2. Die Rockefeller-Stiftung und die molekulare Anschauung des Lebens
Die Idee, dass sich das Leben nur in der Größenordnung 10-6 oder sogar 10-9 aufklären lässt – die molekulare Anschauung des Lebens –, die Idee, dass die banalsten Mechanismen der Chemie und Physik ausreichen, um die Biologie erschöpfend zu behandeln, dass man an dieser Grenze das Leben ohne das Leben erhellen könne, dass es keine Grenzen der Manipulation und des Engineerings gibt, die Idee, dass sich der Arzt nicht etwa sinnlich auf den Patienten bezieht, wobei die Wahrheit des letzteren auf dem Spiel steht und es die Sache des Therapeuten ist, ihn zu begleiten, sondern dass er jenem, der sich ihm als versagende Maschine darstellt, die der Reparatur bedarf, bloß Untersuchungen und Moleküle zu verordnen braucht, oder die Idee, dass jede Krankheit ihre Pille erfordert – all das hat sich nicht auf natürliche Weise durchgesetzt.
All das – also die moderne Biologie und Medizin, die medizinische Forschung und selbst die Organisationsform dieser Forschung – ist ohne Übertreibung das Werk der Rockefeller-Stiftung.
Dass die Stiftung in ihrer Geschichte die irrsinnigsten Eugenikprojekte unterstützte, und zwar seit ihrer Gründung 1913 bis heute, ist allbekannt.
Dass die aktuelle, auf die Debré-Reform von 1958 zurückgehende Struktur des Medizinstudiums in Frankreich, und mit ihr sogar die Existenz der Universitätskliniken, auf den Import eines Reformprojekts für das Krankenhaus und das medizinische Bildungswesen zurückgehen, das am Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA von der Stiftung angestoßen wurde, ist weniger bekannt. Doch tatsächlich rühmte sich Robert Debré, das Rockefeller-Institut in New York bereits vor 1914 besucht zu haben und ihm sein ganzes Leben verpflichtet geblieben zu sein.
Dieselbe historische Nabelschau will nicht wissen, dass das Französische Nationale Zentrum für wissenschaftliche Forschung, das illustre CNRS, seinerseits nur eine blasse Kopie des Nationalen Forschungsrates ist, der während des Ersten Weltkriegs auf Initiative der Stiftung geschaffen wurde. Als 1930 der Physiker Jean Perrin und der Biologe André Mayer den Entwurf eines Gesetzes zur Gründung eines „nationalen wissenschaftlichen Forschungsdiensts“ vorstellen, berufen sie sich auf die „bewundernswerte Organisation von Rockefeller“. Diejenigen, die der Gründung des CNRS vorstanden und ihm Leben gaben, blieben während der ganzen 1930er Jahre in engem Kontakt mit der Stiftung. Das CNRS wurde nicht nur durch finanzielle Unterstützung der Stiftung geschaffen, vielmehr schrieb einer seiner Gründer, Louis Rapkine, im August 1945 an Warren Weaver – den Mogul der „Naturwissenschaften“ bei Rockefeller von 1932 bis 1955 und das lebende Muster des neuen Wissenschaftsmanagers –, dass ihn in Paris „Dutzende Forscher wie den Messias erwarteten, in dem Wissen, dass sie eine wissenschaftliche Organisation brauchen, die den Schwierigkeiten der Zeit gewachsen ist […], und sie ein vitales Bedürfnis nach diesem Know-how haben, das die Herrlichkeit der amerikanischen wissenschaftlichen Philanthropie ausmacht.“ Weaver irrte sich nicht, als er 1946 an einen seiner Kollegen über das CNRS schrieb: „Es liegt in den Händen von Wissenschaftlern, die wir gut kennen, weil sie in den letzten zwanzig Jahren unsere Fellows waren.“ Tatsächlich sind es nur wir, die die Rolle der Stiftung bei der Schaffung des CNRS nicht kennen, welches ihr mit voller Absicht erzeugtes Produkt zu sein scheint – das Produkt einer Aktivität, deren Wirksamkeit durch ihre Diskretion angezeigt wird. Seine finanzielle Unterstützung unter der Bedingung zusichernd, dass das CNRS künftig Kolloquien organisiert, schrieb Weaver 1949 an Rapkine: „Ich bin überzeugt, dass keine andere Maßnahme wirksamer sein könnte, um die französische Wissenschaft zu verjüngen und neu auszurichten. Aber ich empfehle Ihnen, im Wissen um die Selbstgerechtigkeit und den chauvinistischen Geist Ihrer Landsleute, den Eindruck zu erwecken, dass die Idee von ihnen selbst kommt.“
Die Rockefeller-Stiftung verzeichnet seit 1912 ganze 26 Nobelpreisträger für Medizin und Chemie unter ihren Mitarbeitern.
