3. Das Virus der Sezession und das sich entwickelnde Schisma
Die Katalanen haben genug von Spanien und seinen verschimmelnden Bourbonen, seiner Guardia Civil und seiner inquisitorischen Leidenschaft. Sie schaffen sich eine bis ins letzte Bergdorf verzweigte Untergrundorganisation, um das ihnen verweigerte Unabhängigkeitsreferendum illegal abzuhalten. Sie haben auch genug von den Tausenden von Windrädern, mit denen man ihr Hinterland verschandeln will, um es besser dem europäischen Stromnetz zu unterjochen.
Hongkong verabscheut seine Annexion durch das chinesische Imperium, das seinerseits den Separatismus zu seinem wichtigsten inneren Feind erklärt, der die Internierung von einer Million Uiguren rechtfertigt.
In den USA ist in diesem Herbst 2021 der Big Quit angesagt: Seit Beginn des Frühjahrs 2021 haben 20 Millionen Amerikaner ihre Kündigung eingereicht, allein im August waren es 4,3 Millionen. Das gab es noch nie, seit es Statistiken über Kündigungen gibt. Die Lust am Dienen geht verloren. Man hat es satt, so schlecht bezahlt, so schlecht behandelt und so schlecht angesehen zu werden. Lieber weggehen.
In Frankreich erstickt man schon lange in den Metropolen und man sieht die Deserteure aus den Städten ins Land und in die Kleinstädte strömen. Manchmal allein, manchmal paarweise, manchmal in Trauben.
Wenn man, wie es Larry Page tat, eine Überflussgesellschaft verspricht, in der die Arbeit zu einer „abwegigen“ Erinnerung wird, und in der jeder ein Künstler sein will, wenn „man dafür sorgt, dass die Menschen zu erstklassigen Forschungsobjekten werden“, dann kann es passieren, dass sie sich am Ende selbst für bemerkenswert halten, für besser als ihre Knechtschaft. Die jobs sind bullshit geworden, die Arbeit vergiftet, seit das Durchschnittsniveau der Verfeinerung der Subjektivität sich von der Masse der verbleibenden, meist erniedrigenden, parasitären oder sogar schädlichen Lohnarbeit endgültig abgekoppelt hat. Das Internet und die sozialen Netzwerke wecken bei jedem, der in der Jugend eine besondere Empfindsamkeit entdeckt – und die Jugend dauert heutzutage, weiß Gott, fast das ganze Leben –, das Gefühl, dass sie ihre Richtigkeit hat und zeigen Wege auf, diese zu entwickeln. Wer normalerweise in seinem engstirnigen Umfeld versauert wäre, findet hier Komplizen oder wenigstens ihm Ähnliche. Er ist nicht allein. Er hat eine Existenzberechtigung. Mit dem Internet und den sozialen Netzwerken sieht sich die gesellschaftliche Ordnung mit einer Bedrohung konfrontiert, die nicht in der überbordenden Meinungsfreiheit oder in der Lawine von Gegen-Wahrheiten besteht, sondern in der Pluralisierung der Lebensregeln und der Vervielfachung der Wahrheitssysteme. Und das ist noch viel schlimmer.
Es wird also desertiert und geflüchtet, in alle Richtungen und von überall her.
Es müssen mit aller Dringlichkeit Netze ausgebreitet werden, um die Deserteure zurückzuhalten.
Lohnnetze, Polizeinetze, Mediennetze, rechtliche Netze, diskursive Netze, institutionelle Netze, kybernetische Netze.
In Frankreich wird ein Gesetz gegen den Separatismus verabschiedet.
Man droht, ohne jede Glaubwürdigkeit, mit dem islamistischen Terrorismus, um eine weitaus diffusere Bereitschaft zur Sezession zu bekämpfen. Hoover und sein FBI hatten diesen Vorstoß bereits in den 1930er Jahren ausgeführt: Sie veranstalteten mitten in der Wirtschaftskrise eine große Jagd auf Gesetzlose, um dadurch die Unterdrückung jedes Keims einer breiten Revolte zu verschleiern.
Man nutzt die Gelegenheit, um die Ränder auszumerzen, die man immer hatte bestehen lassen, wie nun den Heimunterricht – nicht, ohne gleichzeitig das öffentliche Bildungswesen zu zerstören. Man sagt sich, dass eine verblödete Jugend weniger zur Rebellion neigt oder weniger für sie gerüstet ist.
