1. Ungeheuerlichkeit der Statistik
Von dem Tag an, an dem man begann, die Stadt als Körper zu beschreiben, konnte nichts mehr den Umlauf der medizinischen Metaphern in der Politik und der politischen Metaphern in der Medizin stoppen.
Lange bevor sie es für den Manager wurde, war die Krise der entscheidende Augenblick für den Patienten und seinen Arzt – die Krisis schon bei Hippokrates. Und es war ein Arzt, Juglar, der im 19. Jahrhundert als erster die Wirtschaftskrisen untersuchte.
Der Begriff Regime bezieht sich – beim Philosophen Al-Farabi aus dem 10. Jahrhundert – sowohl auf die Politik als auch auf die Ernährungslehre.
Erst studierte man die körperliche Verfassung der Individuen, um es sich dann in den Kopf zu setzen, sie für die Länder zu schreiben.
Alkmaion von Kroton erblickte im Ungleichgewicht des kranken Organismus einen Fall von innerem Aufruhr.
Virchows Zelltheorie ist mit seinem republikanischen Engagement im Jahr 1848 so untrennbar verbunden wie mit seiner Lektüre von Leibniz’ Monadologie.
Ernst Haeckel, ein späterer und sehr viel weniger republikanisch gesinnter Verfechter der Zelltheorie, schrieb 1899: „Die Zellen sind die wahren selbstständigen Bürger und bilden, zu Milliarden zusammengefügt, unseren Körper, den Zellstaat.“
Klosterzellen, Gefängniszellen, Polizeigewahrsamszellen – das ist also die Zivilisation, die in der Zelle die elementare Einheit des Lebens gefunden haben wird.
In unseren Tagen urteilt der Autor von Kein Gott, kein Gen, der Biologe Jean-Jacques Kupiec, dass die vorherrschende Biologie mit ihrem genetischen Determinismus keinen Platz für zufällige Variationen lässt und verteidigt eine „anarchistische Auffassung des Lebendigen“.
Seit sie sich der Jagd auf „Terroristen“ widmet, behauptet die Aufstandsbekämpfung, jene chirurgisch aus dem gesellschaftlichen Körper zu entfernen wie einen Krebsherd – was übrigens das westliche Verständnis von Krebs verdächtig macht.
Offensichtlich regiert man uns, indem man uns Schläge schlechter Metaphern versetzt.
Das hechelnde Tagesgeschehen kann deren Selbstverständlichkeit nur erzwingen, indem es ständig zu etwas anderem übergeht.
Jeder, der einen Moment innehält, muss das Groteske an diesem Zirkus erkennen, wenn nicht sogar seinen kriminellen Charakter. Übrigens ist die Beschleunigung deshalb so dringend notwendig.
Von allen hinkenden Konstruktionen hinkt sicherlich der Begriff der „öffentlichen Gesundheit“ am meisten und dominiert doch.
Die Gesundheit kann in dem Maße, in dem sie eine Qualität der Beziehung ist, die ein Lebewesen mit seiner Umgebung eingeht, niemals öffentlich sein. Sie kommt nur in der Einzahl vor. Es gibt auch keine Global Health. Es gibt nur globale Unternehmen, die auf unsere Krankheit setzen. Mehr denn je werden die Kranken durch die Ärzte erzeugt.
