5. Die Gesundheitskrankheit
Biokapitalismus, Biostaatsbürgerschaft, Biopolitik, Bioökonomie, Biosicherheit oder sogar Biogesellschaft – seltsam, wie sich diese Vorsilbe bio- überall durchzusetzen scheint, ohne dass irgendjemand weiß, was sie bedeutet.
Erwin Chargaff, der große melancholische Forscher, dem wir die sogenannte „Paarungsregel“ der Aminosäuren im DNA-Molekül verdanken, ein Jude aus der Bukowina, der in den USA im Exil lebte, sagte über die Biologie: „Bei keiner anderen Wissenschaft evoziert ihr Name einen Gegenstand, den sie nicht definieren kann.“ (Heraklits Feuer, 1979) Die Geschichte der vergangenen beiden Jahrhunderte bietet, aus übrigens durchsichtigen Gründen des disziplinären Wettbewerbs, das merkwürdige Schauspiel, dass so viele Physiker versuchen, die Frage Was ist Leben? (Erwin Schrödinger, 1944) von ihrem Fachgebiet aus zu beantworten, während ebenso viele Biologen fleißig postulieren Das Leben existiert nicht! (Ernest Kahane, 1962). Selbst ein so bornierter Nobelpreisträger wie André Lwoff begann sein Buch Die biologische Ordnung (1962) mit: „Biologie ist per Definition das Studium des Lebens. Nichts ist schwieriger, als das Leben zu definieren. Am einfachsten ist es, wie so viele andere, zu beschließen, dass das unmöglich ist.“
Dennoch müssen all diese wuchernden bio- auf irgendetwas verweisen. Es ist anzunehmen, dass sich darin eine Bewegung der Verviehung der menschlichen Gattung bezeugt. In dem Maße, in dem das Kapital seine Macht in der Breite wie in der Tiefe ausdehnt, versucht es, uns auf den Status einer Herde zu reduzieren. Die älteste Etymologie von „Kapital“ geht auf das provenzalische captal zurück, das „Viehbestand“ (cheptel) bedeutet. Seit Anbruch der Zivilisation wird Reichtum anhand der Anzahl des Viehs gerechnet und Macht anhand der Anzahl der Sklaven. Die Nutztieren vorbehaltene Behandlung und die Behandlung menschlicher Bevölkerungen scheint durch ein gemeinsames historisches Schicksal miteinander verbunden zu sein. Das Chippen der einen kündigt erwartbarerweise das Vorhaben an, auch die anderen zu chippen. Man lacht darüber als verschwörungstheoretische Fantasterei, aber es handelt sich dabei ausdrücklich um ein etwa 20 Jahre altes technologisches Projekt, an dem sich Klaus Schwab und seine Investorenfreunde ergötzen, das in Zukunft von Télématin gefördert wird – es macht das Leben so viel einfacher! – und mit dem das höchst biopolitische Schweden bereits stolz experimentiert. All die Angst, die man verbreitet, um Herr über unsere Seelen zu werden, all die Aufrufe, angesichts des Virus zusammenzuhalten, all die mechanische Beschwörung der Solidarität sind Teil der Verviehung der Gattung. Der Begriff „Solidarität“ ist so hinterhältig, dass ein großer französischer Ölkonzern seine Lohnempfänger während des Lockdowns von 2020 dazu aufrufen konnte, ihren „Geist der Solidarität“ zu zeigen, indem sie während ihrer Kurzarbeit Urlaubstage einlegten. Der Reaktionär Joseph de Maistre borgte sich als Erster den Begriff der Solidarität von den Juristen. Danach wurde diese Vorstellung vom Sozialist Pierre Leroux in die Philosophie eingeführt, wobei er zwar seinen Vorgänger, nicht aber dessen Absichten verschleierte: „Ich war der Erste, der den Juristen den Begriff der Solidarität entlieh, um ihn in die Philosophie einzuführen, das heißt meiner Meinung nach in die Religion; ich wollte die Nächstenliebe des Christentums durch die menschliche Solidarität ersetzen […].“ Der Solidarismus war die säkulare Religion der Dritten Republik und die Doktrin zur Niederschlagung des Klassenkampfes.
