2. Demokratisches Design und die Macht der Lebenswelt
Nachdem das Modell der großen allgemeinen Einschließung im Frühjahr 2020 ausgeschöpft war, versuchte sich die französische Regierung an anderen Mitteln.
Man versuchte es mit einer Ausgangssperre. Schließlich handelte es sich um einen „Krieg“. Das passte zum Thema der Übung.
Um die Sache noch bissiger zu machen, wurde sie am Abend des 17. Oktober eingeführt.
Ein 17. Oktober – wie damals im Jahr 1961, an dem die demonstrierenden Algerier, weil gegen sie eine Ausgangssperre verhängt wurde, zu Hunderten in der Seine landeten. Daten sind alles, woran sich die Regierenden aus ihren Jahren in den Vorbereitungsklassen erinnern können.
Dieses Datum war dreist. Stimmen wir zu.
An diesem Abend waren wir einige Hundert, die, um der neuen Schikane zu trotzen, vom Place du Châtelet bis zum Gare de l’Est schlenderten. Auf dem Weg dorthin besserten wir die Fassade einer kleinen Polizeistation aus.
Wir, denen die Ironie des Datums nicht schmeckte, waren einige Hundert von mehreren Millionen Einwohnern von Paris.
Ein Schwindelgefühl.
Vielleicht ist es aber auch die Form der „Demonstration“ selbst, die nicht mehr in die neue Zeit passt. Vielleicht verlangt diese nach Formen, die einerseits verstohlener und andererseits forscher sind. Als wir die Rue Saint-Denis hinaufgingen, blieb unseren armseligen Mündern nur ein armseliges dreisilbiges Wort: „li-ber-té“. Gewiss, man konnte schreiben: „Einzig das Wort Freiheit vermag mich noch zu begeistern. Ich halte es für geeignet, die alte Flamme, den Fanatismus des Menschen für alle Zeiten zu erhalten“ (André Breton, Manifest des Surrealismus, 1924) Aber schließlich klang es nach der „Re-vo-lu-tion“, die, aus einer ganz anderen Zeit kommend, am 16. März 2019 auf magische Weise die Champs-Élysées in Wallung brachte, wie eine Rückkehr zum absoluten politischen Minimum. Eine Sache ist es, die Revolution zu skandieren, die man nicht zustande bringt. Eine andere ist es, eine Idee für sich zu reklamieren, die so ätherisch ist, dass sie den Eingang zu den Gefängnissen der Republik zieren kann.
Als sich im Frühjahr 2020 unsere Wohnungen in Zellen verwandelten – mit täglichem Spaziergang, Einkaufserlaubnis im Supermarkt, Patrouillen von Gefängniswärterbullen, zu Knackis degradiert, aber ohne Besuchserlaubnis –, wurde uns klar, dass unsere Unfreiheit nicht in der Erlaubnis bestand, ob wir kommen und gehen durften oder nicht, sondern in dem Zustand grenzenloser Abhängigkeit, in dem uns diese Gesellschaft hielt. Es bedurfte nur eines Fingerschnippens, es bedurfte nur der Erklärung „des Krieges“ durch eine Gruppe von Perversen mit Wohnsitz im Élysée-Palast, um uns über unseren Zustand klar zu werden: Wir lebten in einer Falle, die lange offen war, aber jederzeit zuschnappen konnte. Die Macht, die uns in Besitz genommen hatte, lag weniger in den hysterischen Kaspern, die zu unserer Ablenkung die politische Bühne bevölkerten, als vielmehr in der Struktur der Metropole selbst, in den Versorgungsnetzen, von denen unser Überleben abhängt, im städtischen Panoptikum, in all den elektronischen Spitzeln, die uns dienen und uns umzingeln, kurz: in der Architektur unseres Lebens. Das ist eine ganze Umgebung, auf die wir keinen wirklichen Einfluss haben, die andere für uns erdacht haben und in der wir wie Ratten in der Falle sitzen. Ein deutscher Stadtplaner und ursprünglich sozialistischer Planzeichner der großen Infrastrukturnetze der Nachkriegszeit in den USA schrieb bereits in den 1920er Jahren: „Die Metropole erscheint vor allem als eine Schöpfung des allmächtigen Kapitals, als ein Aspekt seiner Anonymität, als eine urbane Form mit einem eigenen kollektiven psychischen, wirtschaftlichen und sozialen Fundament, das die gleichzeitige Isolation und die engste Vermischung ihrer Bewohner ermöglicht. […] Die Architektur der Metropole hängt wesentlich von der Lösung ab, die zwischen der Elementarzelle und dem städtischen Organismus als Ganzem gefunden wird.