3. Fortbestehen des Positivismus
Auguste Comte war nicht nur der Erfinder der Soziologie, er war auch der Stifter einer Religion, einer erklärten Religion mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.
Die positivistische Kirche steht immer noch in Paris, obwohl ihre Messen, wie die anderen, kaum je mehr gefeiert werden.
Diese Religion wollte „die geistliche Leitung der Welt einer Priesterschaft von Gelehrten und die weltliche den Bankiers“ übertragen und lässt sich in drei Schlagworten zusammenfassen. Die beiden ersten sind „Ordnung und Fortschritt“ und „Für andere leben“; sie erscheinen regelmäßig auf der Titelseite positivistischer Broschüren, direkt unter der Aufschrift „Abendländische Republik“. Das dritte ist im Positivistischen Katechismus Gegenstand umfangreicher Ausführungen, aber eher unbekannt. Es gebietet: „Lebe am helllichten Tag“. „Ordnung und Fortschritt“ ist sowohl die berühmteste als auch die am wenigsten rätselhafte positivistische Anweisung und ziert sogar die brasilianische Flagge. Dem Wort „Leben für andere“, das Comte zum Erfinder des Begriffs „Altruismus“ macht, mangelt es gegenwärtig kaum an Resonanz, da einem den ganzen Tag lang vorgeschrieben wird, dies oder jenes und wenn möglich die absurdesten oder schändlichsten Dinge „für andere“ zu tun. „Der Positivismus“, erläutert er, „lässt keine anderen Pflichten gelten als die von allen gegenüber allen. Seine stets soziale Sichtweise kennt keinen Begriff vom Recht, da ein solcher immer auf Individualität beruht. […] Niemand hat ein anderes Recht als das, seine Pflicht zu tun. […] Jedes Menschenrecht ist ebenso absurd wie unmoralisch.“ Comte versäumt es niemals, dem „Egoismus“, gegen den stets der Altruismus durchgesetzt gehört, das „Mitgefühl“ entgegenzustellen. Und bis heute gilt, was er hinzufügt: „Wohlwollen ist das beste Mittel zum Erlangen von Wohlbefinden.“ Was die paradoxerweise am wenigsten bekannte Maxime des Positivismus angeht, „am helllichten Tag zu leben“, wirkt sie wie eine Prophezeiung für unser Zeitalter der Smartphones, der Videoüberwachung, der Gesichtserkennung und der sozialen Netzwerke: „Es wird nicht lange dauern, bis der abendländische Instinkt die gewöhnliche Öffentlichkeit privater Handlungen als notwendige Garantie für wahren Bürgersinn ansieht. […] Jeder, der sich weigert, in der Öffentlichkeit zu leben, wird geradezu verdächtigt werden, nicht wirklich für andere leben zu wollen. […] [Die öffentliche Meinung] muss zur Hauptstütze der Moral werden, nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der privaten und sogar der persönlichen, unter Bevölkerungen, in denen jeder immer mehr dazu gedrängt werden wird, am helllichten Tag offen zu leben, so dass die Öffentlichkeit eine jede Existenz wirksam kontrollieren kann.“ Insbesondere müsse mit der „schändlichen Gesetzgebung“ Schluss gemacht werden, „die es uns noch immer verbietet, das Privatleben öffentlicher Männer zu erforschen“.
