4. Theorie der Eindämmung
Im März 2020 wurde uns keine Quarantäne auferlegt; wir wurden mit einer Eindämmung belegt.
Ein Unterschied im Umfang und in der Tonlage.
Eindämmung ist die offizielle Doktrin Frankreichs für den Umgang mit schweren nuklearen Unfällen. Wenn ein Übermaß an Radioaktivität aus dem Reaktorkern entweicht, müssen sich die Menschen zu Hause einschließen. Nicht aus „gesundheitlicher“ Sorge: Wir vermuten stark, dass die Corps de mines, die ihre Mitmenschen mit der atomaren Gefahr belasten, andere Sorgen haben als das Wohlergehen ihrer Mitbürger. Wenig überraschend erfährt man in einem Bericht aus dem Jahr 2007, der von einem Experten des Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit verfasst wurde, dass „das erste Opfer eines nuklearen Unfalls die französische Wirtschaft ist“. Der Zweck der Eindämmung besteht auch hier darin, die Auswirkungen einer Massenpanik zu verhindern, die Kontrolle über die Bevölkerung zu behalten und die Steuerung des Systems zu sichern. Die Atomkraft gehört, da sind wir uns einig, zu den Dingen, über die man lieber nicht nachdenkt. Sonst lässt man alles bleiben. Sie gehört zu den Themen, von denen man sich besser fern hält, wenn man weiter funktionieren will. Den Eigentümer dieser Welt ist diese Ruhe nicht vergönnt. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken. Das ist ihre Erbsünde, ihr ständiger Kalter Krieg und der letzte Riegel, den sie jeder politischen Explosion, jeder Revolution vorschieben: Wie wollen Sie denn ohne uns Technokraten die Kraftwerke betreiben? Der Frühling 2020 in Frankreich ist nicht bloß als lebensgroße Probe für den unvermeidlichen Unfall zu verstehen, den die französischen Atombehörden nunmehr in aller Deutlichkeit vorhersagen. Die Eindämmung ist das Gesellschaftsprojekt, das die gegenwärtigen Meister zu ihrem Vorteil entworfen haben. Und so erstaunt es auch nicht, in einem Buch über Atomkraft, das im Sommer 2019 erscheint, ein Kapitel mit dem Titel Die Gesellschaft der Eindämmung zu finden.
„Die Atomindustrie hat neben der Chemie- und Kohlenwasserstoffindustrie, der Biologie, aber auch dem Bauwesen und sogar der Autoindustrie wesentlich dazu beigetragen, ein Disziplinarregime zu definieren und einzuführen, das eine fortgeschrittene Phase der Abkapselungs- und Kontrollpraktiken darstellt – eine Gesellschaft der Eindämmung. Die Menschen [die in ihr leben] erproben eine besondere Art von Isolation: Die ‚äußeren‘ Räume, die sie durchqueren, tendieren dazu, zu Innenräumen zu werden. […] Die Formel ‚U-Bahn, Arbeit, Schlaf‘ war vielleicht eine erste Intuition dieser neuen, fortwährenden Innerlichkeit, denn sie beschreibt eine Zirkulation zwischen Welten, die zwar untereinander offen sind, die aber zugleich ein in sich geschlossenes Universum bilden. Näher an der Zeit ist der vermeintliche Open Space, der, anders als sein Name es vermuten lässt, ein perfektes Beispiel für eine geschlossene Räumlichkeit ist. Seine geschlossene Innerlichkeit nimmt sich selbst als offen wahr, während sie in einem Labyrinth aus Trennwänden und schäbigen Grünpflanzen gefangen bleibt. Wenn man das Großraumbüro verlässt und auf den Parkplatz geht, um in ein Auto oder einen Bus zu steigen und nach Hause zu fahren, wann ist man dann wirklich ‚draußen‘? […] Anders gesagt: Selbst der Umstand, dass wir uns innerhalb der Welten verschieben, kann nicht mehr vergessen machen, dass wir in einem geschlossenen Raum ohne Türen und Fenster leben. Bleiben Sie zu Hause, halten Sie sich an die Anordnungen der Eindämmung und warten Sie auf Anweisungen. […] Das Ziel der Operation besteht in der vollständigeren Einkapselung, um jede Beziehung zur Außenwelt abzuschaffen, bis die Existenz dieses Anderswo vergessen wird. Da die Außenwelt nicht berührt und nicht einmal mehr abgebildet wird, tendiert sie dazu, sich zu entfernen und zu verschwimmen. Das kommt der Industrie gerade recht, denn während jedermann zwischen den verschiedenen normierten Sphären des Inneren navigiert, haben die industriellen Räuber ‚draußen‘ ein freies Feld, um Angriffe und Plünderungen zu organisieren oder, anders gesagt, ihre Projekte durchzuführen. Militärisch oder zivil, nuklear oder chemisch, die großen Eindämmer sind sich in jedem Fall einig“ (Die befreite Pariserin, Die Atomkraft ist am Ende, 2019)
