun noch belohnt. Unverzüglich enteignen müsste man die. Und die Verantwortlichen durch die Straßen jagen. Nur mit Sicherheitsabstand und Mundschutz natürlich. An langfristige Verbesserungen ist nicht zu glauben. Und Anerkennung wäre nur etwas wert, wenn sie mehr als symbolischer Applaus ist. Oder nette Worte. Das würde allerdings eine Umwälzung der Gesellschaft erfordern. Wer das von den Regierenden erwartet, täuscht sich über deren Absichten.
B: Im Ernst? Reagiert die Regierung in einer solchen Krise nicht sehr besonnen? Schaut man hingegen in andere Länder, sieht man viel üblere Verlaufsformen, medizinisch und politisch.
A: Du glaubst noch immer, wir würden durch ein Virus bedroht werden. Die größere Bedrohung jedoch sind all jene, die das öffentliche Gesundheitssystem zerstört haben und noch weiter zerstören wollen. Unser Leben ist immer durch Krankheit bedroht. Aber deswegen können wir nicht aufhören zu leben, sondern brauchen medizinische Behandlungen – für alle und kostenlos. Unsere Bedrohung ist, dass der gesellschaftliche Reichtum in den Händen derer ist, die ihn nicht nur uns vorenthalten wollen, sondern dies auch mit Gewalt – des Staates zumeist – verteidigen. Die Ausgangssperren sind eine panische Reaktion der Regierung, weil die Situation unregierbare Züge annimmt. Wer die Dummheit der Regierung noch als immerhin drastische Maßnahmen lobt, legitimiert durch die eigene Angst hindurch, die von denen befördert wird, das Maßlose aller Maßnahmen.
B: Die Kontaktverbote, Ausgangssperren und Zwangsschließungen sind nur für einige Zeit, bis Besserung eintritt. Sie sind nicht maßlos, sondern werden nicht einmal konsequent durchgesetzt – beispielsweise in den Fabriken.
A: Bis was besser wird? Die Regierung hat nicht gesagt, was sie in der Zeit vorhat. Sie sagt nur immer, dass die Kurve der Durchseuchung verlangsamt werden soll, sich das Virus also an die knappen Kapazitäten der Krankenhäuser anpasst. Doch die Rhetorik verrät alles: Jeder ist nun selbst verantwortlich. Man muss sich an Regeln halten. Es braucht Disziplin und Zusammenhalt. Der klassische autoritäre Neoliberalismus. Man soll sich schuldig fühlen, wenn man krank wird, und es bloß nicht wagen, das Recht auf Gesundheit von der Regierung einzufordern. Mit allerlei ideologischen Floskeln wird Verzicht verordnet. Und nebenher, das stimmt, darf auch in der deutschen Rüstungsindustrie das Fließband keine Minute still stehen, Kontaktverbot hin oder her. Aber spricht das nun fürs Kontaktverbot?
B: Es geht darum, die Kurve der Neuinfektionen zu verlangsamen, sonst droht der Kollaps. In einer solchen Situation verbietet es sich, auch nur eine Person mehr als nötig einem Risiko auszusetzen.
A: Das ist eine Ansicht. Die Virologen sind sich uneins. Einer wurde zum Berater der Regierung gemacht und der ist zufällig politisch der restriktivste, der zudem nur blind auf die molekularbiologische Ebene blickt, aber keine menschliche Gesellschaft kennt. Auch verwechselt er Wissenschaftlerehre mit Regierungstreue, wofür er verehrt wird. Andere Virologen sind nicht nur politisch liberaler, sondern auch kritischer. Und interessieren sich mehr für die Auswirkungen des Virus beim Menschen. So werden aber gerade politische Entscheidungen mit einem medizinischen Sachzwang begründet, der bei genauerem Hinsehen nur eine bornierte Einzelmeinung eines Experten auf einem sehr beschränkten molekularbiologischen Gebiet ist. Die dann aber von der Polizei im ganzen Land durchgesetzt wird. Das ist doch fragwürdig. Insbesondere wenn die Maßnahmen zur vermeintlichen Bekämpfung des Virus schlimmer zu versprechen werden als es selbst. Was sind die Auswirkungen von Isolation – insbesondere für Alte und Kranke? Einsamkeit gilt bereits als gefährliche Volkskrankheit, in Großbritannien gibt es schon ein Einsamkeitsministerium. Das verschiebt zwar ein soziales Problem in den medizinischen Bereich, zeigt aber trotzdem, dass das ernste Folgen hat.
B: Aber sonst werden Tausende Menschen sterben – wie in Bergamo oder in Spanien. Das muss man verhindern, wenn es möglich ist und selbst wenn das Kollateralschäden hat.