Aber Comte bleibt, was die Utopie angeht, nicht dort stehen. Von Francis Bacon und Descartes übernimmt er – wie jeder erstbeste Transhumanist aus Davos oder dem Silicon Valley – das Versprechen eines unbegrenzten Lebens, die ihm zufolge beide „in der Medizin eine positive Grundlage für unsere körperliche Vervollkommnung suchten“. Er ist der Meinung, dass ein Gehirn „zwei Körper und vielleicht drei Körper verschleißen“ kann, vorausgesetzt, man lädt seinen Inhalt herunter. Die Sorge um die „Gehirnhygiene“ veranlasste ihn natürlich dazu, Kaffee, Wein und Tee aufzugeben und immer weniger zu essen, während er „die anhaltende Hoffnung auf das Absterben des Sexualtriebs“ bewahrte – so Michel Houellebecq, Ikone der Krankheit, Franzose zu sein, und immer dazu aufgelegt, Auguste Comte zu feiern. Den Aufstieg der Medizin zur Religion antizipierend, hält dieser fest, dass „die Zivilisation verlangt, dass das ärztliche Amt zunehmend stärker mit dem priesterlichen Dienst verschmolzen wird“. Für unseren treu ergebenen „Hohepriester der Menschheit“ ist das letzte Stadium der Evolution erreicht, wenn die „Utopie einer spontanen Befruchtung“ verwirklicht ist, wenn es gelungen ist, „die menschliche Fortpflanzung zu systematisieren, indem man sie ausschließlich weiblich macht“. Wie unheimlich modern! Dann wird sich die „Utopie der Jungfrauenmutter“ erfüllen, die so gut zu dem Bestreben passt, unseren „Schlund zu zähmen und mit ihm den Drang des Fleisches“. Auf diese Weise „wird der Mensch mehr und mehr zu einem Gehirntier“ – so zumindest die Hoffnung unseres Asketen. Die letzte Kuriosität des positivistischen Programms: die „fleischfressenden Kühe“. Da der Grad der Vollkommenheit auf der Sprossenleiter des Seins im Menschen sein Maximum erreicht und der Mensch ein Fleischfresser ist, ist es wichtig, die „Umwandlung von Pflanzenfressern in Fleischfresser“ anzustreben, eine „organische Verbesserung, zuerst bei den Pflanzen, dann bei den Tieren und schließlich beim Menschen, soweit er der Biologie zugehört“. Es geht darum, eine „riesige Liga“ der Lebenden unter der Führung der Menschheit aufzubauen, die den Kampf der „gesamten lebenden Natur gegen die tote Natur“ leiten soll, mit dem Ziel, „den Bereich der Erde auszubeuten“. Die Menschheit beinhaltet logischerweise alle „Arten, die in irgendeiner Weise zu unserem eigenen Gebrauch dienen oder unsere Schicksalsgenossen ernähren können“. Auf diese Weise wird die „gesamte lebende Welt“ schließlich an der „gesellschaftlichen Wiedererschaffung unserer Art in einer umfassenden Biokratie“ interessiert sein. Seht her, das gibt der andauernden Liquidierung aller wildlebenden Arten, der drastischen Reduktion der Artenvielfalt, dem Abschmelzen der Pole und der Eliminierung all dessen, was sich im „Bereich der Erde“ nicht ausbeuten lässt, eine höchst positive Bedeutung. Eine solche Religion der Menschheit geht natürlich nicht so weit, dass sie auch diejenigen in ihren Schoß aufnimmt, die nicht zum großen Werk beitragen – all die „unwürdigen menschlichen Parasiten“ und anderen „Produzenten von Mist“, von denen ein Positivist des frühen 20. Jahrhunderts sagte: „Ich stelle fest, dass es sich um Fehlgeburten handelt, die von meinem Standpunkt aus gesehen nicht zählen.“ Die Sicht des „Großen Wesens“ annehmend, das aus den Lebenden und den Toten gebildet wird, die es verdienen, meinte der Meister, dass „zweifellos nur wenige Menschen berechtigt sind, sich als wirklich unentbehrlich für die Menschheit zu betrachten“. Es wird niemanden überraschen, dass sich diese „biokratische“ Religion in erster Linie als „Todeskult“ definiert. Nichts könnte konsequenter sein.
Offensichtlich war Auguste Comte klinisch verrückt. Seine eigenen Anhänger stimmten dem unter vier Augen zu. Ein ausgezeichneter Positivist wie Dr. Constant Hillemand hielt ihn für einen „gestörten Geist“, der „wahnhaften Vorstellungen“ unterlag. Cabanès zählte ihn zu den „großen Neurotikern“. Er wurde 1826 bei Esquirol eingewiesen und erholte sich erklärtermaßen aus eigener Kraft, indem er einen Selbstmordversuch beging, kaum dass er aus der Anstalt entlassen worden war. Man muss nur drei Zeilen aus seinen Vorlesungen lesen, um zu spüren, dass man es hier mit dem Typus des großen Paranoikers zu tun hat. Er ließ dem General der Jesuiten einen Brief zukommen, in dem er ihm in aller Bescheidenheit vorschlug, sein Helfer zu werden, sich in