Die Vereine werden wie nie zuvor polizeilich überwacht – die armen Vereine, die nie auf die Idee gekommen waren, dass irgendeine Macht sie jemals mit Argwohn betrachten könnte, da ihnen ihr Legalismus ebenso angeboren zu sein scheint wie ihr Republikanismus. Doch in dem Moment, in dem die gesellschaftliche Ordnung ihre Erpressung verstärkt und alles zurücksetzen will, stellt die kleinste Abweichmöglichkeit, wie harmlos auch immer, die geringste Andersartigkeit, wie gemäßigt auch immer, eine gegnerische Bedrohung dar. Plötzlich werden einfache Nischen wie die beliebten Vereinigungen für die Erhaltung einer bäuerlichen Landwirtschaft (AMAP), Sicherheitsventile wie die Sozial- und Solidarwirtschaft oder die informellen Netzwerke zur gegenseitigen Unterstützung verdächtig.
Alle Schlupflöcher müssen so schnell wie möglich zugemauert werden. Darin besteht die sektenartige Struktur dieser Gesellschaft. Die ätherischen Lavendelöle, die man seit der Antike destilliert, werden schlagartig als unerhört gefährlich eingestuft, sobald jemand darin eine Alternative zum Pharmaimperium sucht.
Das geht so weit, dass sich sogar der gutmütige Gründer der Permakultur über die „Verteufelung derjenigen“ sorgt, „die sich dem Plan widersetzen“. (David Holmgren, Pandemisches Brüten, September 2021)
Das geht so weit, dass einige der bürgerlichsten Vereinigungen, wie jene zur Bewahrung des traditionellem Saatguts, zu einem „fruchtbaren Aufstand“ aufrufen.
Die Demokratien wissen nicht mehr, wie sie bekannt geben sollen, dass sie letztlich keineswegs gedenken, ihr Versprechen zu halten, nach dem jeder seine Lebensform wählen und sich darin entfalten kann.
Überall eine Anspannung der Mächte. Die chinesische Regierungsweise ist ihr Polarstern.
Wo jede Unschuld schwindet, bleibt nur der reine Gehorsam, das heißt der Terror.
Und je mehr sich die Mächte anspannen, je „realistischer“ die Demokratien werden, je mehr sie sich mit ihrem biopolitischen Absolutismus brüsten, desto mehr Desertionen rufen sie hervor.
Die Gesellschaft hat sich, indem sie ihre Türen schloss, zu einer getrennten Wirklichkeit, zu einer fremden Entität geformt. Sie hat uns innerlich von ihrer Schwerkraft befreit.
Man hat seit 1944 keine so verbreitete, bis in die am wenigsten „marginalen“ Kreise reichende Bereitschaft gesehen, Dokumente zu fälschen, wie seitdem man bei jeder Gelegenheit einen PCR-Tests verlangt.
Je mehr die Macht die Regeln eines an sich schon abwegigen Lockdowns bis ins Absurde verfeinert haben, desto mehr entdeckten noch die besten Staatsbürger bei sich die Seele eines Quasi-Maquisards.
Nicht, dass wir um uns herum nicht auch zur Kollaboration Berufene entdecken mussten.
Die vergangenen zwei Jahre haben eine ganze neue, gänzlich ungeahnte Landschaft hervortreten lassen: Spazierwege, auf denen Sie keine Polizeipatrouille verscheuchen wird, der stillgelegte kleine Gürtel rund um Paris, wo sich diejenigen trafen, die nicht vorhatten, ihr Leben wegen gesundheitlicher Demenz aufzugeben, Bars, die mit uns sind und nicht nach dem „Pass“ fragen, solche, die klandestin öffnen, die Vorstädte, in denen all diese neuen Normen milde belächelt werden, die Städte und ländlichen Gebiete, in denen sie nicht greifen, die Dörfer, in denen man Feuerwehrleute und Angestellte unterstützt, die sich weigern, sich impfen zu lassen, Ärzte, die missbilligte Behandlungen durchführen, und Krankenpfleger, die Spritzen in die Luft setzen.
Selbst im sonst so disziplinierten nationalen Bildungswesen gibt es Rektorinnen, die wegen des den Kinder in den Klassenzimmern, Höfen und Fluren zugemuteten Schicksals in Tränen ausbrechen.