Die Molekularbiologie verdankt der Rockefeller-Stiftung so viel, dass Warren Weaver, eigentlich ein ausgebildeter Mathematiker, den Begriff 1938 höchstselbst erfand.
Die erste „Public Health“-Kampagne in Frankreich, die diesen Namen verdient, diejenige von 1917 gegen Tuberkulose, war das Werk der Rockefeller. Seltener gesagt wird, dass die „moderne Medizin“ während des 20. Jahrhunderts nie aufgehört hat, „amerikanische Medizin“ zu sein, und dass die amerikanische Medizin dieses Jahrhunderts von der Rockefeller Foundation strukturiert wurde. Stiftungen dienen bekanntlich dazu, Geld in Macht umzuwandeln – in Einfluss. Aber im speziellen Fall von Rockefeller sind wir mit der direkten Umwandlung von Geld in Paradigma konfrontiert, mit der Sublimierung des Dollars in Wissen. Diese Geschichte ist bemerkenswert genug und verdient es, in Erinnerung gerufen zu werden, da sie es ermöglicht, die Projekte unserer Feinde klarer zu sehen.
John D. Rockefeller
Es ist unnötig, auf den Ursprung der amerikanischen Erdölindustrie und Raffination in den 1860er bis 1890er Jahren zurückzugehen, die John D. Rockefeller – einen strengen Baptisten an der Spitze von Standard Oil, methodisch, habgierig und skrupellos – zum „Ölkönig“ und zum „meist gehassten Mann Amerikas“ gemacht haben und sein Unternehmen zur Verkörperung des Volksfeindes – die „Krake“, sagte man damals. Die Mafiamethoden des reichsten Mannes des Landes waren so niederträchtiger Natur, dass sie die erste amerikanische Kartellgesetzgebung hervorbrachten, den Sherman Act von 1890, der eine derartige Dominanz einer Industrie und die sie ermöglichenden Absprachen verhindern sollte. Unmittelbar danach wurde die Standard Oil of Ohio wegen criminal conspiracy verurteilt. Die Jahre 1890 bis 1900 sind die der ersten populistischen Bewegung Amerikas und auch das goldene Zeitalter des diffusen, kämpferischen und singenden Anarchosyndikalismus der Industrial Workers of the World; sie sind genauso die Ära der Räuberbarone mit ihren Pinkerton-Milizen, die sich gegen die Arbeiter verschwören, sie kalt hinrichten und dabei immer von der Justiz gedeckt werden, wie die Zeit, in der das Big Business mit der Übernahme der Regierung beginnt. Es sind die entscheidenden Jahre. Es sind die Jahre, in denen der fortschrittliche Präsidentschaftskandidat Woodrow Wilson schreibt: „Die Regierung, die für das Volk bestimmt wurde, geriet in die Hände der Bosse und ihrer Kumpanen, der Sonderinteressen. Über die Formen der Demokratie hinweg richtete sich ein unsichtbares Imperium auf.“ Das sind also die Jahre, in denen John D. Rockefeller schimpft: „Ich sage Ihnen, die Dinge haben sich geändert, seit Sie und ich Kinder waren. Die Welt ist voll von Sozialisten und Anarchisten. Wann immer ein Mann bemerkenswerte Erfolge in einer Tätigkeit hat, wird er angegangen und lautstark angeschrien.“ (Daniel Yergin, Die Männer des Öls, 1991) Im Grunde ist das der Augenblick, in dem die Raubritter à la Rockefeller erkennen, dass sie, wenn sie ihre wirtschaftliche Macht behalten wollen, ihre Kontrolle auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen müssen. Ausbau der Stellungen, um sie zu halten, lautet die strategische Maxime des Kapitals. Diese Sichtweise passt durchaus zum apokalyptischen Imperialismus, zu dem der glühende Calvinist durch die Angst seines Glaubens selbst verdammt ist. Ganz wie bei Bill Gates heute drängen sich Schulwesen, Medizin und Landwirtschaft als bevorzugten Felder dieses notwendigen Unterfangens auf, in die Seelen und Körpern einzudringen. Baron Carnegie gründete 1905 eine „Stiftung zur