A: Warum es in Bergamo so schlimm ist, muss man noch ergründen. Es wird auch damit zu tun haben, wie sehr das dortige Gesundheitssystem zerstört wurde – unter anderem im Zuge der deutsch-europäischen Austeritätspolitik nach der Krise von 2007. Und mit zahlreichen anderen Faktoren. Die Bilder sind drastisch, aber mit drastischen Bildern wird auch immer Politik gemacht – wie mit dekorativen, aber ungenutzten Leichenwägen in amerikanischen Großstädten, um die Leute vor ihrem Präsidenten zu erschrecken, als ob die nicht wüssten, was das für einer ist. Zu Europa: Die deutsche Regierung hat der italienischen und spanischen sehr schnell und deutlich mitgeteilt, dass es keine Vergemeinschaftung der Schulden auf europäischer Ebene geben wird. Dass man aber zugleich die deutsche Wirtschaft mit enormen Krediten retten wird. Für Italien und Spanien ist das unmöglich, die würden bankrott gehen. Was nun passiert, haben wir schon in der sogenannten Flüchtlingskrise gesehen: Wenn man politisch nichts mehr machen kann, probiert man es mit drastischen und mitleidserregenden Bildern. Das ist eine politisch ohnmächtige Reaktion auf die Arroganz und Ungleichheit in Europa. Gleichzeitig dient es dazu, den Horrorjargon von Entscheidungen über Leben und Tod zu etablieren. Dabei ist es die Gesellschaft selbst, die solche Urteile fällt. Arme sterben im Durchschnitt über zehn Jahre vor Reichen.
B: Das ist doch zynisch. Willst Du leugnen, dass in Italien Menschen sterben?
A: Weder kann noch will ich leugnen, dass Menschen sterben. Aber es kommt darauf an, warum das so ist. Und zudem, wofür diese Toten benutzt werden. Zynisch ist diese Welt, nicht wer es ausspricht. Es ist doch offensichtlich, dass es in dieser Gesundheitskrise um Deutungshoheit und politische Macht geht. Aber beides soll unsichtbar sein, Ideologie eben.
B: Das klingt doch sehr nach den Verschwörungstheoretikern im Netz, die das Virus leugnen.
A: Ein Virus zu leugnen, ist Quatsch. Aber wie gefährlich es ist, streiten selbst die Virologen. Und über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu befinden, dürfte in einer Demokratie Aufgabe jedes Bürgers sein. Doch die Regierung hat den Weltuntergang ausgerufen und dann ist freilich alles gerechtfertigt. Die Linken waren einfach auszutricksen: Man musste nur „Solidarität!“ rufen, schon saßen sie alle friedlich in ihren WG-Küchen. Da wunderte sich selbst die Regierung, dass es so einfach war, die Grundrechte auszuhebeln. Nur mit einer Hygienevorschrift! Das ist Faschismus auf Probe, eine kleine Übung für den Ernstfall. Da kommt so ein Virus gerade recht. Alle Parteien stehen geschlossen hinter der Regierung. Es bekommen auch alle etwas, die Grünen mehr Radwege und die Rechten geschlossene Grenzen. Und das Manöver zeigte auch, auf die Medien ist Verlass: sofortige Selbstgleichschaltung. Freiwillig beteiligen sie sich an der Jagd nach Regelverstößen und prangern sogenanntes Fehlverhalten an. Kritische Berichterstattung wird nicht mehr betrieben. Dafür wurde der große Zweikampf zwischen viraler Bedrohung und tapferer Regierung inszeniert. Und jeder Mittelklassen-Klaus veröffentlicht nun sein Corona- Tagebuch aus der selbstauferlegten Quatschquarantäne.
B: Aber es kursieren auch zahlreiche fake news. Rechte Verschwörungstheoretiker verbreiten Gerüchte. Die Medien haben immerhin mit Zahlen und Fakten informiert und keine Panik geschürt.
A: Es wurde Desinformation im großen Stil gerade mit Zahlen und Fakten betrieben. Als ob die etwas erklärt hätten. Das Problem war, dass die Deutung schon immer vorgegeben war: Die Maßnahmen der Regierung sind alternativlos. Das ändert sich nun erst langsam. Auch abweichende Meinungen wurden als fake news diffamiert. Besonders interessant wurde es dann, wenn Positionen der Abweichler ein paar Tage später stillschweigend auch in den sogenannten Qualitätsmedien als offizielle Position auftauchten. In unaufgeklärten Herrschaftssystemen läuft es immer so: Die Opposition wird verfolgt, aber wenn sie recht hat, übernimmt die Regierung deren Punkte als eigene. Und Panik wurde sehr wohl geschürt: Indem vor ihr gewarnt wurde. Ein Wiener Seelendoktor vor hundert Jahren wusste schon, wie man mit dem Gegenteil das Gewünschte ausdrückt.