Die Anrufung der Solidarität als absoluten Wert dient nur dem Verbot der lebenswichtigen Fragen: „Mit wem? Auf welcher Grundlage? Gegen wen? In welchen Verhältnissen?“
Wenn man uns verbietet, diese Fragen zu stellen, verbietet man uns, uns gegen das, was uns schwächt, zu verteidigen. Gegen das, was uns tötet.
Es bedeutet, uns krank haben zu wollen.
Und uns unseren Henkern ausliefern.
Bei all den „Long Covid“-Opfern, die sich in Wirklichkeit nie mit der Krankheit angesteckt haben, wird dies sogar physiologisch. Aufgrund des Nocebo-Effekts sind sie buchstäblich an Solidarität erkrankt.
Der Sozialist Louis Blanc, ein Zeitgenosse von Leroux, forderte ein Regime, das, „indem es die Mitglieder der großen gesellschaftlichen Familie als solidarisch ansieht, dazu tendiert, die Gesellschaften, das Werk des Menschen, nach dem Modell des menschlichen Körpers, dem Werk Gottes, zu organisieren“.
Die „große Gesellschaftsfamilie“ gibt es nicht, weil es Verbindungen zwischen den Wesen gibt, die ihnen einen Platz zuweisen, und keine homogenen Körper, die man nur zusammenhäufen muss.
Weil wir in der Welt sind.
Der alte christliche Traum der Vereinigung aller Körper der Auserkorenen in Abrahams Schoß ist ein zerquetschender Albtraum – wie übrigens auch das Frontispiz von Hobbes’ Leviathan.
Es ist ein Traum der Vernichtung anstelle eines Heilsversprechens.
Einen lebendigen Körper macht gerade aus, dass er über seine körperliche Endlichkeit hinausgeht, dass er an der Welt teilhat.
Die Verviehung der Spezies erfolgt durch die Reduktion der Wesen auf ihre fleischliche Hülle.
Sklavenhalter haben immer versucht, ihre Unterworfenen auf diese zu reduzieren – worauf die Sklaven mit der Bekräftigung ihrer Soul durch ihre Lieder antworteten.
Ein Körper, der nur noch ein Körper ist, ist weniger als ein Körper.
Die Biopolitik will uns in die Grenzen unserer Haut zurückdrängen.
Paraguay: „Wenn du dich mit dem Coronavirus ansteckst, ist es deine Schuld.“
Sie strebt eine Welt der Körper an, die nichts zwischen sich haben, außer den von ihr verwalteten Verbindungen. Körper, die wie die Ratten in einem Labor von einer feindlichen Leere umgeben sind.
Denn am Ende dieser Reduktion sind die Körper erkennbar, handhabbar, verschiebbar, trennbar, regierbar, knüppelbar – harmlos also.
Solange es „mich“ und „die anderen“ gibt, gibt es noch nichts.
Alles Bestehende besteht genau darin, dass wir gemeinsam daran teilhaben.
Unregierbar sind die, die sich nicht auf ein im Cyberspace schwebendes Atom, auf einen Arbeiter, der abends allein nach Hause zurückkehrt, auf eine panische Gestalt, die verzweifelt im Tränengas flüchtet, oder auf einen Autofahrer, der über die Ringstraße rast, reduzieren lassen.
Es sind die, die zusammenhalten, die unzerstörbar verbunden und sich ihrer Bindungen und ihres Tuns sicher sind.
Die an der Welt teilhaben.
„Die Freundschaft ist von Natur aus unbestechlich und unregierbar“, schrieb Baudelaire an Victor Hugo.
Was die Macht fürchten muss, sind die Verbindungen zwischen den Wesen, die nicht verwaltbaren, unkontrollierbaren Verbindungen, die Körper zu mehr als Körpern machen, sie widerstandsfähig und manchmal unverwüstlich werden lassen. Genau deshalb ist es für Facebook politisch so lebenswichtig, den „sozialen Graphen“ jedes Einzelnen zu erfassen, das „reale Verbindungsnetz, über das Menschen kommunizieren und Informationen austauschen“, wie sich der dreckige Zuckerberg 2007 ausdrückte.