„Von dem Moment an, da man über die Gesundheit eines Menschen in seiner Eigenschaft als Teil einer sozialen oder beruflichen Gemeinschaft sprach, wurde ihre existentielle Bedeutung durch die Erfordernisse der Buchhaltung verdeckt. […] Die historische Ausweitung des Raums, in dem die administrative Kontrolle über die Gesundheit des Einzelnen ausgeübt wird, hat in der Gegenwart zu einer Weltgesundheitsorganisation geführt, die ihren Einsatzbereich nicht abstecken konnte, ohne ihrerseits eine eigene Definition von Gesundheit zu veröffentlichen. Diese lautet wie folgt: ‚Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Gebrechen oder Krankheit‘. […] Das ist ein Diskurs der Hygiene, einer traditionellen medizinischen Disziplin, die nun von der sozio-politisch-medizinischen Bestrebung, das Leben der Einzelnen zu regulieren, vereinnahmt und verdreht wird. […] Der Hygieniker bemüht sich, eine Bevölkerung zu verwalten. Er hat es nicht mit Individuen zu tun. Öffentliche Gesundheit ist eine fragwürdige Bezeichnung. Reinlichkeit würde besser passen. Was öffentlich ist, veröffentlicht wird, sind sehr oft die Krankheiten. Der Kranke ruft um Hilfe, zieht die Aufmerksamkeit auf sich; er ist abhängig. Der gesunde Mensch, der sich stumm an seine Aufgaben gewöhnt, der die Wahrheit seiner Existenz in der relativen Entscheidungsfreiheit lebt, ist in der Gesellschaft präsent, die ihn ignoriert. Gesundheit ist nicht nur das Leben in der Schweigen der Organe, sondern auch das Leben in der Unauffälligkeit gesellschaftlicher Beziehungen.“ (Georges Canguilhem, Die Gesundheit. Vulgäres Konzept und philosophische Frage, Vortrag, gehalten 1988 in Straßburg)
Die dem öffentlichen Gesundheitswesen eigene Ungeheuerlichkeit ist die der Statistik. Daran können ihre lobenswerten Absichten, das Menschengeschlecht zu retten, nichts ändern. Die Statistik wurde ursprünglich „politische Arithmetik“ genannt und entstand als Staatswissenschaft. Wenn sie Bevölkerung und Reichtum erfasst, geht es ihr nicht allein darum, die Macht des Souveräns zu messen. Sie hat ein anderes, indirekteres Ziel, das Ende des 16. Jahrhunderts von Bodin in seinen Sechs Büchern über den Staat als Theorie formuliert wurde: einzig durch ihren Mechanismus, durch die Normen, die zu produzieren sie erlaubt, das Verhalten eines jeden Subjekts zu regulieren. Sein Musterbeispiel ist die römische Institution des Zensors, der alle fünf Jahre den Zustand der Sitten und des Vermögens eines jeden Bürgers inspizieren sollte, aus dem sich dessen jeweilige Stellung in der Stadtorganisation ergab. Die außerpolitische und vorrechtliche Macht des Zensors bestand namentlich in der Verleihung der ignominia. Er fällt keine Urteile, sondern verteilt notae, also Noten. Es heißt, dass er im Laufe der Jahrhunderte viel für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral in Rom getan hat. Indem man durch den Zensor „den Stand und Beruf eines jeden kannte und womit er sein Leben verdient“, ermöglichte er nach Bodin „die Verbannung der Vagabunden, Faulenzer, Diebe, Betrüger und Zuhälter […]: man würde sie überall sehen, man würde sie überall markieren, man würde sie überall kennen. […] Nur die Betrüger und Blender, die die anderen missbrauchen, wollen nicht, dass man ihr Spiel aufdeckt, dass man von ihren Handlungen hört oder ihr Leben kennt: aber die guten Menschen, die das Licht nicht fürchten, werden immer Gefallen daran finden, wenn man ihren Zustand, ihre Qualität, ihre Güter und ihre Lebensweise kennt.“ (Bodin, Sechs Bücher über den Staat, 1576) Die Kollaborateure gaben sich immer an ihrem „Ich habe nichts zu verbergen, da ich mir nichts vorzuwerfen habe“ zu erkennen. „Es geht darum, mit Hilfe der vom Zensor durchgeführten Zählungen eine Art von Macht zu entwickeln, die dauerhafte Verhaltensweisen eher durch individuelle Verinnerlichung induziert als durch vorübergehende und äußerliche Sanktionierung, wie es das Gesetz tut.“ (Thomas Berns, Regieren ohne zu regieren. Eine politische Archäologie der Statistik, 2009) Der Übergang von der Republik zum Kaiserreich war in Rom gekennzeichnet durch die Ausweitung der Volkszählung auf die gesamte „bewohnte Welt“ sowie die Einführung des Breviarium totius imperii, einer vollständigen Bestandsaufnahme aller materiellen wie menschlichen Ressourcen des Reiches, durch Augustus. Ein logischer Faden zieht sich von der Nutzung der Volkszählungen seitens der Monarchie, welche die Jagd auf Arme und Rebellen ermöglichte, bis hin zu Big Data und den verschiedenen bestehenden oder geplanten Sozialkreditsystemen: ein Faden des Einmarschs einer im Laufe der Jahrzehnte zunehmenden statistischen Reflexivität in fast alle Tätigkeiten – Arbeit wie Sport, Unternehmen wie familiäres Budget, Ernährung wie Kommunikation.