B: Aber müssen wir in einer solchen Situation nicht ein wenig Vertrauen aufbringen in die Wirksamkeit der Maßnahmen? Das Notwendige ist immerhin teils vernünftig …
A: Eben darauf spekuliert die Regierung. Sie schafft Tatsachen, die das vernünftige Denken paralysieren. Dass es mit dem Vertrauen nicht weit her ist, deutet schon die Rede vom „Charaktertest“ an, die zur Begründung von Ausgangssperren verwendet wurde. Die Bevölkerung ist nun verdächtig. Es zeigt aber auch, wie groß die Lust an der Krise ist. Es ist der Traum aller autoritären Charaktere, die nun mit Verfügungen und Verordnungen, aber ohne Parlament und Opposition regieren. Ganz Deutschland träumt und genießt. Dass eine Krise – ökonomisch und politisch – kommt, ahnten alle bereits. Der soziale Konflikt wurde mehrfach aufgeschoben, er wird zugleich herbeigesehnt und gefürchtet. Und dann kommt der Virus-Ausnahmezustand, der das Verdrängte in entstellter Form wiederkehren lässt. Für manche ist das ein Krieg gegen den inneren Feind, für manche gegen einen äußeren Feind. Oder ein Kampf gegen den Mangel an Disziplin und Zusammenhalt. Alle Mächtigen nutzen das Virus für ihre Agenda. Wie gut das funktioniert, zeigt unter anderem die Tatsache, dass bisher in Deutschland nur Unternehmen mit Milliardengewinnen in den Mietstreik getreten sind, aber nicht die Tausenden Mieter, die sich von Monat zu Monat hangeln – durch das Virus zur Schicksalsgemeinschaft.
B: Im Moment geht es doch nicht um Politik, sondern um die Gesundheit der Bevölkerung. Die Regierungen müssen diese schützen, das ist ihre Aufgabe. Und es ist auch unser Interesse, am Leben zu bleiben. Ein sehr entschiedenes sogar.
A: Die bürgerlichen Regierungen scheren sich schon lange nicht mehr um den Teil der Bevölkerung, der fürs Kapital überflüssig ist. Wie einfach wären Tausende Tuberkulose-Tote zu verhindern. Allein es lohnt nicht. Assistierter Selbstmord ist eine flächendeckende Praxis mit Freifahrtschein für die Pharmaindustrie, das kann man mit Opioiden in den USA sehen. Der Konflikt ist politisch: Er verläuft zwischen den Reproduktionsbedingungen derer, die Kapital haben, und denen, die es nicht haben. Die einen wollen Krankenhäuser für wenige zahlende Patienten und die anderen für alle. Es geht letztlich auch um politische Macht. Die Frage lautet: Wessen Krise? Wer – wen?
B: Es gibt nun Soforthilfen für Betroffene, auch Selbständige und kleine Unternehmen. Der deutsche Staat hat Rücklagen, um allen zu helfen. Selbst die Schuldenbremse wird gelockert, möglicherweise gibt es gar eine Ende der neoliberalen Doktrin.
A: Statt vorher die öffentliche Infrastruktur wie das Gesundheitswesen auszubauen, wird nun Stillhaltegeld verteilt. Freilich nur an die eigene Bevölkerung, eine Vergemeinschaftung der Schulden in der EU soll es nach deutschem Willen nicht geben. Tausende werden in Armut und Arbeitslosigkeit landen, trotz der Kredite und Hilfen. In anderen Ländern wird es sicher nicht still bleiben und vielleicht selbst in Deutschland nicht. Der Neoliberalismus ist noch lange nicht am Ende und er wird nicht durch ein Virus beseitigt werden, das müssen die Menschen schon selber tun. Die eine oder andere soziale Bewegung wurde nun auch unter Ansteckungsverdacht gestellt und gleich mit weggesperrt. Das wird aber auf Dauer nicht funktionieren. Das ahnen die Herrschenden auch, deswegen agieren sie präventiv gleich noch autoritärer. Ein Teil künftiger Kampfbedingungen ist, das zu verhindern.
B: Ich habe Angst. Ich möchte mich nicht infizieren und auf den Fluren einer Klinik oder in einer Turnhalle siechen oder krepieren, Freunde oder Angehörige verlieren.
A: Wir haben alle Angst. Vor dem Tod, aber auch vor dem sozialen Tod. Von dieser Angst lebt der Kapitalismus, weil er darauf setzt, dass sie größer ist als der Wunsch nach einem guten Leben. Das ist das Geheimnis der Knechtschaft. Einer von unseren Leuten dichtete einst, wir sollten schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod. Wir müssen wieder lernen, gemeinsam die Angst zu verlieren. Oder zumindest nicht mehr Angst als nötig zu haben – dann dürfte das Virus kaum unsere größte sein. Und vielleicht steigt aus den Trümmern des globalen Gesundheitssystems die sozialistische Poliklinik-Republik – und nicht der faschistische Prepper-Unstaat.
6.4.2020