“ (Ludwig Hilberseimer, Die Architektur der Metropole, 1927) Die Metropole, nunmehr erweitert durch das virtuelle Ökosystem, das jeder mit sich herumträgt, ist diese totale Umgebung, diese Umgebung von Umgebungen, in der alles möglich ist und nichts. Die formale Freiheit des menschlichen Atoms bewegt sich im Betonkreis des Möglichen, abgesteckt von der Umgebung, die um ihn herum und für ihn errichtet wurde. Sie endet dort, wo seine Umgebung beginnt. Die Architektur der angebotenen Wahlmöglichkeiten ist zwingend – zwingend und geräuschlos. Eine Leitplanke auf der Autobahn, eine Überwachungskamera oder eine Anti-Obdachlosen-Bank sind implizite Befehle. Die einzige Freiheit, die zählt, ist die Freiheit, deren Quelle wir selbst sind. Es ist die Freiheit, unsere Umwelt selbst zu gestalten, sie zu verändern und zu konfigurieren, d.h. dafür zu sorgen, dass sie eben keine „Umgebung“ mehr ist, sondern eine Umwelt, in der wir es uns aber nicht folgsam einrichten, sondern in der wir existieren. Unnötig zu erwähnen, dass dies nicht alleine geht. Es erfordert, aus der vorgeschriebenen Isolation auszubrechen und die Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, die jedem lebendigen menschlichen Gewebe, jeder Dichte geteilter Erfahrungen innewohnt.
Die Auflösung der Aporie zwischen dem Menschen und seiner Umwelt ist eine Lebensweise, die diese Aporie verschwinden lässt.
Und eine Welt zur Erscheinung bringt, die uns gehört.

Wir leben in einer vollständig designten Welt.
Eine von Anfang bis Ende gestaltete Welt, durchdrungen von stummer Zweckgebundenheit.
Jeder Winkel der Metropole, jeder Verkehrsknotenpunkt, jede Werkstatt, jeder open space trägt den schändlichen Stempel der Studien, deren Umsetzung sie sind, und ihrer unscheinbaren Strategien.
Bereits 1889 legte der in Paris versammelte Internationale Kongress für preiswerte Wohnungen fest, dass „die Pläne der Mehrfamilienhäuser in dem Gedanken entworfen werden, jede Gelegenheit zu vermeiden, bei der sich die Mieter untereinander treffen können. Die hell erleuchteten Treppenabsätze und Treppen sollen als Verlängerungen der öffentlichen Wege betrachtet werden“.
Die chronische Depression der Großstadtbewohner ist selbst geplant.
„Die Werbung arbeitet daran, die Unzufriedenheit der Massen mit ihrer Lebensweise aufrechtzuerhalten und ihnen die Hässlichkeit der Dinge um sie herum unerträglich zu machen. Zufriedene Kunden machen nicht so viel Gewinn wie unzufriedene“, plaudert das Reklamemagazin Printers’ Ink bereits 1938 aus.
Nichts Neues unter der Sonne.
Heutzutage wird jede Smartphone-Funktion dazu entwickelt, unseren Dopamin-Belohnungskreislauf zu aktivieren, und jede Anwendung zielt darauf ab, uns zu fesseln und uns, wenn möglich, zu verschlingen.
Hinter jedem der unschuldigen Gegenstände, nach denen wir greifen, hinter jedem Detail des Pissoirs, auf das wir urinieren, hinter jedem Licht an jedem Verkaufsstand, dem wir uns nähern, steckt ein Designer.
Auch hinter den von uns übernommenen Begriffen des Neusprech, die uns einen Schwindel aufschwatzen sollen. Die Wörter selbst haben angefangen, für die zu arbeiten, die sie herstellen.
So sehr, dass eine halbwegs gesunde Lebensweise verlangt, sich jeden Tag als Gegengift zu wiederholen: Nein, eine Cybergemeinschaft ist keine Gemeinschaft, eine Cyberfreundschaft ist keine Freundschaft, ein Cyberjob ist kein Job und eine Cyberwelt ist keine Welt.
Unter jedem Detail unserer Umgebung verbergen sich unausgesprochene Absichten.
Das ist keine Paranoia – das ist Marketing.