Portugal, Portal einer Schule. „Küsse und Umarmungen? Verschiebe das auf dein nächstes Leben. Im Real Life halten wir die soziale Distanzierung aufrecht.“
Während die einen unzugänglicher und fieser werden als je zuvor, scheinen die anderen so mürbe geworden zu sein wie die globalen Logistikketten. Zusätzlich zur Knappheit an Holz, Spielzeug, Fahrrädern oder Mikrochips kündigen sich subjektive Mängel an.
In die gesellschaftlichen Rollen schleicht sich ein gewisser Marranismus ein.
Man erfindet und experimentiert mit einem vollständigen nicht-gesellschaftlichen Leben.
Es ist ein Schisma am Werk, das sich immer weiter vertieft. Eine Teilung, die keiner von außen anerkannten oder erkennbaren Linie folgt.
Da sie aus der Erfahrung wissen, mit wem sie es zu tun haben, neigen die Armen, die ehemals Kolonisierten und diejenigen, die von der Kultur verschont geblieben sind, eher zum Konspirationismus. Aber keine gesellschaftliche Kategorie bleibt verschont. Es gibt keine äußerlichen Kriterien, Charakterzüge oder sichtbaren Attribute, die mit Sicherheit vorhersagen lassen, wer sich auf welche Seite schlagen wird.
Diejenigen, die am stärksten entfremdet schienen, erweisen sich plötzlich als die Freiesten.
Diejenigen, die man für besonders gesetzestreu hielt, sind zu den verwerflichsten Gesetzesbrüchen bereit.
Der historische Bruch folgt den intimsten Bruchlinien im Inneren der Menschen.
Unbekannte oder Kollegen werden mit äußerster Vorsicht sondiert.
Man erkennt denjenigen, mit dem man noch sprechen kann, an einem Tonfall, einem Wort, an einer flüchtigen Miene. Denjenigen, dem man seine „Zweifel“ noch anvertrauen kann.
Das erinnert an die Anfänge der Résistance, als die Lager noch nicht festgeschrieben waren, als sich die Karikaturen der offiziellen großen Erzählung noch nicht über das Sfumato der menschlichen Empfindungen gelegt hatten.
Als im Juli 1940, nach der deutschen Invasion, eine zukünftige Widerstandskämpferin des Netzwerks des Musée de l’Homme, Agnès Humbert, bei ihrer Rückkehr nach Paris notierte, dass die Menschen in ihrer Umgebung „nicht mehr die gleichen sind. Sie haben eine diskrete, verschlagene Miene angenommen, eine gewisse, unbestimmbare Zufriedenheit, noch am Leben zu sein“ – ein Kleinigkeit also, aber eine entscheidende Kleinigkeit.
Als der Chef eines kleinen Unternehmens den untergetauchten Kommunisten die Rohre lieferte, in die sie ihren Sprengstoff mit Zeitzünder stopfen konnten.
„Das Leben der neuen Menschheit findet in der Revolution statt, die Revolution wird aus dem Schisma geboren“, schrieb Amadeo Bordiga, der die Kommunistische Partei Italiens gründete, bevor er ihr eloquentester Kritiker wurde, am Ende seines Lebens in seinem Artikel Die Zeit derer, die dem Schisma abschwören.
Das ist das große Verdrängte in der Geschichte der Revolutionen, ihr großer Skandal.
Die Revolutionen wollten nie „das Wohl der Menschheit“ erreichen – was auch immer ihre großen, zweckdienlichen Erklärungen gewesen sein mögen.
Wer „das Wohl der Menschheit“ herbeiführen will, führt ein Sanatorium und keine Revolution herbei.
Revolutionen wollten immer mit einer Existenzform Schluss machen, mit einer Art von Menschheit, die erstickend geworden war.
Es gibt keine nette Revolution.
Die Kläffer der bestehenden Ordnung behaupten, dass es auf der einen Seite die „Altruisten“ und auf der anderen die „Egoisten“ gibt.
Es mag sein, dass die Dinge etwas subtiler sind und diese Kategorien nicht die treffendsten sind.
Es mag eher sein, dass es zwei Weisen gibt, sich mit der Welt und den anderen zu verbinden, die sich gerade scheiden.