Verzeiht die Erinnerung: Die grundlegenden Werkzeuge der modernen Statistik – die Regressionsanalyse, die Korrelation und die Korrelationskoeffizienten, der Median, die Zehntelwerte und der Interquartilsabstand – wurden von Francis Galton und Karl Pearson im Rahmen ihres wissenschaftlichen Aktivismus für die Eugenik erfunden, deren weltweit profilierteste Vertreter sie waren. Diese Methoden dienten zunächst zur Untersuchung des „genetischen Werts“ der Populationen oder zu biometrischen Arbeiten. Sie zielen ausdrücklich darauf ab, „über die Wahrnehmung hinaus“ zu gehen. „Die Alchemie verwandelt die freien und zufälligen Handlungen der Individuen in bestimmte und stabile Aggregate und liefert so der Debatte Bezugspunkte, nämlich übertragbare, weil außerhalb der Personen liegende Objekte.“ (Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen, 1993) Diese Alchemie hat die Gabe, ihre fiktiven Aggregate an die Stelle der singulären Wahrnehmungen und ihre konstruierten Abstraktionen an die Stelle der situierten Realitäten zu setzen. Diese Gaukelei war absolut notwendig, um den Durchschnittsmenschen des 20. Jahrhunderts zu enthemmen. Seine „normale“ Barbarei zeigt nur die Barbarei der statistischen Vernunft. Es war Stalin, der feststellte: „Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie. Der Tod einer Million Menschen ist eine Statistik“.
Um Daten zusammenzufassen, muss man zunächst ihren Kontext zerstören.
Die der Statistik eigene Ungeheuerlichkeit, die auch die Ungeheuerlichkeit der staatlichen Sichtweise ist, besteht in ihrer Art, die sinnliche Welt unter dem Vorwand zu vernichten, sie lesbar zu machen.
Die Singularität, die doch das Ganze der Erfahrung ist, ist antistatistisch. Aus diesem Grund muss die Statistik überall die Erfahrung verwüsten.
In dem Moment, in dem man im Jahr 2020 die alten Menschen an Einsamkeit in den Pflegeheimen sterben ließ, nötigte man uns zu gekünstelten Gefühlen für tägliche Todeszahlen und gespenstische Abstraktionen.
Man verlangte von uns – und verlangt es noch immer –, dass wir diesen statistischen Blick auf unser eigenes Leben annehmen.
Zu leben und zu denken, als wären wir nicht wir selbst, heißt mit dem Leben und dem Denken Schluss zu machen.
Jedes Mittel ist recht, um uns von uns selbst loszureißen. Und notfalls in uns das gesellschaftliche Wesen gegen das singuläre Wesen aufzuwiegeln.
Zwischen dem statistischen Blick auf die Welt und der Welt selbst liegt der ganze Abgrund, der den letzten Atemzug eines geliebten Menschen vom Einfügen einer Einheit in die Spalte der Todesfälle trennt.
Diese Ungeheuerlichkeit ist außerdem so unüberwindlich, dass es, um sie akzeptabel zu machen, notwendig war, die Erfahrung des Todes selbst statistisch zu machen.
Durch die einheitliche Eichung fast aller Todesfälle auf die anonyme Umgebung des immergleichen Krankenhauszimmers, das nach Waschmittel, Pisse und kaltem Essen riecht, wurde der Tod so weit entpersönlicht, dass er einer abstrakten Realität gleicht: der Statistik, in die er schließlich übersetzt werden soll.
Eine Art Krönung dessen stellen die in Industriegebieten eingerichteten Bestattungshäuser mit ihren Büroteppichen und Standardsätzen dar.