„CAPTology“ (Computers As Persuasive Technology) nannte der Begründer des „Behavioral Design“ seine Wissenschaft, „die Gewohnheiten oder das Verhalten von Menschen zu ändern“. Seine Ratschläge und Lehren überschwemmten das Silicon Valley seit den späten 1990er Jahren. Die Kunst, den Benutzer interaktiver Computersysteme zu ködern, besteht darin, eine Umgebung aufzubauen, die wie ein Falle funktioniert. „Das menschliche Verhalten ist programmierbar. Man muss nur den Code kennen. Wir stellen hier das Behavioral Design vor: einen Rahmenentwurf für die Programmierung des menschlichen Verhaltens.“ So beginnt das Buch Digital Behavioral Design (2018) von T. Dalton Combs und Ramsay A. Brown.
Das Gefühl der souveränen Freiheit des Nutzers ist das Ergebnis der raffiniertesten Programmierung. In der Computergestaltung nennt man dies „emotionales Design“, „Erlebnisdesign“ oder „nutzerzentriertes Design“. Die Allgegenwärtigkeit von Smartphones, Tablets und anderen vernetzten Objekten in unserem Leben wurde natürlich durchdacht. Das war Ende der 1980er Jahre im Xerox PARC in Palo Alto, und zwar von einem Ingenieur namens Mark Weiser. Während andere damals auf die ersten Virtual-Reality-Headsets setzten, um jedem seine ideale fiktive Umgebung zu verkaufen, zog Weiser es vor, die bestehende Umgebung zu digitalisieren. Dies machte ihn zum Vater der „allgegenwärtigen Digitalisierung“. Das war für ihn „der Computer des 21. Jahrhunderts“: ein banal aussehendes Stück, das aber unter seinen ergonomischen Oberflächen Hunderte von Sensoren und Steuerungen vereinigt, die miteinander kommunizieren – Bildschirme, Lautsprecher, Sprachhilfen, Zeitschaltuhren, Alarmanlagen, eingebaute Kameras –, ein ganzes elektronisches Sensorium. Es ist logisch, dass Apple 2012 sein iPad mit den Worten Weisers einführt: „Wir glauben, dass Technologie ihren Höhepunkt erreicht, wenn sie unsichtbar wird, wenn man nicht mehr darüber nachdenkt, was man tut.“
Es ist ein Fehler, Computerdesign und physisches Design als zwei abgetrennte Bereiche zu begreifen. Diese beiden Disziplinen haben eine gemeinsame Herkunft. Ein Schüler der Ulmer Designschule, die unter der Schirmherrschaft von Walter Gropius, dem historischen Direktor des Bauhauses, gegründet wurde, entwarf Salvador Allendes Control Room, einen futuristischen Raum voller Bildschirme, Knöpfe und Joysticks, in dem in Echtzeit alle Produktionszahlen der einzelnen Sektoren, alle Indikatoren für die Motivation der Arbeiter und alle vom Fernschreibnetz des sozialistischen Projekts Cybersyn gelieferten Informationen über den Straßenverkehr zentralisiert werden sollten. Das MIT Media Lab geht auf die MIT Architecture Machine Group zurück, eine 1967 gegründeten Gruppe junger Architekten. Vor allem aber lässt sich eine durchgehende historische Linie ziehen, die von den sozialistischen Ambitionen des Weimarer Bauhauses zu den demokratischen Ansprüchen der kalifornischen Tech-Giganten führt. Die Paradoxien, mit denen sie hantieren, und die Unmöglichkeiten, die sie antreiben, sind miteinander verwandt. Designing freedom, das war – nach dem Muster des Double-Bind – der Titel, den der leitende Ingenieur des Cybersyn-Projekts 1973 einer Reihe von Radiobeiträgen in Chile gegeben hatte. Es ist auch die Formulierung des unüberwindbaren Widerspruchs, in dem sich die Macht der heutigen technokratischen Gesellschaften über die Umgebung befindet.
