3. Die Diktatur der Verwundbarkeit
Wie viel mehr die Metropole als Lebensform zählt als ihre vorläufigen Bewohner mit ihrem illusorischen Freiheitsempfinden, wie sehr wir kaum mehr sind als Anhängsel ihres allgemeinen Funktionierens, haben wir bereits zweimal zu spüren bekommen: Ein erstes Mal bei der Eindämmung im Frühjahr 2020, als sich das Einschließung des Lebendigen als Bedingung für die strukturelle Reproduktion der globalen Ströme durchsetzte, und dann im Sommer 2021, als die Erpressung zur Impfung als Erpressung mit dem Entzug jeglichen „sozialen Lebens“, d.h. mit dem Entzug jeglichen metropolitanen Lebens zum Ausdruck kam.
Seither erschien uns unser Zustand einer reinen Abhängigkeit vom großstädtischen Umfeld als ein Zustand selbstmörderischer Schwäche.
Unser ganzer Lebensinstinkt gebot uns seither, uns von ihm zu befreien.
Diese Stellung aufzugeben.
Denn die Verletzlichkeit kennzeichnet die Metropole als Lebensform. Natürlich wurde das Problem in den 1920er Jahren als erstes von den Militärs erkannt. Moderne Gesellschaften beruhen auf einem verteilten Netz von Fabriken, auf technischen Makrosystemen für die Stromversorgung, den Transport, die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Arbeitern. Es bedarf nur einiger gezielter Luftschläge, um sie zu desorganisieren. Dies war im Übrigen auch die Doktrin der strategischen Bombenangriffe der USA auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Die Ingenieure des New Deal nutzen dabei die „Wissenschaft der Ströme“, die sie bei der Organisation der nationalen Wirtschaft erworben hatten, um zu bestimmen, welche Ziele in Europa und Japan vorrangig getroffen werden sollten. Die Notwendigkeit „der Aufrechterhaltung der Kontinuität der Regierung und der essentiellen Produktion“ führte sowohl zur Entstehung der Doktrin der kritischen Infrastrukturen als auch zur Doktrin der preparedness für ihren Schutz. Eine Gesellschaft, die sich auf „lebenswichtige Systeme“ stützt, kann nur in einem unbefristeten Ausnahmezustand leben, da die Drohung des Zusammenbruchs nie aufhört. Er ist ihr wesensgleich. Die Erfindung der großen Stromnetze ist auch die Erfindung der Blackouts. Die Erfindung der großen Bauten für Wasserwege ist die Erfindung ihrer Austrocknung, ihrer Fehlfunktionen und ihrer Vergiftung. Die Biopolitik führt logischerweise zum permanenten Ausnahmezustand. Angesichts der großen Depression hatte Roosevelt bereits um weitreichende Exekutivbefugnisse gebeten, „als ob wir von einem ausländischen Feind überfallen würden“. Doch 1941 war es der Direktor des Office of Emergency Management, der schrieb: „Nationale Notfälle sind nicht auf Zeiten des Krieges oder der intensiven Verteidigungsbereitschaft beschränkt. Sie können ebenso gut aus einem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder einer Dürre, einer Überschwemmung, einem Erdbeben, einer Hungersnot, einer Epidemie oder einer Notsituation resultieren, die die öffentliche Ordnung oder Sicherheit bedroht.“ Da haben wir den Vorläufer des all-hazards planning und der damit verbundenen preparedness, die in den 1970er Jahren im US-Militär aufkam. 1948 stellte ein gewisser Clinton Rossiter ganz ohne Polemik die Theorie der constitutional dictatorship auf: Das Leben der modernen Gesellschaften sei so zerbrechlich, dass man der verfassungsmäßigen Regierung die Möglichkeit vorbehalten müsse, jederzeit auf außergewöhnliche Befugnisse, also auf die Diktatur, zurückzugreifen, um auftretende dringende Probleme zu lösen. Genau dazu lud übrigens der Staatsrat im September 2021 die französische Regierung ein, als er ihr vorschlug, „einen umfassenden, sowohl rechtlichen als auch operativen Rahmen auszuarbeiten, der die Wirksamkeit der Maßnahmen der öffentlichen Behörden, die mit schweren Krisen konfrontiert sind, erhöht und gleichzeitig die republikanischen Grundsätze bewahrt“. Die Diktatur ist seit dem antiken Rom eine republikanische Institution. Wenn eine außergewöhnliche Situation außergewöhnliche Befugnisse erfordert, um die Bedingungen des normalen gesellschaftlichen Funktionierens wiederherzustellen, wird für eine bestimmte Zeit ein Diktator ernannt. Charakteristisch für die Struktur des großstädtischen Lebens ist, dass diese Situation konstant geworden ist und mit ihr das Bedürfnis nach einer Diktatur. So dass letztlich nur Blinde, die nichts über die Geschichte wissen, uns der Übertreibung bezichtigen können, wenn wir die „Gesundheitsdiktatur“ denunzieren.
Wir sind eher diesseits der Wahrheit.
Die Metropole ist die Diktatur der Verletzlichkeit.
Die Biopolitik ist die Tyrannei der Schwäche.