Schon vor über einem Jahrhundert schrieb Rainer Maria Rilke ironisch über das Hôtel-Dieu: „Jetzt wird in 559 Betten gestorben: Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, dass die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).“ (Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910)
Im Anspruch, das Leben der Menschen durch statistische Daten zu verwalten, liegt ein untrennbar politisches wie erkenntnistheoretisches Laster. Zunächst einmal verdampfen zwischen der Realität und ihrer statistischen Darstellung alle Möglichkeiten, die jener den Schimmer des Heiligen verleihen, alle Kräfte, welche sie bearbeiten. Es liegt in der Natur der Sache, dass Daten das Gegebene verteidigen. Ferner sind Daten immer konstruiert, sowohl in ihrer Erhebung als auch in ihrer Organisation. Ihre inhärente und verborgene Politik liegt in der Wahl des Gegenstands, des Zeitpunkts, der Bezeichnungen und der Konstruktionsmethode. Die Vorführung von Phantasiestatistiken dient regelmäßig dazu, im Gegenzug die Realität zu beeinflussen und die erhofften Statistiken zu erhalten. Die Herstellung der „politischen Landschaft“ durch Umfragen beweist das täglich. Der Appell an den Herdentrieb: „Schaut her, 80 Prozent der Menschen sind geimpft! Beeilt euch!“ – auch er funktioniert wunderbar. Während der zwei Jahre, in denen die Infektionskurven regierten, konnte man feststellen, dass Modellierungen die ärgerliche Tendenz haben, die Realität zu ersetzen. Die phantastischen Modelle des Imperial College, die zur Rechtfertigung des großen Freiheitsentzugs im März 2020 dienten, sagten für Schweden im Falle der Nicht-Eindämmung bis zu 90.000 Todesfälle im ersten Jahr voraus. Die offiziellen Statistiken verzeichneten schließlich nur 13.500. Ausnahmsweise übertrieb der Modellierer des Imperial College – welches, was die Unterstützung staatlicher Enthemmung angeht, kein Anfänger ist – nur um den Faktor 7 und nicht um 500.000, wie es ihm auch schon passiert ist. Aber vor allem hat das Reich der Statistik einen logischen Mangel, der darin besteht, dass sie auf der Ebene der Bevölkerung argumentiert. Ihre Wahrheiten sind Wahrheiten der Masse. Wir können von dieser Ebene nicht wieder herabsteigen, die in keiner Beziehung zu derjenigen steht, auf der jeder Einzelne als Einzelner lebt. Diese Ebene betrifft uns nicht. Sie hat uns nichts zu sagen. Statistische Wahrheiten bieten in gelebten Situationen – in denen wir, ausgestattet mit unserem eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat, direkt mit dem zu tun haben, was ist, in denen Sinnliches auf Sinnliches trifft, Singuläres auf Singuläres sich bezieht – keinerlei Nutzen, geben keinen Rat. Dies ist übrigens das Grundpostulat des Gesetzes der großen Zahlen: Es hat nichts über Einzelfälle zu sagen, da es darauf beruht, dass sich diese in ihm aufheben. Nur ein leeres Individuum, eine Besonderung ohne Besonderheit, könnte den „statistischen Gesetzen“ folgen. Der Talmudist Eric Smilevitch erklärte kürzlich: „Ein statistisches Gesetz kann nur unter der Bedingung aufgestellt werden, dass auf individueller Ebene keine bestimmte Entscheidung und kein bestimmtes Verhalten vorherrscht, unter der Bedingung, dass die Individuen gleichgültig und austauschbar sind. Solange das Verhalten bestimmter Ereignisse nicht zufällig ist, sondern auf einzigartigen Regeln beruht, kann es auf globaler Ebene nicht registriert werden und wird aus der Statistik ausgeschlossen. Logischerweise kann man also, wenn Wahrheit kein leeres Wort ist, eine Entscheidung, die auf einem statistischen Gesetz beruht, nicht in eine persönliche Verhaltensregel umwandeln. Man müsste vielmehr sagen: Nur wenn ich keine persönliche Verhaltensregeln habe, falle ich mit Sicherheit unter ein statistisches Gesetz der Virusverbreitung. […] Austauschbare Individuen und ungewisses Verhalten, das sind die Grundannahmen jeder Politik, die auf dem Gesetz der großen Zahlen beruht“ (Eric Smilevitch, Leben in Zeiten von Gesundheitspaniken, 2020). Wer sich auf die Zahlen der Verkehrstoten verlassen würde, würde sich nie auf die Straße wagen. Wer sich auf die Scheidungsrate verlassen würde, würde niemals heiraten. Wer bei seiner Geburt die Morbiditätskurven nachschlüge, würde in den Bauch seiner Mutter zurückeilen. Selbstmordstatistiken sagen nichts über die Qualen und die Wut, die Verzweiflung und den Trotz, die den Freund heimsuchten, der im Moment seiner Tat mit all dem Schluss machte. Die große Mystifikation der Statistik besteht darin, dass sie nur einen spekulativen oder ablenkenden Nutzen und Sinn hat; dass man danach strebt, sie zu benutzen, um unser Verhalten zu lenken und um uns dazu zu bringen, uns selbst zu lenken. Sie produziert allerlei Normen, die die Subjekte dazu bringen, sich selbst zu überwachen und sich an sie zu halten. Diese Normen sind beim Regieren eines Landes von großem Nutzen, aber nicht, um zu leben. Man kann sein Leben führen, aber man kann es nie regieren. Und egal, was man sagt, man meistert es nicht.