Paris niederzulassen und sich zum geistlichen Oberhaupt der Katholiken zu erklären – mit dem Ziel, „das Abendland zu reorganisieren“. Sein Wahnsinn hat leider seinen entscheidenden Einfluss auf den Lauf der Ideen und der Welt zwischen 1850 und den 1920er Jahren in keiner Weise geschmälert. Der Positivismus setzte sich nach dem Tod seines Propheten als die vorherrschende Philosophie der Dritten Republik durch. Seine Strategie, „die Welt zu regieren“, war reiflich überlegt: Zunächst müsse der Positivismus „während einer Generation die Religion der Führung bilden, bevor er zur Religion der Untertanen“ würde und zunächst einen „würdigen Kern von wahren Soziokraten“ schaffen, um dann „die Macht an sich zu reißen“, nicht ohne dabei die „wichtigsten Konservativen der Vereinigten Staaten von Amerika“ für sich zu gewinnen. Über ein Jahrhundert lang war der Positivismus die Religion der Polytechniker, zu denen auch Auguste Comte gehörte, und er ist es in gewissem Sinne bis heute geblieben. Gerade das medizinische Milieu war für die positivistische Mission ein besonders fruchtbares Feld. Comte rühmte sich zu seinen Lebzeiten, dass „die Ärzte, vor allem die französischen, [eine] Klasse sind, in der der Positivismus wahrhaft kollektive Erfolge erzielt“. Zwei der Gründer der Französischen Gesellschaft für Biologie im Jahr 1848 waren seine erklärten Anhänger. Das Sainte-Anne-Krankenhaus blieb lange Zeit eine Hochburg des Positivismus. Niemand kann ignorieren, wie viel natürlicher Positivismus im französischen Arzt seit dem 19. Jahrhundert steckt – und nicht nur im klinischen Fall etwa von Laurent Alexandre, einem Urologen, Absolvent der ENA und transhumanistischen Unternehmer. Üblicherweise wird der „Transhumanismus“ als eine Erfindung des linksgerichteten Biologen und Eugenikers Julian Huxley in den 1950er Jahren dargestellt. Tatsächlich ist der Begriff „Transhumanismus“ aber ein französisches Konzept. Er geht auf Jean Coutrot zurück, einen Polytechniker mit einer Ader für die „Wissenschaft vom Menschen“ und Gründer der Gruppe X-Crise, die man üblicherweise als die Geburt der technokratischen Bewegung in Frankreich identifiziert. 1939 stellt Coutrot im Rahmen von Zusammenkünften seines Zentrums für das Studium menschlicher Probleme, wo der Schriftsteller Aldous Huxley ebenso verkehrte wie der Arzt Alexis Carrel, einen „Entwurf eines Transhumanismus“ vor. Durch seine ebenso allseitige wie stillschweigende Infusion hat der Positivismus unsere Epoche buchstäblich erschaffen, das heißt, er schuf ihren Wahnsinn. Als Patrick Zylberman ein Plädoyer für die Krisenverwaltung der Regierung – Wuhan vergessen – veröffentlicht, wobei es ihm offensichtlich darum geht, die linksgerichtete Leserschaft des Verlags in den biopolitischen Schoß zurückzuholen, kommt er nicht umhin, Comte zu zitieren und sich im „Wir Soziokraten sind eher Aristokraten als Demokraten“ des Positivistischen Katechismus wiederzuerkennen. Die von der Biokratie beanspruchte Sache ist im Gegensatz zur Sache der Biopolitik nie wirklich erloschen. Sie reicht von Comte bis Édouard Toulouse, polygrafischer Arzt der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, Gründer der Liga für Psychohygiene und der Vereinigung für sexualwissenschaftliche Studien, Erfinder der Berufsberatung und der Eignungstests in Frankreich auf der Grundlage einer einzigartigen Theorie der menschlichen „Biotypen“ und außerdem der Arzt von Antonin Artaud. Es wird gewöhnlich nicht erwähnt, dass eines der ersten Bücher, die Antonin Artaud 1923 veröffentlichte, eine Sammlung von Texten von Édouard Toulouse war. Doch die Biokratie ist vor allem das Banner von Alexis Carrel, der 1912 den Nobelpreis für Medizin erhielt, 1935 mit Der Mensch, das unbekannte Wesen den philosophisch-medizinischen Bestseller erfand und vor allem ab 1906 und bis zu seiner Pensionierung 1939 beim Rockefeller-Institut angestellt war. Getreu der positivistischen „Wissenschaft vom Menschen“ seines Arbeitgebers sieht er deutlich, dass die Medizin „der modernen Gesellschaft Ingenieure zur Verfügung stellt, die die Mechanismen des menschlichen Wesens und seiner Beziehungen zur Außenwelt kennen“. Er schlägt vor, die gesellschaftlichen Klassen durch biologische Klassen zu ersetzen. „Die Errichtung einer biologischen Erbaristokratie durch die Eugenik wäre ein wichtiger Schritt zur Lösung der großen Probleme der Gegenwart.