„Der Körper ist eine biopolitische Realität“, wagte Foucault zu behaupten.
Um die Erfahrung zu machen, auf den Zustand eines Körpers reduziert zu sein, und davon wie niederträchtig das ist, genügt es, eine Krankenhausstation zu betreten, unter diesem entwürdigenden Neonlicht, in dieser eiskalten Trage, unter diesen müden und professionellen Blicken, wo ein begleiteter Patient vorbeigeht, schlotternd und mit einem schlecht sitzenden und seinen Hintern offen präsentierenden Kittel bekleidet.
Wann immer etwas ausgemerzt wird, das ein Wesen mit der Welt und den anderen verbindet, ist ein Versuch der Vernichtung im Gange. Man will es zu einer leblosen, passiven, unbelebten Fleischmasse machen, bar aller eigenen Kräfte und nur dazu gut, als Nährboden für Mikroben zu dienen oder Schläge einzustecken – so sehen es der schlechte Arzt und der gute Polizist im faktischen Bündnis.
„Die große Lüge bestand darin, aus dem Menschen einen Organismus zu machen, Nahrungsaufnahme, Verdauung, Brüten, Ausscheiden, […] diese Retorte für Scheiße, dieses Fass für fäkale Destillation, Ursache der Pest und aller Krankheiten. […] Du glaubst, du bist allein, aber das ist nicht wahr, du bist eine Vielzahl, du glaubst, du bist dein Körper, aber er ist ein anderer. […] Es sind nun 4000 Jahren, seit die menschliche Anatomie aufgehört hat, ihrer Natur zu entsprechen. Die Anatomie, in die wir eingezwängt sind, ist eine von Rindviechern, Ärzten und Wissenschaftlern geschaffene Anatomie, die niemals auch nur einen einfachen Körper verstehen konnten. […] Die Ursache aller Krankheiten ist jedoch die syllogistische Funktionsweise des menschlichen Körpers, wie er heute existiert. […] Der vormalige Körper war ohne Maß, unbenennbar, unbestimmt. […] Ich sage, dass die Gesellschaft viel eher durch Zauberkräfte zusammengehalten wird, als durch ihre Armee, ihre Verwaltung, ihre Institutionen oder ihre Polizei. […] Der heutige menschliche Körper ist eine Höllenqual, und jede Magie, alle Religionen und alle Riten kämpfen erbittert darum, ihn in dem Modul seiner momentanen Schichtungen, die das erste wirkliche Hindernis für jede Revolution sind, zu verknöchern, zu fesseln, zu versteinern und zu knebeln. […] Ich behaupte, damit er seine Anatomie wiedergewinnt / Der Mensch ist krank, weil er schlecht gebaut ist / Fesselt mich, wenn ihr wollt, aber es gibt nichts Nutzloseres als ein Organ / Wenn ihr ihm einen Körper ohne Organe geschaffen habt, dann habt ihr ihn von allen seinen Automatismen befreit und seiner wahren Freiheit zurückgegeben. “ (Antonin Artaud, Rund um die Sitzung in Vieux-Colombier, 1947)
Die Weise, mit der die Biopolitik uns auf den Zustand von Körpern reduziert, auf den Zustand von Mietern, die ein Interesse daran haben, die Körper so gut wie möglich zu pflegen und sie in Hinblick auf die Endabnahme durch den Großen Eigentümer herauszuputzen, die Weise, mit der sie uns dazu bringt, um unseren Bauchnabel zu kreisen und einen bösen Streich seitens unseres Organismus zu befürchten, das sind alles Weisen, uns zu entmutigen, zu schwächen und zu töten – indem wir von der Beziehung mit der Welt abgebracht werden, die uns nährt, uns wachsen lässt, uns strahlen lässt und uns lebendig macht, da sie uns an allem, was lebt, teilhaben lässt.