Am 9. April 2020, inmitten der Eindämmung, bietet Netflix seinen französischen Kunden mit schwindelerregenden Geistesgegenwart eine „Einschließungs-Reality-Show“ an, die von einem englischen Original inspiriert ist. Es heißt The Circle Game. Darin wird eine Gruppe von „Spielern“ inszeniert, die jeweils eine Wohnung im selben Wohnblock beziehen. Sie können diese aber nicht verlassen oder einander treffen, sondern nur über ein soziales Netzwerk namens „The Circle“ kommunizieren, in dem sie nur über ein Profil verfügen. Keiner von ihnen kennt den anderen, so dass es jedem freisteht, nach Gutdünken zu simulieren, in aller Ruhe zu lügen und sich das „Profil“ auszudenken, mit dem man gewinnen kann. Denn es geht darum, dass die Spieler sich immer wieder gegenseitig bewerten, bis sich alle gegenseitig ausgeschaltet haben – bis auf den letzten, der den Preis von 100.000 Euro einstreicht. Bezaubernde Schakalmoral. Natürlich ist jede Wohnung mit Kameras gespickt, die es den Zuschauern ermöglichen, das Tun und Lassen der „Spieler“ auszuspionieren. Nur die Fernsehzuschauer haben eine Rundumsicht auf die wechselseitigen Manöver der anderen – auf ihre Selbstlügen und das Fremdbild, das sie nach außen vortäuschen. Die Zuschauer haben so alle Zeit, sich mit dem Ausmaß der menschlichen Tücke zu befassen, mit der Niedertracht der sozialen Beziehungen, dem Elend und dem Leid, in das uns die Herrschaft der Wirtschaft stürzt.
Der Wirbel, der um die Epidemie gemacht wurde, mit diesen weit aufgerissenen, angsterfüllten Blicken der mit Masken verschlossenen Gesichter, mit diesem sauren Traumbild von Milliarden schwebender Keime, die einen umzingeln, mit dieser mikrobiellen Aura, die selbst die Körper geliebter Menschen umgibt – summa summarum dieses allgemeine Übel –, ermöglichte die Verwirklichung der alten Anthropologie von Hobbes im Weltmaßstab: die des allseitigen Misstrauens, der universellen Feindseligkeit, des ausgesetzten Krieges aller gegen alle. Es ist dieser Krieg, der den Staat und die Wirtschaft so notwendig macht. The Circle Game sorgt in seiner Nachfolge für die Förderung des wirklichen kalten Kriegs, in dem wir tagtäglich stecken: die universelle Herrschaft der Berechnung, die sich das nicht eingesteht,
wo man sich gegenseitig hänselt,
wo man sich gegenseitig benutzt, indem man sich gegenseitig schmeichelt,
diese Struktur aus flüchtigen Verhältnissen und Wesen,
die letztlich an nichts und niemanden gebunden sind,
die sich davor fürchten, überhaupt auf irgendetwas festgelegt zu werden,
sich vor allem davor fürchten, eine zu scharfe Ansicht zu haben,
sich Feinde zu machen,
Gelegenheiten zu verpassen,
die Vorlieben und Meinungen haben, aber weder Liebe noch Hass,
die keine Treue kennen, nicht einmal sich selbst gegenüber,
und immer jeder Erklärung ausweichen,
mit dem Charakter, charakterlos zu sein,
sich tausend dürftige Lebensstrategien zusammen spinnen,
wo das Wort nichts zählt,
die sich für listig, opportunistisch und äußerst schlau halten.
Es ist eisig in dieser lauen Wärme.
Wie kalt muss einem im Innersten sein, wenn man so cool sein will!
Nur die äußerste innere Anspannung kann sich ein Ideal reiner Entspannung geben.
Dieser Art des Verhältnisses zu sich selbst, zur Welt und zu anderen, diese Art Mensch ist ein Produkt des Kalten Krieges, der Verriegelung von allem, der Unmöglichkeit eines offenen Konflikts. Er wurde von allen Seiten durchdacht. In The Circle Game verdichten sich alle Verhaltens-, Kognitions-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften, die gesamte Sozialpsychologie, die gesamte erstickende Epistemologie des kalten Krieges mit seinen Gefangenendilemmata, seiner Spieltheorie, seiner Mikroökonomie und seinen Akteuren, die nur „strategische Interaktionen“ kennen, die Geopolitik von Thomas Schelling und die begrenzte Rationalität von Herbert Simon. Nur ist das, was als realistisches Denken über zwischenstaatliche Beziehungen gedacht war, zum gewöhnlichen Zynismus zwischenmenschlicher Beziehungen geworden. Vor einigen Jahren schrieb eine amerikanische Mutter ein Buch, in dem sie empfiehlt, Machiavelli zu Rate zu ziehen, um Kinder zu „regieren“. Wir haben den Kalten Krieg nicht verlassen. Wir sind nicht aus der Zeit heraus, in der „die Harvard-Leute versuchten, eine von der Physik inspirierte Sozialwissenschaft zu schaffen, die in der Lage sein sollte, menschliches Verhalten zu erklären und vorherzusagen, ganz so wie die Physik die atomaren Phänomene aufgeklärt hatte. Das Manhattan-Projekt hatte sie inspiriert und sie konnten es kaum erwarten, sich selbst an der ‚Spaltung des sozialen Atoms‘ zu versuchen, wie Parsons es gerne nannte.“ (Kollektiv, Als die Vernunft fast den Verstand verlor, 2015)
Hinter Facebook und seinen behavioristischen In-Vivo-Experimenten an seinen Nutzern steht ausdrücklich die „gesellschaftliche Physik“ von Alex Pentland, ein würdiger Nachfolger jenes Skinner, der der CIA keinen Ratschlag verweigerte.