“ Im Übrigen „sollten vielleicht Heiratskandidaten zu einer medizinischen Untersuchung verpflichtet werden“, denn „niemand sollte ein Individuum mit erblichen Defekten heiraten. […] Kein Mensch hat das Recht, einem anderen Menschen ein Leben in Elend zu geben“. Dieses Wohlwollen war übrigens auf beiden Seiten des ideologischen Spektrums so verbreitet, dass Henri Sellier, der Gesundheitsminister der Volksfront, gleich in seiner ersten Ministererklärung 1936 donnerte: „Es ist dringend notwendig, die Rasse gegen ihre sichere Entartung und Zerstörung zu verteidigen, die die bedauerlichen Statistiken der Geburten, der Krankheit und des Todes erkennen lassen. […] Und wenn ich die Geburten erwähne, meine ich die wünschenswerten Geburten. Frankreich hat zu viele Erbsyphilitiker, Rachitiker, Rückständige und Abnormale, deren Existenz, ebenso beschwerlich für sie wie für die anderen, die Krankenhäuser, die Irrenanstalten und die Gefängnisse überlastet.“ Gewappnet mit der ganzen Aura seiner amerikanischen Karriere bei den Rockefellers, seines Nobelpreises und seines Bestsellers, bekam Carrel vom Vichy-Regime eine Stiftung angeboten, deren „Direktor“ er wurde. Diese „Französische Stiftung zum Studium menschlicher Probleme“ beanspruchte für sich das Ziel der „allseitigen Untersuchung der Maßnahmen, die am besten geeignet sind, die französische Bevölkerung in all ihren Aktivitäten zu bewahren, zu verbessern und zu entwickeln“. Sie beschäftigte den Stadtplaner Le Corbusier, den Sozialpsychologen Jean Stoetzel, die Gynäkologin Cécile Goldet, die später am Aufbau der französischen Bewegung für Familienplanung beteiligt war, den Polytechniker Jean Bourgeois-Pichat, der einmal den Vorsitz der Pariser Gesellschaft für Statistik übernehmen sollte, und vor allem den Wirtschaftswissenschaftler François Perroux, ein Rockefeller-Stipendiat und unkonventioneller Geist, der bereits in den 1930er Jahren ein Vorwort für den neoliberalen Ludwig von Mises schrieb, Vorlesungen bei Freud besuchte, Raymond Barre ausbildete, häufig mit dem Nazi-Juristen Carl Schmitt und dem Personalisten Emmanuel Mounier verkehrte und seine Freundschaft mit dem portugiesischen Diktator Salazar nie verleugnete. Die lange übersehene Carrel-Stiftung kann mit Fug und Recht als eine der Urahnen der französischen Sozialwissenschaften der Nachkriegszeit angesehen werden. Ihr gehöriges Vermögen wurde 1945 zur Gründung des Nationalen Instituts für Bevölkerungsstudien verwendet. So viel zum Thema Statistik.
Das Interesse, zur Erhellung der Gegenwart auf Comtes Wahnsinn zurückzukommen, liegt darin begründet, dass es gerade die vergessenen Programme sind, die am besten verwirklicht werden. Die Gegenwart verdeckt durch ihren zersplitterten, ereignisorientierten und widersprüchlichen Charakter die Kohärenz ihrer treibenden Tendenzen. Die Rockefeller-Stiftung entwickelte und finanzierte ab den 1950er Jahren das Modell der vertikalen Integration von Bauernhöfen bis hin zu Lebensmittelfabriken, das die Grundlage des Agrobusiness bildet. Ab den 1940er Jahren exportierte sie das katastrophale amerikanische Landwirtschaftsmodell unter dem Titel der „Grünen Revolution“ nach Mexiko, bevor sie den Rest Südamerikas und Indien in Angriff nahm. Seit 2006 macht sie sich zusammen mit der Bill & Melinda Gates Foundation an die Vernichtung dessen, was von der Subsistenzwirtschaft Afrikas noch übrig geblieben ist, indem sie dort massiv gentechnisch veränderte Organismen (GVOs) und Pestizide einführt, immer unter dem Deckmantel der „Grünen Revolution“. Im Juli 2021 veröffentlicht sie einen Bericht, in dem sie behauptet, alle „versteckten Kosten“ des von ihr stets propagierten Agrarmodells in den USA aufzudecken: die Klimaerwärmung, das Artensterben, die Vergiftung der Luft, des Wassers und der Böden, chronische Krankheiten – alles ist dabei. Angesichts dieser Notlage schließt sie sich mit dem WEF in Davos und den Vereinten Nationen zusammen, um so schnell wie möglich eine neue Agenda für die Landwirtschaft ins Werk zu setzen, die auf Genveränderung, synthetischer Fleischproduktion in Fabriken, Big Data und neuen GVOs beruht. Reset the table, lautet ihre schneidige Ankündigung. Ohne das Konzept der „Biokratie“ ist es schwer, den Zusammenhang dieser verheerenden Machenschaften zu verstehen und anzuerkennen, der sich hinter Kehrtwendungen, Leugnungen und gekünsteltem Bedauern verbirgt.