Förderung der Lehre“ und 1911 ein Labor der Biologie, das sich der Agronomie und der Human-Eugenik widmet – in jedem Fall geht es darum, die Spezies weiterzubringen, nicht wahr? In einem Bulletin dieser Stiftung aus dem Jahr 1905 finden wir einen Artikel des Botanikers Hugo De Vries, einer der ersten Genetiker. Er fasst die seltsame, unseren großen Philanthropen antreibende Sicht auf das Leben gut zusammen: „Evolution muss zu einer experimentellen Wissenschaft werden. Sie muss erst kontrolliert, dann in eine ausgewählte Richtung geleitet und schließlich an den menschlichen Gebrauch angepasst werden.“ 1903 führte Baron Rockefeller ein General Education Board ein, da „der Neger erzogen werden muss, um nüchterner, fleißiger und kompetenter zu werden“. Es geht darum – drängt der wichtigste philanthropische Berater von John D. Rockefeller, der Pastor Gates –, „die Ausdünstung der Faulheit auszurotten, die Ursache für die sprichwörtliche Lethargie der Südstaatenbevölkerung“. 1906 wurde das Institut Rockefeller Medical Research in New York eingeweiht, ein hochmodernes Labor nach dem Vorbild des Robert-Koch-Instituts in Berlin mit seinem Chefarzt Simon Flexner. Der Flexner-Bericht von 1910 markiert die Kriegserklärung der Biomedizin gegen die medizinische Kunst. Sein Programm ist es, die Ausübung der Medizin rund um das Krankenhaus als einem Ort gleichsam der Pflege, Forschung und Lehre zu bündeln. Dabei geht es darum, durch die Kontrolle des Zugangs zur medizinischen Profession die Vereinigten Staaten von all dem zu säubern, was man fortan als „alternative“ Medizin präsentiert und was damals die Essenz dieses Berufs ausmachte. „Die Einführung der Vollzeit im Krankenhauses wird eine entscheidende Tat für die Etablierung der wissenschaftliche Medizin in den Vereinigten Staaten sein, und sei es nur, indem die Unabhängigkeitsbestrebung eines Berufstands reduziert wird, für den die freie Praxis immer verführerisch ist“, so die Strategie des Pastors Gates. Die Kalibrierung der Lehre rund um die Biochemie und die neuesten technologischen Fortschritte erlaubte es, die Gründung eines Unternehmens mit steigenden Preisen zu legitimieren; es wird daher immer reicher, also immer mächtiger. Die obszöne Korruption von Big Pharma – zwischen 1998 und 2012 wurden immerhin 2,6 Milliarden Dollar an Kandidaten oder Kongressabgeordnete ausgegeben – schlägt ihre Wurzeln tief in diese mafiöse Verfassung der zeitgenössischen Ärzteschaft. Die seit dem Flexner-Bericht nicht mehr enden wollende Unerbittlichkeit gegen volkstümliche Heilmittel und traditionelles Wissen, gegen „ganzheitliche“ Ansätze und nicht-mechanistische Therapien, ja sogar gegen die bloße Berücksichtigung des Terrains ist nicht so sehr Ausdruck selbstbewusster Wissenschaftlichkeit der Biomedizin, sondern zeugt vielmehr von ihrem Bedürfnis, die Usurpation zu verdrängen, auf der sie gründet. Nach dem Flexner-Bericht und dank der Unterstützung der Rockefellers wurde die gesamte medizinische Ausbildung nach deutschem Vorbild reformiert, zentralisiert, militarisiert. Die Disziplin wurde von allem gesäubert, was nicht „modern“ war. Von den infolge der Säuberung knapp werdenden Ärzten sagte Flexner: „Je weniger, desto besser.“ An diesem Punkt sind wir noch immer, ein Jahrhundert später. Lassen Sie sich heutzutage mal richtig behandeln! 1911 gründete John Rockefeller Junior das Bureau of Social Hygiene, um Regierungen in Sachen Prostitution, Kriminalität und Drogen zu beraten. Unter diesen Bedingungen ließ es sich Pastor Gates nicht nehmen, 1912 am ersten eugenischen Weltkongress teilzunehmen.