Ein Artikel des bedeutenden Linguisten Émile Benvéniste mit dem Titel Zwei linguistische Modelle der Stadt erhellt diese Unterscheidung. Er geht von dieser elementaren Bemerkung aus: Es wird angenommen, dass das lateinische Abstraktum civitas (Stadt) sich aus civis ableitet, das man im Allgemeinen mit citoyen (Bürger) übersetzt. Aber wie, fragt er, können wir civis mit citoyen übersetzen, also mit dem, „der an der Stadt (cité) teilhat“, wenn sich in Wirklichkeit cité von civis ableitet? Der Bürger kann, in guter Logik, der Stadt nicht vorausgehen. Er geht dann alle klassischen Verwendungen des Wortes civis durch und stellt fest, dass diesem immer ein Possessivpronomen vorangeht. Man benennt einen civis nur aus einem bestimmten Blickpunkt, ausgehend von einer einzigartigen Erfahrung, einer gemeinsamen Ebene der Teilhabe. „Man ist der civis eines anderen civis, bevor man der civis einer bestimmten Stadt ist.“ Äußerstenfalls könnte man civis mit „Mitbürger“ übersetzen, wenn uns das nicht nebenbei die civitas zurückbringen würde. „So ist die römische civitas zunächst die unterscheidende Eigenschaft der cives und dann die von den cives gebildete, summarische Gesamtheit. Diese ‚Stadt‘ verwirklicht eine umfassende Vergemeinschaftung; sie existiert nur als Summierung.“ Das genaue Gegenteil des griechischen Modells: Im Griechischen stammt politès (Bürger) zweifellos von polis (Stadt) ab. Die Stadt geht ihm logisch, sprachlich und politisch voraus. „Im griechischen Modell ist das erste Merkmal eine Entität, die Polis. Diese, der abstrakte Körper, der Staat, die Quelle und das Zentrum der Autorität, existiert für sich selbst. Sie verkörpert sich weder in einem Gebäude, noch in einer Institution, noch in einer Versammlung. Sie ist unabhängig von den Menschen. […] Im lateinischen Modell ist der primäre Begriff derjenige, der den Menschen in einer bestimmten gegenseitigen Beziehung qualifiziert, civis. Er erzeugte die abstrakte Ableitung civitas, den Namen eines Kollektivs. Im griechischen Modell ist der primäre Begriff der der abstrakten Einheit, polis. Er brachte die Ableitung politès hervor, das den menschlichen Teilnehmer bezeichnet. Diese beiden Begriffe, civitas und polis, die in der Darstellung des traditionellen Humanismus so nahe beieinander liegen, gleich aussehen und sozusagen austauschbar sind, werden in Wirklichkeit einander gegenläufig konstruiert […] Die Entdeckung der gesamten lexikalischen und konzeptionellen Geschichte des politischen Denkens liegt noch vor uns.“ (Émile Benvéniste, Probleme der allgemeinen Linguistik, 1974)
Die Gesellschaft von Comte und der Soziologie, die Gesellschaft all unserer Ingenieure, Politiker und Philanthropen, ist die griechische Polis, die abstrakte Entität, von der wir alle ausgehen sollen, die gegenüber jedem Einzelnen die Vorrangstellung hat und der wir uns aus Eigeninteresse fügen sollten. Es ist die Gesellschaft, die sich aus all unseren Interaktionen nährt, um sich dann gegen uns zu stellen, uns gegenüberzutreten und uns zu beherrschen. In der Tat und immer stärker regiert die Gesellschaft die Toten. Aber es gibt eine andere Art, die kollektiven Realitäten zu gestalten, die das Individuum nicht der gesellschaftlichen Totalität gegenüberstellt, um es besser zu unterwerfen, die von den die Wesen nährende Verbindungen ausgeht und auf diesen aufbaut. Das derzeitige Schisma betrifft genau das: Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die dabei sein wollen, und auf der anderen Seite diejenigen, die schon da sind. Auf der einen Seite gibt es das Angebot einer Zugehörigkeit zu möglichen abstrakten Entitäten und allen daraus resultierenden Identitäten – man ist Franzose, weil man zu Frankreich gehört, man ist Mann, weil man zum männlichen Geschlecht gehört, man ist Soldat, weil man zur Armee gehört. Auf der anderen Seite gibt es die Teilhabe an der Welt und die Erfahrung, in der sich diese Teilhabe ausprägt. Wer heute von seiner singulären Erfahrung ausgeht, wer es wagt, von dort aus „ich“ zu sagen, und nicht, um den Monolog der Identitäten zu bauchpinseln, gilt als Exzentriker, Provokateur oder sogar als Unruhestifter. Die freie Meinungsäußerung ist davon abhängig, dass man „als“ dies oder jenes spricht, d.h. unter Beachtung der gesellschaftlichen Identitätspolizei. Dies ist im Übrigen die beste Methode, für Ruhe zu sorgen. Nur wenige, wie die Black Panthers, haben es eine Zeit lang geschafft, die ihnen zugewiesene Identität zu unterwandern, sie als Schutzschild zu benutzen und dann offensiv umzukehren. Die allgemeine Neigung ist dieses teuflische Bedürfnis, seine Existenz an ein Großes Wesen anzulehnen, damit man sich zum Ausdruck berechtigt fühlt. Die Herrschaft der Bildschirme, der digitalen Profile und der sozialen Netzwerke verschafft dieser Ohnmacht, da zu sein, eine Gelegenheit zur souveränen Selbstbehauptung. Zugehörigkeit fungiert dann als Ersatz für Teilnahme und Identität als Ersatz für Erfahrung. Sie sind der Stoff, der das wirkliche Bedürfnis auf falsche Weise befriedigt und es schließlich denunziert.