Alex Pentland, der behavioristische Guru aus dem Silicon Valley, zitiert Comte schon ab der dritten Seite seines Bestsellers Social Physics – „Sozialphysik“ ist nichts anderes als Comtes ursprünglicher Name für das, was er später „Soziologie“ nannte. Der Junge scheut sich übrigens nicht, uns in seinem Buch nach zweieinhalb Jahrhunderten noch einmal den Streich mit dem Laplace’schen Dämon zu spielen: „Wenn wir einen ‚allwissenden Blick‘ hätten, eine höchste Vision, dann könnten wir zu einem wirklichen Verständnis davon gelangen, wie die Gesellschaft funktioniert, und die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Probleme zu beheben […] Wir können diesen Austausch nutzen, um einen sozialen Druck zu erzeugen, der zu Verhaltensänderungen führt.“ In einem Interview aus dem Jahr 2014 mit dem Titel „Der Tod der Individualität: Was unser Handeln wirklich steuert“ erklärt derselbe Pentland: „Der einzigartige Faktor, der den Erwerb neuer Verhaltensweisen am stärksten anregt, ist der Gruppendruck. […] Anstelle von individueller Vernunft scheint unsere Gesellschaft von einer kollektiven Intelligenz regiert zu werden, die dem Strom von uns umfließenden Ideen und Vorbildern entspringt.“ Ohne den Begriff „Soziokratie“ ist es äußerst schwierig zu begreifen, in welche ausweglose Falle man uns führen will. Denn die Klugscheißer à la Pentland wissen genau, dass niemand die Reise, die sie uns vorschlagen, antreten würde, wäre das Ziel bekannt. Comte hat mit seinem systematischen Wahnsinn zumindest das Verdienst, uns ein Bild davon zu zeichnen. Um das Unglück unserer Zeit zu vollenden, musste es ein holländischer Kybernetik-Ingenieur bei Philips so weit treiben, einen ganz eigenen Begriff von „Soziokratie“ zu erfinden. Eine Version, die so cool ist wie die alte eiskalt und derzeit ein Renner unter den Linken, denen es niemals an einem Managementschwindel mangelt, in den sie sich kopfüber und voller Begeisterung stürzen können. Diese neue „Soziokratie“ stellt sich ohne Witz als eine Methode der „gemeinsamen Führung“ vor, „die es einer Organisation ermöglicht, effektiv nach einem selbstorganisierten Modus zu funktionieren“.
William Bainbridge, der Organisator des Gründungsbanketts der NBIC-Konvergenz, sucht seit den 1980er Jahren unermüdlich nach Formen, welche die transhumanistische Religion annehmen könnte, da er diese für notwendig hält, um sein gesellschaftliches, technologisches und metaphysisches Programm zu verwirklichen. In New Religions, Science and Secularization (1993) wandte er sich an seine religionssoziologischen Kollegen: „Ich schlage vor, dass wir zu Religionsingenieuren werden. […] Soziologen, die in anderen Bereichen arbeiten, scheuen sich nicht davor, Maßnahmen zu ergreifen, die praktische Konsequenzen haben. […] Auch wir müssen bereit sein, eigens von uns erdachte Kulte zu initiieren, eine Aufgabe, die sich, wie ich sagen muss, für das Wohlergehen desjenigen, der sie ins Werk setzt, als gefährlich erweisen kann und die in den Augen derer, die sich weigern zuzugeben, dass alle Religionen menschliche Schöpfungen sind, skandalös ist. Aber es ist bei weitem besser, wenn die Schaffung neuer Religionen von ehrlichen Religionsingenieuren übernommen wird, die sich für die Verbesserung der Menschheit einsetzen, als von Verrückten und geldgierigen Betrügern.“ In einem Text aus dem Jahr 1981, Religion for a Galactic Civilisation, machte er bereits folgende Beobachtung: „Diejenigen, die möglicherweise eine Kirche des Galaktischen Gottes gründen möchten, werden Szenarien für angemessener halten, die neue Religionen beschreiben, Kulte, die tatsächlich entstehen könnten und die, wenn sie erfolgreich sind, die öffentliche Politik in Richtung Wissenschaft und Technologie lenken könnten.