Im Zuge dieser wohltätigen Bemühungen wurde 1913 die Rockefeller Foundation gegründet, die höchstdotierte Stiftung der Welt. Sie lud Ärzte, Professoren, Studenten und Forscher aus der ganzen Welt dazu ein, ihre Einrichtungen kennenzulernen und dort zu trainieren und finanzierte überall Ambulanzen, Ausrüstung, Gesundheitskampagnen sowie den Bau von Krankenhäusern und Universitäten. Dadurch rettete die Stiftung buchstäblich den Namen, den Einfluss und damit die Macht der Rockefellers. Selbst das Massaker an 40 streikenden Arbeitern, darunter Frauen und Kinder, durch die Arbeitgebermilizen der Standard Oil 1914 in Ludlow konnte sie nicht wieder zu dem Paria machen, der sie immer hätten bleiben sollen. Es bot im Gegenteil Anlass dafür, dem Begründer der modernen Werbung, Ivy Lee, eine Spielwiese anzubieten, um das mit Spucke bedeckte Familienwappen aufzupolieren, und dem Erben der Dynastie eine Möglichkeit, die „Arbeitsbeziehungen“ in der Industrie zu erfinden, die später zu den „menschlichen Beziehungen“ überhaupt werden sollten. Laut ihrer Satzung dient die Stiftung „dem Wohle der Menschheit auf der ganzen Welt“. Sie ist in fünf Zweige unterteilt: International Health, Medical Sciences, Natural Sciences, Social Sciences und Humanitarian and Arts. Zwischen den Kriegen werden 300 französische Ärzte in die Vereinigten Staaten gehen, um sich bei den Rockefellers zu „schulen“. Die Stiftung setzt ein vollständiges, aus Informationsbeschaffung, Erfassung, Kontaktaufnahme und Auswahl bestehendes Repertoire ein, um ein diskretes Netzwerk mit globalem Einfluss zu weben und eine „Elite“ schlagkräftigen Wissens zu bilden. „Immer wird die gleiche Strategie verfolgt: Bestimmung von Schlüsselstellen, an denen Pilotversuche durchgeführt werden, die imstande sind, das gesamte System in ihrem Kielwasser mitzureißen.“ (Ludovic Tournès, Geisteswissenschaften und Politik. Amerikanische philanthropische Stiftungen im Frankreich des 20. Jahrhunderts, 2013) Aber man kann keine Wirklichkeitsebene erschaffen ohne Instrumente, die sie auch wahrnehmbar machen. Die mit dem Californian Institute of Technology (Caltech) verbündete Rockefeller Foundation erzwang den Sieg der Biochemie über die medizinische Kunst nicht einfach durch einen Zauber, eine Orgie der Finanzierung, eine weltweite Kooptation wissenschaftlicher Eliten und eine Hexenjagd auf „alternative“ Behandlungen. Sie rüstete die molekulare Vision des Lebens. Sie rüstete sie mit Elektronenmikroskopen, Ultrazentrifugen, Szintillographen, Spektroskopen und sogar einem Zyklotron zur Herstellung radioaktiver Isotope. Nicht die Instrumente sind „verdinglichte Theoreme“, wie Bachelard glaubte, sondern die Theorien sind in die Logik übersetzte Instrumente. Um die rein physikalisch-chemische Interpretation des Lebendigen durchzusetzen und es auf einen Mechanismus zu reduzieren, bei dem die Trennung zwischen Belebtem und Unbelebtem tendenziell nicht mehr besteht, war es notwendig, die Ebene der Makromoleküle, Proteine, Bakterien, Viren und Antikörper sichtbar zu machen. Zumindest gelang es auf diese Weise, die von dem guten Arzt Robert Aronowitz so unschuldig gestellte und elementare Frage, „haben Krankheiten einen Sinn?“, für null und nichtig zu erklären. Wie wir sehen, handelt es sich hier um etwas ganz anderes als um die taktische Bewegung eines Ölindustriellen in einer Monopolsituation, der versucht, sich auf dem Terrain auszudehnen, das er am besten beherrscht – Chemikalien – und der sich dafür die Medizin einverleiben muss, indem er sie auf seinen Zuständigkeitsbereich zurechtstutzt. Die Rockefeller Foundation ist nicht nur der verkannte, sondern der unbestreitbare Vorfahre von Big Pharma. Ihr Programm ist aber viel umfassender. Wir können es politisch, gesellschaftlich oder metaphysisch nennen, je nachdem, was