Das Schisma besteht also zwischen zwei Arten von „Wir“. Das repräsentative „Wir“ derjenigen, die ein Attribut teilen – Schweizer, Polizist, Jäger, LGBTQIA+, etc. –, vermöge dessen sie Repräsentanten, Abgeordnete, Sprecher, Ikonen, Rechte oder Gewerkschaften haben können, und das erfahrungsbasierte „Wir“ derjenigen, die ein Erlebnis teilen und sich im Sprechen, in einer Geste oder in der Geschichte von jemandem wiederfinden. Überall in dieser Zeit werde die repräsentativen „Wir“ von den erfahrungsbasierten „Wir“ überschwemmt, die so plastisch, so instabil, aber so kräftig sind. Die Bewegung der Gelbwesten ging typischerweise von einigen viral gegangenen Videos von Einzelpersonen aus, die sich allein vor der Kamera zum Ausdruck brachten, deren Worte jedoch die gemeinsame Erfahrung wiedergaben. Sie minderte keinesfalls die Herausbildung eines erfahrungsbasierten „Wir“ von seltener Intensität, das verlangte, all jene gnadenlos zu verschlingen, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt zu seinem Vertreter machen wollten. Die repräsentativen „Wir“, auf denen diese Gesellschaft aufgebaut ist, verstehen diese historische Eruption der experimentellen „Wir“ nicht. Sie sind darüber buchstäblich entsetzt, traumatisiert und empört. Eine Studie von Harvard-Forschern aus dem Jahr 2013 über die chinesische Zensur hat gezeigt, dass selbst scharfe Kritik am Staat oder an der Partei nicht besonders stark zensiert wird. Was hingegen systematisch zensiert wird, sind Veröffentlichungen, bei denen das geringste Risiko besteht, dass sie zu kollektiven Aktionen anregen, insbesondere, wenn sich diese Bereitschaft zum Handeln und die entsprechenden IP-Adressen im selben geografischen Gebiet konzentrieren. „Der Zensurapparat scheint die Passivität der Bevölkerung über alles zu schätzen – und überraschenderweise sogar dann, wenn es so aussieht, als würden die Betroffenen eine regierungsfreundliche Aktion organisieren wollen. Die Sorge der Regierung könnte wie folgt formuliert werden: ‚Wenn die Bevölkerung lernt, sich zu mobilisieren, auch wenn sie dies mit dem Ziel tut, uns zu unterstützen, wer weiß, was sie dann noch versuchen wird‘“. (Zeynep Tufekçi, Twitter & Tränengas, 2019)
In den vergangenen Jahren hat die Staatsmacht in Frankreich immer wieder mit neuen Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen Polizei und Bevölkerung experimentiert, um die Basis ihrer territorialen Kontrolle zu erweitern – das sind die Programme „Wachsame Nachbarn“, „Bürgerbeteiligung“, die DEMETER-Zelle zusammen mit dem FNSEA oder die Jäger, die als Hilfskräfte der Gendarmerie rekrutiert werden.
Separatismus, Primat der Erfahrung, territoriale Konzentration – die tiefsitzenden Ängste der Macht sind unsere besten strategischen Hinweise.
Das weitere Vorgehen lässt sich daraus leicht ableiten.