Von 1917 bis Ende der 1920er Jahre war die die russische künstlerische Avantgarde in allen Bereichen bewegende Frage die nach dem „sozialistischen Wiederaufbau der Lebensweise“. Dies ist das Thema des „novi byt“. Byt ist ein russischer Begriff, der ebenso elementar wie unübersetzbar ist. Es ist das Alltagsleben, der Ort aller Erlösung und aller Verdammnis, verhasst und einbindend. Es ist das häusliche Leben, die materielle Kultur im Gegensatz zu bytie, dem Sein, der geistigen Existenz. Byt benennt auf untrennbare Weise sowohl die Einrichtung der Wohnräume wie auch die Gewohnheiten, die man dort annimmt. Es wäre wortwörtlich die „Lebensform“, wenn byt nicht auch schlicht das russische Verb für „sein“ wäre. Man kann sagen, dass die ganze Tragödie der russischen Avantgarde, die sich in Majakowskis Selbstmord niederschlägt, in der Ambivalenz dieses Begriffs liegt. „Das Boot der Liebe ist am byt zerschellt“, waren seine letzten Worte. Wie Google heute, wenn auch mit diametral entgegengesetzten Absichten, wollte der russische Konstruktivismus „die höchste Form des Engineering der Formen des gesamten Lebens werden“. Mit seiner Architektur, seinen Reklamen, Gedichten, Gemälden, seinem Theater und all seinen anderen Schöpfungen, die er an der „Front der Lebensweise“ aufstellte, wollte er den Byt der Menschen und damit alle ihre Sitten, Gebräuche, Sitten und Überzeugungen umwälzen. Durch die Gestaltung einer neuen Umwelt wollte er die Menschheit selbst reformieren. Zur gleichen Zeit leitete Walter Gropius in Berlin den Arbeiterrat für Kunst, in dem man alle Künste „unter den Fittichen einer großen Architektur“ vereinen wollte, die „die Sache des ganzen Volkes sein sollte“. Zwanzig Jahre später definierten Gropius, Mies van der Rohe, Hilberseimer & Co. das Markenzeichen – den unübersehbaren „internationalen Stil“ – der amerikanischen Nachkriegsarchitektur, die die Welt entstellte und die einheitliche Unmenschlichkeit der Metropolen auf der ganzen Welt zeichnete. Wie Hilberseimer so treffend schrieb, „wird dies zu einer direkten und von allen romantischen Reminiszenzen befreiten Architektur führen, die mit dem heutigen Alltagsleben übereinstimmt: nicht subjektiv und individualistisch, sondern objektiv und universell“. Die gesamte Stadtplanung der Nachkriegszeit mit ihren unaufhaltsamen Infrastrukturnetzen für Strom, Wasser, Verkehr und Kommunikation, mit ihrer geometrischen Wiederholung – in vermeintlich demokratischer Gleichheit – der gleichen flachgedeckten Betonvolumen, die als „Wohnmaschinen“ dienen, verwirklicht auf ihre Weise den ursprünglichen Bauhaus-Slogan „Kunst und Technik – eine neue Einheit!“. Unnötig zu präzisieren, dass all dies nicht ohne eine leichte Neudefinition der Demokratie auskommt: „Mit dem Wort Demokratie meine ich die langsam, ohne politische Vorzeichen, sich auf der ganzen Welt verbreitende Lebensform, die sich auf der Grundlage zunehmender Industrialisierung, wachsenden Verkehrs – und Informationsdienstes und breiter Zulassung der Volksmassen zum Studium und zum Wahlrecht aufbaut.“ (Walter Gropius, Apollo in der Demokratie, 1968).
Die Definition der Macht über die Umgebung als von Grund auf demokratisch, ist natürlich Sache des Committee for National Morale von Gordon Allport, Margaret Mead und Gregory Bateson im Jahr 1940, dem wir diese Glanzleistung zu verdanken haben. Und auch daran hat das Bauhaus seinen Anteil. Im Committee for National Morale suchte man nach einer Alternative zur autoritären Propaganda – einer Form der Propaganda, die nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer Form demokratisch sein sollte. Man fragt sich, welche Kommunikationspraxis die einseitige Unterwerfung der Empfänger unter den Sender nicht reproduzieren würde. Wie kann man den einseitigen Botschaften einer zentralen Stelle – sei es am Radiomikrofon, hinter einer Kamera oder am Schneidetisch – entkommen, die die empfangenden Subjekte konditioniert, sie passiv, seriell, roboterhaft und fanatisiert macht? Mit anderen Worten: Wie kann man interaktive Propaganda machen? Dies ist eine Fragestellung mit unerhörter Nachkommenschaft. Die Antwort des Committee for National Morale lautet: eine Art Kunstinstallation mit vielen Bildschirmen, eine Ausstellung, die mit großer Eindringlichkeit einer „Sicht aufs weite Feld“ gewidmet ist, bei der sich der Betrachter frei bewegt und sich von einem Gefühl der Teilhabe an der geschaffenen Umgebung einnehmen lässt. Die ersten Happenings sind die Enkelkinder dieser Suche nach einer Alternative zur Aggression der einseitigen Botschaft autoritärer Mächte. Die Definition ihres Erfinders Allan Kaprow aus dem Jahr 1957 ist übrigens davon geprägt: „Ein Happening ist eine aufgeladene Umgebung, in der Bewegung und Aktivität für eine begrenzte Zeit intensiviert werden und in der sich die Menschen in der Regel zu einem bestimmten Zeitpunkt für eine dramatische Handlung zusammenfinden.“ Das Committee erfindet nichts neu: Es orientiert sich tatsächlich an den ersten Ausstellungen, die im Exil von ehemaligen Mitgliedern des deutschen Bauhauses im Museum of Modern Arts in New York durchgeführt wurden, das im Übrigen von den Rockefellers gegründet und finanziert wurde. Die Bauhaus-Retrospektive von 1938, aber vor allem die von Herbert Bayer 1942 als Designer entworfenen Propagandaausstellungen The Road to Victory und Airways to Peace inspirierten das Committee for National Morale zu der Antwort auf die es beschäftigende Frage. Die amerikanischen Zuschauer, die mit dieser für uns so konventionell gewordenen Neuheit konfrontiert wurden, waren zunächst verwirrt von dieser scheinbar chaotischen Art der Präsentation der Werke, dieser 360-Grad-Ansicht, bei der man kaum die mit einigen auf die Wände gezeichneten Händen angedeutete Laufrichtung erkennen kann, und bei der jeder seine eigene Erfahrung mit der Ausstellung machen muss. Die Gestalter waren dagegen sehr zufrieden mit diesem perfekten Kompromiss zwischen der Freiheit, die den Besuchern gelassen wurde – weit entfernt von der demonstrativ abstumpfenden Passivität totalitärer Propaganda – und deren flexibler Steuerung, die in der Wahl der Anordnung, der Werke und der möglichen Wege enthalten war. Hier zeichnet sich ein perfektes Kontinuum zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, zwischen dem Kampf gegen die Nazis und dem Kampf gegen die Sowjets ab. Die demokratische Propaganda hörte nach dem Krieg nicht auf, riesige Ausstellungen auf der ganzen Welt zu veranstalten, dessen Vorbild The Family of Man bleibt, die meistbesuchte Ausstellung aller Zeiten, in der von 1955 bis 1963 in 68 Ländern 500 Fotografien ohne erkennbare Reihenfolge gezeigt wurden. Diese Ausstellungen wurden in der Regel von den für den antikommunistischen Kampf zuständigen Stellen finanziert und geplant, unabhängig davon, ob es sich um künstlerische oder kommerzielle, avantgardistische oder eher konsensorientierte Ausstellungen handelte. Wie wir vor einigen Jahren erfahren haben, kann die CIA zurecht für die Urheberin des weltweiten Erfolgs des abstrakten Expressionismus gehalten werden. Zwanzig Jahre lang subventionierte und förderte sie Ausstellungen von Pollock, Rothko und De Kooning, die nie etwas davon erfuhren. Diese Gestaltung von Umgebungen als demokratische Antwort auf totalitäre Propaganda bezeichnet der Kommunikationshistoriker Fred Turner als „demokratische Einkreisung“. Wie das Internet weder Radio noch Fernsehen abgeschafft hat, hat die demokratische Einkreisung die herrschende Propaganda offensichtlich nur gesteigert, indem sie sie nicht mehr als Botschaft, sondern als Vorrichtung präsentiert.