wir bevorzugen. Sicherlich ist es total. Wie Lily E. Kay in The Molecular Vision of Life (1993) gezeigt hat, „strebten die Führungskräfte der Rockefeller-Stiftung und ihre wissenschaftlichen Berater danach, eine mechanistische Biologie als zentrales Element einer neuen Wissenschaft vom Menschen zu entwickeln, deren Ziel das Social Engineering war. […] Die molekulare Vision des Lebens war eine optimale Kombination zwischen einer technokratischen Vision des Human Engineering und einer Repräsentation des Lebens, die auf technologischen Eingriffen basiert; wissenschaftliche Vorstellungskraft und gesellschaftliche Vision resonierten miteinander.“ Vereinigt werden die verschiedenen Tätigkeitsbereiche der Stiftung durch ein anthropologisches Projekt, ein Zivilisationsprojekt. Um nicht geradeheraus vom „Aufbau einer sicheren Welt für Privatunternehmen“ zu reden, spricht dieses calvinistische Projekt von der „Bekämpfung des Lasters“, der „Anhebung moralischer Standards“ und der „Verbesserung menschlichen Verhaltens“. Bereits 1913 schrieb der Präsident der University of Chicago und Kandidat erster Wahl für das Präsidentenamt der Stiftung: „Die wirkliche Hoffnung auf ultimative Sicherheit liegt in der Stärkung der staatlichen Polizeigewalt durch eine Abrichtung der moralischen Natur, so abrupt und so gewaltig, dass sie asoziale Bestrebungen einschränkt und durch angemessene Selbstbeherrschung ersetzt.“ In der Atmosphäre der Angst vor den Roten, die in den 1920er Jahren angesichts der sowjetischen Erfahrung in den herrschenden Kreisen Amerikas dominierte, schrieb einer der Vordenker der Stiftung, Raymond B. Fosdick, mit dem für den Calvinismus charakteristischen apokalyptischen Pathos: „Wir sehen deutlich den Abgrund, an dessen Rand die Rasse steht. Wir sehen die Endzeit vor uns, sollten wir es versäumen, ein Maß an gesellschaftlicher Kontrolle einzuführen, das weit über das hinausgeht, was wir bisher ausgeübt haben. […] [Wir brauchen] im sozialen Bereich die gleiche Art von mutiger Ingenieurskunst, die im Gebiet der Naturwissenschaften die Grenzen des menschlichen Verständnisses so weit verschoben hat.“ Oder, um es praktisch und weniger umständlich in den Worten eines Arztes auszudrücken, eines gewissen Cornelius Rhoads, der 1930 von der Stiftung nach Puerto Rico entsandt wurde, um die durch Blut übertragbaren Krankheiten zu erforschen: „[Die Puerto-Ricaner] sind ohne jeden Zweifel die schmutzigste, faulste, degenerierteste und diebischste Menschenrasse, die jemals diese Sphäre bewohnt hat. Auf derselben Insel zu leben wie sie, macht einen krank. Sie sind den Italienern unterlegen. Diese Insel braucht keine öffentliche Gesundheitsarbeit, sondern eine Flutwelle oder dergleichen, um die Bevölkerung vollständig auszulöschen. Dann könnte sie bewohnbar sein. Ich tat mein Bestes, um den Vernichtungsprozess voranzutreiben, indem ich wenigstens acht von ihnen tötete und mehreren anderen Krebszellen transplantierte.“ In einem Gründungsbericht von 1933 fragt Warren Weaver: „Können wir eine Genetik etablieren, die stark genug ist, um in Zukunft Männer hervorzubringen, die denen unserer Generation überlegen sind? […] Können wir menschliches Verhalten rationalisieren und eine neue Wissenschaft vom Menschen schaffen?“ Man muss sagen, dass die Rockefellers in Fragen der Eugenik trotz der Wechselfälle der Geschichte eine bewundernswerte Beständigkeit gezeigt haben. Sie ließen nach 1945 keine sieben Jahre verstreichen, bevor sie den Bevölkerungsrat gründeten, an dessen Spitze sie 1957 Frederick Osborn setzten, den großen Philanthropen, der, nachdem er das Eugenikprogramm der Nazis als „das größte Experiment aller Zeiten“ bezeichnet hatte, zugab, dass „die Ziele der Eugenik bessere Chancen haben, unter einem anderen Namen als dem der Eugenik erreicht zu werden“.