“ Welch eine Hartnäckigkeit hier an den Tag gelegt wird! Wenn Ray Kurzweil, der Papst des Transhumanismus bei Google, mit Bainbridge konvergiert und sagt: „Ja, gewiss, wir brauchen eine neue Religion“, dann wird klar, dass weder Comte noch der Positivismus tot sind. Ihr Programm wird bereits in die Tat umgesetzt. Wir werden sehr buchstäblich von den Toten regiert. Das erinnert uns daher an den Brief von Comte an einen seiner polytechnischen Schüler: „Man muss die Masse der Konservativen oder Rückwärtsgewandten als das wahre Milieu des Positivismus betrachten […]. Der Positivismus wird für sie die einzige systematische Verteidigung der Ordnung gegen kommunistische oder sozialistische Subversionen werden.“
Nach der Lektüre von Der Mensch, das unbekannte Wesen schrieb Antonin Artaud 1936 aus Mexiko einen Brief an Carrel. Er sagte ihm, oder vielmehr spuckte ihn an: „An dem Punkt, an dem wir angelangt sind, kann uns nur eine systematische, wilde Zerstörung aller Errungenschaften der Wissenschaft retten, und damit meine ich die Rettung des Lebens der Menschen, an dem wir alle teilzunehmen aufgehört haben. Ja, nur eine Große Bestrafung, die uns für eine gewisse Zeit die Erträge der Zivilisation entzöge, kann uns wieder das Leben lehren, denn die Wahrheiten, die Phänomene, die Gewissheiten, die die Wissenschaft uns gibt, sind usurpierte Wahrheiten. […] Die missbräuchlichen Perversionen der Wissenschaft können nicht durch die Wissenschaft geheilt werden. […] Zu viele Wissenschaftler haben begonnen, Krankheiten unter dem Mikroskop zu betrachten, und der Sinn für das kranke Gesicht, das wie eine verborgene Sonne brennt, ist auf ewig in die Vorhölle des Bewusstseins hinabgestiegen.“
40 Jahre später schreibt Erwin Chargaff, nach einer zunehmend enttäuschenden Karriere als Biochemiker, einen offenen Brief an den Chefredakteur von Science. Die neuesten „Fortschritte“ der Molekularbiologie sind ihm ein Gräuel. Er, für den die Massaker von Hiroshima und Nagasaki das Ansehen „der Wissenschaft“ für immer getrübt haben, warnt vor den „Gefahren der genetischen Bastelei“: „Kein Rauchvorhang, kein Hochsicherheitslabor des Typs P3 oder P4 kann einem Forscher die Absolution erteilen, wenn er auch nur einem seiner Mitmenschen Schaden zufügt.“ In seiner Autobiografie ergänzt er in Bezug auf die USA und die zeitgenössische Forschung: „Es ist mir absolut unmöglich, gutzuheißen, was heute praktiziert wird, denn ich bin davon überzeugt, dass wir mit unseren Methoden der Organisation und Finanzierung der Wissenschaft auf dem besten Weg sind, diese endgültig zugrunde zu richten. Wenn wir so weiter machen, werden wir das Konzept der Wissenschaften, wie es sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, bald vollständig ausgelöscht haben. […] Dieses Land hat schon immer dazu tendiert, jeden Ballon aufzublasen, bis er platzt, und genau das hat es mit den Wissenschaften getan.“ (Erwin Chargaff, Das Feuer des Heraklit, 1979)
Und tatsächlich hat die Biomedizin schließlich die Medizin verschlungen.
Die Molekularbiologie kann nicht mehr aufhören, die materielle Umsetzung von Prozessen zu beobachten, die ihr entgleiten und für die sie nicht einmal eine Grammatik hat, da sie sich selbst jeden Zugang zu der Ebene versperrt hat, auf der diese ablaufen. Sie ist stolz darauf, mittels Deep Learning und neuronaler Netze die Form von Proteinen dreidimensional simulieren zu können, ohne auch nur das Geringste davon verstehen zu müssen.
Kaiser Tiberius sagte, dass jeder mit 30 Jahren sein eigener Arzt sein sollte.
Wie man in der Toskana sagt: „Lascia che la morte ci trova vivente!“ – Möge der Tod uns lebendig finden!