In Wahrheit ist die Statistik verflucht. In den Chroniken verleitet der Satan König David dazu, das Volk Israel zählen zu lassen. Als das Volk gezählt wird, bricht die Pest über Israel herein. David fleht den Herrn an, nicht sein Volk, sondern ihn zu schlagen, da er die Zählung angeordnet hat. „Die Schafe, was haben sie getan?“ Menschen zu zählen bedeutet, sie wie Vieh zu behandeln.
Der buchhalterische Fanatismus der Statistik hat sich auf die Gesundheit gestürzt, wie er sich auf den Tod gestürzt hat. Und überall zeugt er von der gleichen Amputation jeden Empfindens und der gleichen Entschlossenheit, diese Amputation zu propagieren. In dieser heiligen Sache kommunizieren Manager und Regierende, Verwalter aller Art und Unternehmer ihrer selbst, Journalisten und Soziologen. Und da es nicht sein kann, dass man sie durchschaut oder dass sich jemand anmaßt, sich auf sein eigenes Empfindungsvermögen zu berufen, haben sie ein neues, gekühltes Pathos erfunden: das „menschliche Leben“. In einem Vortrag vor amerikanischen Lutheranern 1989 wagte es Ivan Illich, das menschliche Leben als „neuen Fetisch“ zu bezeichnen – und das ist nicht wenig, für einen altgedienten Priester.
„‚Ein Leben‘ ist auf eine Weise anfällig dafür, verwaltet, verbessert und in Hinsicht auf die verfügbaren Ressourcen bewertet zu werden, die undenkbar wäre, solange wir von ‚einer Person‘ sprechen. […] Die tägliche Erfahrung einer verwalteten Existenz führt dazu, dass wir eine Welt fiktiver Stoffe für unwiderlegbar halten. Sie lässt uns von diesen verwalteten Trugbildern in neuen Worten sprechen: ‚Fortschritt‘ in der Gesundheitsfürsorge, universelle Bildung, globales Bewusstsein, soziale Entwicklung; mit Worten, die etwas ‚Besseres‘, ‚Wissenschaftliches‘, ‚Modernes‘, ‚Fortschrittliches‘ oder etwas ‚Vorteilhaftes für die Benachteiligten‘ suggerieren. Die verbalen Amöben, mit denen wir die von der Verwaltung zusammengebrauten Phantome bezeichnen, stehen für eine aufgeklärte Sichtweise, für eine gesellschaftliche Sorge und Vernunft, aber ohne irgendetwas zu bedeuten, was wir selbst schmecken, riechen oder erfahren könnten. In dieser semantischen Wüste voller verworrener Echos brauchen wir eine Linus’sche Sicherheitsdecke, einen prestigeträchtigen Fetisch, der es uns ermöglicht, uns als edle Verteidiger heiliger Werte zu präsentieren. Im Nachhinein zeigt sich, dass die soziale Gerechtigkeit zu Hause, die Entwicklung im Ausland und der Frieden in der Welt solche Fetische waren. Der neue Fetisch ist das Leben. Es hat etwas Apokalyptisches, das Leben unter dem Auge des Mikroskops zu suchen. […] Die neue technologische Gesellschaft ist auf einmalige Weise unfähig, Mythen zu erschaffen, zu denen die Menschen eine tiefe und reiche Bindung ausbilden können. Jedoch braucht sie für ihre rudimentäre Aufrechterhaltung Behörden, die legitime Fetische erschaffen, an die sich eine epistemische Gefühlsduselei binden kann. Nie zuvor hat es ein ähnliches Bedürfnis nach Behörden gegeben, die eine solche Aufgabe übernehmen können.“ (Ivan Illich, Die institutionelle Erschaffung eines neuen Fetisch: ‚Menschliches Leben‘ in Im Spiegel der Vergangenheit, 1989)