Terry Winograd, ein mehr oder weniger ehrlicher Theoretiker des Computerdesigns und Lehrer von Larry Page in Stanford, schrieb zusammen mit dem ehemaligen Wirtschaftsminister von Salvador Allende und Initiator des Cybersyn-Projekts, Fernando Florès, der in den USA ein erfolgreicher Unternehmer geworden ist: „Design gehört in seiner wesentlichen Bedeutung in den Bereich der Ontologie. Es ist ein Eingriff in die Grundlagen unseres kulturellen Erbes und drängt uns aus den vorgefertigten Gewohnheiten unseres Lebens heraus, was sich tiefgreifend auf unsere Seinsweisen auswirkt. Aus ontologischer Sicht ist Design notwendigerweise reflexiv und politisch, es betrifft sowohl die Tradition, die uns geformt hat, als auch die zukünftigen Veränderungen.“ (Terry Winograd und Fernando Florès, Computer und Kognition verstehen, 1986) Design, das hat der Erfolg der Disziplin ein wenig in Vergessenheit geraten lassen, bedeutet im Englischen „Projekt, Plan, Absicht, Intention, Ziel“, aber auch „böse Absicht, Verschwörung“. To design bedeutet zu intrigieren, zu fingieren, zu entwerfen und strategisch vorzugehen. Ein Designer, ursprünglich aus dem 17. Jahrhundert stammend, ist ein heimtückischer Verschwörer, der Fallen stellt. Designs auf den Ehemann einer Freundin zu haben, bedeutet, ein Auge auf ihn zu haben, ihn abschleppen zu wollen. Eine vollständig designte Welt ist aufgrund ihres Verfahrens – seine Absichten stets verbergen zu müssen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen – eine durch und durch schlechte Welt. Die großen Plattformen des Silicon Valley sind der erfolgreichste Ausdruck der Macht über die Umgebung und ihrer demokratischen Paradoxien. Es ist ihnen gelungen, für jeden Menschen eine personalisierte Umgebung an Stelle der Welt zu schaffen. Sie müssen diese nur noch unsichtbar verändern, um ihre Auswirkungen auf die Nutzer und ihr Verhalten erfassen zu können. Hinter den aufschlussreichen Experimenten von Facebook, um Amerikaner zur Wahl zu bewegen oder um herauszufinden, was sie traurig macht, steht Cambridge Analytica. Es beginnt mit einem Auftrag des US-Außenministeriums, zu untersuchen, wie man den Einfluss von Daech („Islamischer Staat“) in sozialen Netzwerken verringern kann, und endet schließlich damit, die wundersamen Mikro-Targeting-Techniken, die das Unternehmen unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung entwickelt hat, auf amerikanische Wähler anzuwenden. Durch die Wirksamkeit des Designs wird die Funktion der großen Computerplattformen, die politische Ordnung aufrechtzuerhalten, Jahr für Jahr maßloser erfüllt. Schritt für Schritt wurden typisch chinesische Zensurniveaus erreicht. Facebook macht Jagd auf Gruppen von Geimpften, die ihre Berichte über die Nebenwirkungen teilen. In einem 2018 veröffentlichten Dokument mit dem Titel The Good Censor nimmt sich Google vor, „schlechtes Benehmen zu bekämpfen“, um „ein offenes und inklusives Internet zu haben“. Das ist eine erfreuliche Ergänzung zu der Hilfe, die das Unternehmen der französischen Steuerbehörde bei der Jagd nach Besitzern nicht angemeldeter Swimmingpools anbietet, indem es ein wenig künstliche Intelligenz auf die Satellitenbilder von Google Earth anwendet.
Es geschieht also unter dem Deckmantel von Design und technischen Projekten, dass der Feind hinter unserem Rücken eine Welt schafft. Nur wenige bekennen sich dazu, aber einige verstecken sich nicht. In der Politik gibt es zum Beispiel Madsen Pirie, einen englischen oder eher schottischen Neoliberalen, und seinen Think Tank, das Adam Smith Institute. Die großen ideologischen Auseinandersetzungen und epischen Schlachten gegen die Bergarbeiter von Margaret Thatcher – die er dennoch beriet – waren nicht nach seinem Geschmack. Dem setzte er die Mikropolitik entgegen. Nicht gerade die von Foucault, Deleuze oder Guattari. Eher die Art und Weise, wie man langfristig den Klassenfeind vernichtend schlägt, durch kleine Maßnahmen, die nach nichts aussehen, ihm aber methodisch den Boden unter den Füßen wegziehen. Ein Beispiel: Anstatt den Status der Eisenbahner abzuschaffen und sich damit einen großen Konflikt einzuhandeln, kann man ihn denjenigen vorbehalten, die ihn bereits haben, und Neueinsteiger auf einer anderen Vertragsgrundlage anwerben, so dass „man die gegenwärtigen Generationen kauft, um schrittweise ein neues System einzuführen“. (Madsen Pirie, Den Staat abbauen: Theorie und Praxis der Privatisierung, 1985) Anstatt einen reglementierten Beruf wie das Taxigewerbe abzuschaffen, genügt es, ein konkurrierendes, vollkommen prekäres, räuberisches und fatalerweise viel billigeres Angebot wie Uber einzuführen. Man kann auch Reisebusse für Arme als Low-Cost-Alternative zu Zügen anbieten, deren Personal viel zu stark gewerkschaftlich organisiert ist. So nimmt jeder Kunde, ohne das anzustreben, am Abbau der Regulierung teil, indem er einfach nach dem günstigsten Angebot greift. Durch die Nutzung einer harmlosen App wählt er neoliberal und führt die entsprechende Politik aus, in seinem winzigen, aber kumulativen Wirkbereich. Der neoliberale Mikropolitiker „konzentriert sich nicht auf den Kampf um Ideen, sondern auf Fragen des polit-technischen Vorgehens. […] Er baut Maschinen, die funktionieren […] und die von Menschen getroffenen Entscheidungen ändern, indem sie die Umstände dieser Entscheidungen verändern. […] Die meisten Erfolge der Mikropolitik gingen der allgemeinen Akzeptanz der Ideen, auf denen sie basierten, voraus. In vielen Fällen war es der Erfolg dieser Politiken, der zum Sieg der Idee führte, anstatt umgekehrt.“ (Madsen Pirie, Mikropolitik, 1988) Es ist übrigens nicht so sicher, dass die großen spektakulären Konflikte nicht als Ablenkung von der gleichzeitigen Einführung mikropolitischer Mittel dienen können, die ebenso furchterregend wie unmerklich sind.