Hinter dem Versprechen von Google X, mit seinem Selfish Ledger – seinem „egoistischen Aktenordner“ – für unser Wohl unter der Bedingung zu sorgen, dass wir auf die dummen Fiktionen „Freiheit“ und „Privatsphäre“ verzichten, da Google uns dank seiner unendlichen Daten über unser Verhalten besser kennt als wir selbst, steht immer noch die gleiche manische Fantasie des Social Engineering, der gleiche Krieg um die Seelen, den der Behaviorismus zu seinem Kreuzzug gemacht hat.
Keine Klimaerwärmung wird dieses menschliche Packeis bewohnbar machen.
Die Propagierung katastrophaler menschlicher Beziehungen ist nur dazu gut, die Isolation wünschenswert zu machen. Sie ist die beste Propaganda für die Eindämmung – Eindämmung nicht mehr als Verfahren für den Notfall, sondern als Idee des Glücks. Als rein negatives Freiheitsideal gegenüber der Zudringlichkeit der anderen. Die Väter der Kybernetik formulieren ihre Utopie in den 1950er Jahren aus dem Herzen des kalten Krieges.
„Die Idee wäre, dass die meisten Menschen ihr Leben in engen Kästen aus Stahl verbringen. Die vier Wände wären Fernsehbildschirme, stereoskopische Bilder natürlich. Die Menschen könnten ihre Anwesenheit in jede andere Zelle verlegen, indem sie einfach eine Nummer wählen. Ebenso könnten sie eine Gruppe von Freunden in ihr Zimmer einladen. Hör zu – er drehte sich plötzlich fast trotzig um – heute muss man sich schon entschuldigen, wenn man jemanden berührt. Wenn man ihnen zu Hause ihre Nachbarn nachbildet, warum sollten sie sie dann im Haus nebenan besuchen? Ihr Kasten wird ihr Schloss sein.“ (Norbert Wiener)

Die 1950er Jahre werden im Allgemeinen als eine Zeit der kollektiven Psychopathologie beschrieben, mit ihrem McCarthyismus, dem Trend zu Atombunkern, entropiebesessenen Kybernetikern, den Hausfrauen auf Amphetaminen, die in Ekstase vor Waschmaschinen stehen, und dem Trauma des ersten russischen Satelliten im Weltraum, Sputnik, im Jahr 1957.
Aber solche Phasen sind niemals ein Zwischenspiel.
Sie verblassen nicht einfach, wie sie gekommen sind.
Sie bilden eine Schicht, auf der sich die nachfolgende Welt weiter aufbaut.
Sie erschaffen ihre Zeit, bis es einer Revolution gelingt, die Anhänger des Systems abzusetzen.
„Neue Erfindungen und Geräte dienen der Aufrechterhaltung, Erneuerung und Stabilisation der Struktur der alten Ordnung.“ (Lewis Mumford, Technik und Zivilisation, 1934)
Diese Welt hat nach den 1950er Jahren nicht aufgehört, sich zu drehen, da die, die sie beherrschen, nicht gestürzt wurden.
Hier geht es nicht nur darum, dass seither die Besitzer der Atombombe das Schicksal der Menschheit im Griff haben.
Auch nicht darum, dass es ihnen gelungen ist, mithilfe des engmaschigen Netzes von drohenden Katastrophen, die die „zivilen“ Kernkraftwerke darstellen, ganze Kontinente in Geiselhaft zu nehmen.
Die Welt selbst ist zu einem riesigen Manhattan-Projekt geworden.
Die Erzwingung der Zustimmung zu den neuen biotechnologischen Impfstoffen ist die Erzwingung der Zustimmung zu unserem Status als ohnmächtige Versuchskaninchen – und damit die Zustimmung zu dem riesigen Experiment, dessen Spielball wir seit 1945 sind.
Diese Welt wurde in all ihren Aspekten einer allgemeinen technischen Unternehmung unterworfen, dessen Endziel der Krieg ist.
Der Engineer, der Ingenieur, war bereits im 12. Jahrhundert derjenige, der für die Fürsten Befestigungen und Maschinen für die Belagerung entwarf.
Er hat mit diesem Ursprung noch nicht abgeschlossen, der ihn, wie jeder wirkliche Ursprung, ständig verfolgen muss.
Es ist ein Zeichen der Zeit, dass heute so viele Ingenieure zu desertieren versuchen.