Der Begriff Human Engineering ist in den Vereinigten Staaten seit den 1910er Jahren gebräuchlich. Aus der Zeit des Vorstoßes von Taylors wissenschaftlichem Management und der Ingenieursklasse stammend, zielt er auf die Anwendung derselben „rationalen“ Techniken ab, die es ermöglichten, die Kontrolle über Fabriken zurückzugewinnen und die gesellschaftliche Ordnung im Allgemeinen aufrechtzuerhalten. 1913 erscheint das Behaviorist Manifesto von Watson, das eine neue Psychologie vorantreibt, deren „theoretisches Ziel in der Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens besteht“, wie sein Autor gesteht. In den 1920er Jahren spielte die Rockefeller Foundation eine Vorreiterrolle bei der Finanzierung und Förderung dieser „Sozialwissenschaft“. Ein Beobachter der Zeit bemerkte eine „signifikante Veränderung des wissenschaftlichen Interesses und des wissenschaftlichen Gegenstands, eine Verschiebung vom Verstehen zur Kontrolle, […] von der Erkenntnis und Wahrheitssuche hin zum […] Management und zur Lenkung, zur Verbesserung und zur größeren Effizienz“. Ein Buch von 1925, Die Mittel der sozialen Kontrolle, definiert den Begriff wie folgt: Soziale Kontrolle bedeutet, „andere zu veranlassen, das zu tun, zu glauben, zu denken und zu fühlen, was Sie wollen, wobei ‚Sie‘ jede Autorität meint“. Sieh an, sieh an.
Die Rockefeller Foundation kann sich rühmen, das Management in die Wissenschaften eingeführt zu haben, indem sie einerseits die Arbeit nach bestimmten disziplinären Achsen aufteilte und andererseits die Organisation durch Teamprojekte begünstigte, die von einer Elite „kooperativer Individualisten“ geleitet wurden, wie sie sich so schön ausdrückt. Doch sie tat das im Schoß eines ambitionierteren Programms, das im Titel eines der Gründungsbücher der amerikanischen Soziologie von 1901, Social Control von Edward A. Ross, zusammengefasst wurde. Ross studiert alle Mittel – Religion, Moral oder Wissenschaft – durch die man das Verhalten von Einzelpersonen kontrollieren kann. „Innerhalb einer aggressiven Rasse wird die Ordnung ständig durch die Unordnung Einzelner bedroht und kann nur durch das kompromisslose Wirken bestimmter gesellschaftlicher Kräfte aufrechterhalten werden.“ Ross’ Soziologie spielt bei der Gestaltung von Rockefellers politischem Projekt die entscheidende Rolle. Sie erlaubt uns, den Faden des ganzen Wollknäuels der Epoche zu entwirren. Tatsächlich ist Ross, wie er in seinen Memoiren bekennt, ein Positivist, ein amerikanischer Schüler von Auguste Comte. Auguste Comtes Einfluss auf die amerikanische Soziologie und Philosophie um die Jahrhundertwende ist nicht zu unterschätzen. Der Gründervater der Soziologe in den Vereinigten Staaten, Lester Ward, war ein orthodoxer Positivist. Er behauptete, dass „sein Ziel die radikale Soziokratie ist, nicht die Palliativmittel, die als Sozialreform durchgehen“. Das erste amerikanische Lehrbuch der Soziologie, Introduction to the Study of Society, das 1894 veröffentlicht wurde, ist durch und durch positivistisch. Darin wird die Soziologie übrigens als die „Wissenschaft der sozialen Gesundheit“ definiert. Einer der beiden Autoren engagierte sich so sehr für die Idee der „Verbesserung der Gesellschaft“, dass er 1917 Direktor der Rockefeller Foundation wurde, und dies bis zu seiner Pensionierung 1929 blieb. Jedes Mal, wenn wir in den Projekten der 1920er und 1930er Jahre dieser Stiftung von dem Bestreben lesen, eine „Wissenschaft vom Menschen“ aufzubauen, ist es das Erbe von Comte, das in einem Zug beansprucht und verborgen wird.