"Nimm den verdammten Impfstoff. Trag eine verdammte
Maske." Kommentar: Ich liebe New York.
In den vergangenen Jahren hat man uns keine Sekunde die Muße gelassen, zu vergessen, wie sehr unsere Existenz in die globale Infrastruktur eingebunden ist.
Zu keinem Zeitpunkt hat man davon abgelassen, uns spüren zu lassen, was das an politischer Unterwerfung beinhaltet.
Die Verwundbarkeit des Systems wird jederzeit auf die Verwundbarkeit seiner Untertanen umgelegt.
Das ist die Genialität der Biopolitik. Ein Bericht aus dem Jahr 1977, der nach dem großen Blackout in New York von einem gewissen Joint Committee on Defense Production verfasst wurde, hielt bereits fest, dass „die immer komplexere und immer mehr von Technologie abhängige Industriewirtschaft der Vereinigten Staaten die Bürger immer verwundbarer für die Auswirkungen von Katastrophen und Notfällen gemacht hat, über die sie keine oder nur sehr wenig Kontrolle haben und auf die sie als Individuen nicht reagieren können“.
Dies gilt für die Unterwerfung von Individuen; es gilt auch für die Unterwerfung von Staaten.
Es handelt sich hierbei um einen allgemeinen strategischen Hinweis.
Sicherlich ging die Bildung der Europäischen Union von den alten deutsch-französischen Industriekartellen für Stahl und Kohle aus, aber in jeder Krise, jedes Mal, wenn das europäische Projekt auf die ihm eigene Abwegigkeit stößt, beschleunigt es seine infrastrukturelle Vereinigung und fegt politische Missklänge mit biopolitischen Schlägen beiseite. So verdoppelten die kleinen Machiavellis der Kommission 2015 inmitten der völligen Flaute die auf Abwege geratene Europäische Union mit einer zukunftsträchtigen Energie-Union und spielten dabei subtil mit der Gleichheit der Anagramme. Sie suggerierten so, dass die EU nicht sterben kann. Wie es damals auch freudig in einem Werbevideo hieß: „Die Energie verbindet uns über Grenzen hinweg“. Zwei deutsche Soziologen stellen mit aller gebotenen Verdrießlichkeit fest: „In ihren verschiedenen Inkarnationen und Phasen scheint die Infrastruktur ein politisches Versprechen zu enthalten. In der langen Geschichte des ‚infrastrukturellen Europäismus‘ bestand die Voraussetzung der Pläne zur Vernetzung der Infrastruktur darin, dass Straßen, Pipelines und Kabel eine Einheit schaffen, die angesichts der Vielzahl von Traditionen, Sprachen und der politischen Geschichte der Kriege, die die europäischen Nationen trennen, schwer zu erlangen ist. In jüngster Zeit lieferten die Schulden- und die Flüchtlingskrise eklatante Beispiele für die derzeit zwischen den Nationalstaaten Europas herrschenden Konflikte und Spaltungen. Trotz oder gerade wegen dieser Erfahrungen wollen die laufenden Initiativen für transeuropäische Netze durch die materielle Verbindung der Infrastruktur eine supranationale Einheit aufbauen. Die Infrastruktur verspricht, ‚die Solidarität funktionsfähig zu machen‘ (Europäische Union, 2013). […] Auf den ersten Blick scheint die Verbindung zwischen Infrastruktur, Markt und der politisch-räumlichen Einheit Europas einfach zu sein. Die Infrastruktur präsentiert sich als das Rückgrat eines politisch und geografisch vordefinierten Marktes. Die Vorschriften und Mitteilungen der EU stellen sich eine physische paneuropäische Vernetzung im Umfang der Union vor, die der ‚Isolation‘ der Mitgliedstaaten ein Ende setzt und keine Energieinseln mehr übrig lässt. Eine solche Vernetzung sollte es in der Europäischen Union ermöglichen, Energie ‚aus jeder Quelle, an jedem Ort und ungeachtet nationaler Grenzen zu verkaufen und zu kaufen‘ (Europäische Kommission, 2011). Wir haben es mit einer Form der infrastrukturellen Einheit zu tun, die in gewisser Weise einem Staatsdekret ähnelt, nur größer ist: Das paneuropäische Netz wird als ein ‚Konnektivitätsgewebe‘ (Edwards, 2003) gedacht, das die Gebiete der Mitgliedstaaten durchdringt. Die Europäische Kommission hofft, durch die zusammenhängende und kontinuierliche Konnektivität eines freien Energiefluss, einen inneren Zusammenhalt herbeizuführen.“ (Sven Opitz und Ute Tellmann, Der Materialismus Europas: Infrastrukturen und politischer Raum, 2015) Diese Politik materialisiert sich in unseren Breiten unter anderem in all den „Windpark“-Projekten, die niemand will und die überall Land, Landschaften und Menschen zerstören – alles für die Rettung eines auch von niemanden mehr gewollten europäischen Projekts, indem man Hochspannungsleitungen von Dänemark bis Andalusien zieht.
Die fürchterlichste Verschwörung ist noch immer die der Infrastruktur.