Das Regieren von Jedem und Allem schließt sich also der Ausübung einer Macht an, die im Wesentlichen auf die Umgebung gerichtet ist. Eine Macht, die über die Umwelt verfügt und den Wesen ihre Freiheit lässt. Die „ihre Entscheidungen strukturiert“ und den Zugriff auf den Körper nur als letztes Mittel wählt. Die Unordnung vermeidet, indem sie vermeidet, Befehle zu erteilen. Die das Gesetz nicht mehr verordnet, sondern Normen verbreitet. Unbestreitbar haben sich die Menschen immer auf das bezogen, was sie umgab. Die hippokratische Tradition sah in den circumfusa – den umgebenden Dingen – stets den entscheidenden Faktor für Gesundheit und Krankheit. Die berühmte „Klimatheorie“ des 18. Jahrhunderts umfasste tatsächlich alle materiellen Aspekte – Luft, Wasser, Orte –, die das irdische Dasein beeinflussen. Manche glaubten damals sogar, dass die Milieus genug gestaltende Kraft besitzen, die Tierarten hervorzubringen, die sie bevölkern. Die Polizei des Ancien Régime – diese „Polizei von allem“ – galt für alle Aspekte des städtischen Lebens, für die Beleuchtung ebenso wie für die Bevorratung, für die Verschmutzung ebenso wie für die Wasserversorgung, für die Preise auf den Märkten ebenso wie für Gesundheitsfragen. Es war eine Milieupolizei. Aber das Kapital musste erst alle Bedingungen der materiellen Existenz der Menschen revolutionieren und nach seinem Willen neu gestalten – insbesondere musste es sie massenhaft verstädtern –, damit die Macht selbst zur Umgebung werden konnte. Und damit sie in der technischen Konstruktion dieser Bedingungen den Kern ihrer Aufgabe sehen konnte – ihrer demokratischen Aufgabe. Sie hat damit seit 1945 nicht mehr aufgehört.
Die neue Oberhoheit der Umgebung fordert die Oberhoheit der Polizei. Die demokratische Macht definiert sich implizit dadurch, dass sie den Bürgern das Habeas Corpus garantiert, solange sie sich ohne Reibung in der materiellen und virtuellen Umwelt bewegen. Der Cyberspace ist ebenso wie der städtische Raum für einen absolut freien und absolut strukturierten Verkehr erdacht worden. Er ist ebenso alles erfassend wie gänzlich kontrolliert. Dem die Umgebung einnehmenden Charakter der demokratischen Macht korrespondiert der direkte Zugriff der Polizei auf die Körper der Ungehörigen – derjenigen, die Störungen verursachen, derjenigen, die sich zusammenschließen, derjenigen, die es wagen, in den Zusammenhang einzugreifen. Die souveräne Rohheit der amerikanischen Polizei musste sich im Zuge der universellen Demokratisierung und Metropolisierung zwangsläufig auch im Rest der Welt durchsetzen. So wie auf einer Autobahn das kleinste Ereignis unverzüglich beseitigt werden muss, um eine Kaskade weiterer Ereignisse zu vermeiden, den allgemeinen Verkehrsfluss zu gewährleisten und das System zu regulieren, ist es Aufgabe der Polizei, mit allen wirksamen Mitteln so schnell wie möglich einzugreifen, um die kleinste Anomalie im regulären Funktionieren der großstädtischen Umgebung zu beseitigen. Jedes Ereignis wird hier wie ein Unfall aufgefasst. Nichts darf mehr passieren. Niemand darf sich einmischen, um einen so gut durchdachten Zusammenhang zu verändern oder sich anzueignen. In dieser Hinsicht ist das automobile Subjekt eine Art anthropologisches Ideal des zeitgenössischen Bürgers. Denn wenn es etwas gibt, das in der für es geschaffenen Umgebung spuren muss, dann ist es der Autofahrer. Und wenn etwas ausgeschlossen ist, dann dass er etwas verändert, dass er etwas anderes tut, als sich hupend zu fügen. Das Abgeschlossensein des Autofahrers, der nicht in der Lage ist, mit seinen Mitgeschöpfen anders als durch feindseliges Gestikulieren oder ängstliche Höflichkeit zu kommunizieren, seine Isolation in seiner geschlossenen Kiste aus Blech und Kunststoff, fasst für die Regierungsmacht eine Art menschliche Perfektion zusammen. Für ihn gibt es kein Versammeln; es gibt nur Staus. Nicht umsonst bildet die Straßenmetapher seit Walter Lippmann und Louis Rougier eine Art Topos der neoliberalen Vorstellungswelt, die nie aufgehört hat, politisches Handeln im Wesentlichen auf die Umgebung zu beziehen. Wo der Sozialismus ein Straßenregime wäre, bei dem der Staat jedem vorschreibt, wann er aus dem Auto aussteigen soll, wohin und auf welchem Weg er fahren soll, wo der wilde Liberalismus die Autos ohne Straßenverkehrsordnung fahren lässt, lässt der „konstruktive Liberalismus“ – oder Neoliberalismus – jeden fahren, wohin er will, aber er setzt die Straßenverkehrsordnung mit äußerster Strenge durch. Man muss annehmen, dass die Neoliberalen noch nie in Neapel waren, wo ohnehin alles dermaßen bewohnt ist und es so viele Welten im Überfluss gibt, dass die Stadt unregierbar ist. In Neapel, einem der Orte auf der Welt, an dem die Verkehrsregeln am wenigsten beachtet werden, sind Unfälle so selten wie die Fahrer geschickt. Die Polizei wird dort auf Abstand gehalten. Und das ist nicht ohne Zusammenhang.
Der selbstverständliche Tonfall, mit dem heute immer wieder von „digitalen“ oder unternehmerischen Ökosystemen gesprochen wird, erinnert an die so „menschliche“ Ökologie der Society von Wolff-Mead und der CIA-Folterer der 1950er Jahre: Alles deutet darauf hin, dass es eine Umgebung nur dort gibt, wo uns die Welt völlig entgleitet. Wo sie uns hartnäckig feindlich gesinnt bleibt.
Nichts, was ich kennenlernen kann, nichts, was ich berühren kann, nichts, was ich lieben oder hassen kann, ist Teil der „Umgebung“. Bei Berührung tritt alles in meine Welt ein.
Die Umgebung ist wie der Horizont etwas, das sich zurückzieht, wenn ich mich vorwärts bewege.
Das macht sie zu einer perfekten Ursache für die herrschende Fremdheit – und sogar zu einer Ursache, die so weltumspannend ist, wie Fremdheit sein kann.
Nie zuvor haben sich so viele Außerirdische so sehr um die schmutzige Natur gekümmert, vor der sie mit allen Mitteln fliehen und die sie im Grunde anwidert.
Wir werden die Welt so lange verwüsten lassen, wie wir den Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) brauchen, um zu wissen, wie es um sie steht.
Seit 1945 hat der Einsatz für die Umwelt, den Planeten oder das Klima nicht aufgehört, die von ihm befohlene Ohnmacht weiter zu verbreiten.
Die empörte Anklage in Fairfield Osborns Unsere ausgeplünderte Erde stammt aus dem Jahr 1948.
Diejenigen, die die Umwelt „zerstört“ haben, begannen damit, sie als unlösbares Problem zu konstruieren.
Die Umwelt wurde an dem Tag heilig, als die Macht selbst die Umwelt erfasste.
Bereits 1950 sagte Norbert Wiener in Kybernetik und Gesellschaft: „Wir haben unsere Umwelt so radikal verändert, dass wir uns selbst verändern müssen, um nach den Maßstäben dieser neuen Umwelt zu leben.“
Es gibt noch einen anderen Weg: nicht versuchen, die Umwelt zu retten, sondern jetzt damit beginnen, sie niederzureißen.
Denn unter der Umwelt liegt die Welt.
- Wow! Hör dir das an: „Die Natur ist komplex“, „verwoben“,
„verbunden“ – Nie im Leben! Was werden sie als nächstes „entdecken“?