„Individuell ist die Beziehung, nicht das Ich. Aufhören, als ein Ich zu denken, um wie ein Fluss zu leben, eine Gesamtheit von Flüssen, in Verbindung mit anderen Flüssen, außerhalb seiner selbst und in sich selbst. […] Der unveräußerliche Teil des Selbst ist, wenn man aufgehört hat, Ich zu sein: Man muss diesen höchst fließenden, vibrierenden Teil erobern. Das Problem besteht dann darin, ein Maximum an Verbindungen herzustellen, zu finden oder wiederzufinden. Denn die Physik der Beziehungen, der Kosmos, besteht gerade in den Verbindungen (und Trennungen). […] Jedes Mal, wenn eine physische Beziehung in logische Beziehungen übersetzt wird, das Symbol in Bilder, der Fluss in Segmente, der Austausch zerlegt in Subjekte und Objekte, die einen gegen die anderen, wird man sagen müssen, dass die Welt tot ist und dass die kollektive Seele ihrerseits in einem Ich eingeschlossen ist, sei es das des Volkes oder das des Despoten.“ (Fanny und Gilles Deleuze, Vorwort zu Apocalypse von D. H. Lawrence, 1978)
Abgesehen vielleicht von der Anordnung, alles zu akzeptieren und sich mit allem zu kreuzen, gibt es keine schädlichere Vorstellung als die uns derzeit um die Ohren gehauene Immunität. Die Idee der Immunität als Selbstverteidigung der angegriffenen körperlichen Festung geht kaum überraschend auf das späte 19. Jahrhundert zurück. Mit ihren wachsamen Warnsystemen, drohenden Invasionen, zurückzudrängenden Fremdkörpern und der Verlegung von Antikörperkommandos dünstet sie den staatlichen Militarismus ihrer Entstehungszeit stark riechend aus. Die Menschheit hat diese Konzeption nach Art einer Pickelhaube nie zu ihrem phasenweise sogar recht gutem Leben gebraucht. Man kann einem solchen „wissenschaftlichen“ Begriff keinen Glauben schenken, hervorgegangen aus dem zufälligen Zusammenstoß eines alten Begriffs aus dem römischen Recht – der Immunität –, der die Tatsache bezeichnet, dass ein Subjekt nicht dem allgemeinen Gesetz unterworfen ist – mit einem politischen Konzept – dem der self-defense –, das von diesem räudigen Hobbes erfunden wurde. Muss man daran erinnern, dass dieser Theoretiker der Angst im Politischen seine Geburt in seiner Autobiografie wie folgt beschrieb: „Der kleine Wurm, der ich bin, kam nicht allein auf die Welt. Die Gerüchte, dass die unbesiegbare Armada unserer Rasse den Untergang bringen würde, versetzten meine Mutter in solche Angst, dass sie mich zusammen mit der Angst zur Welt brachte“? Ein vollkommen gesunder Mensch, wie man sieht.
Man hätte es ahnen müssen: Die von der Biopolitik propagierte Vorstellung von Gesundheit entspricht in Wirklichkeit der Definition von Krankheit selbst.
Diese Gewissheit, dass außerhalb der Maschine kein Leben auf der Erde möglich ist.
Diese Idee eines so verwundbaren Systems, dass jeder an seinem Platz bleiben muss, damit er keine Bedrohung für den auskalibrierten Betrieb darstellt.
Dieser erbitterte Kampf gegen jedes Ereignis, gegen alles, was widerspricht und das Unbekannte einführt, gegen jedes Werden und letztlich gegen jede Geschichte.
Dieser verzweifelte Drang zur Beherrschung – „Es ist möglich, die lebendigen Phänomene unter Kontrolle zu bringen, und Kontrolle ist das einzige und ausschließliche Ziel der Biologie“, schwärmte der Biologe Jacques Loeb vom Rockefeller Institute for Medical Research bereits Anfang des 20. Jahrhunderts.
Dieses Streben nach einer tödlichen Stabilisierung aller Mechanismen, der Beseitigung aller Schwankungen.
Diese Unfähigkeit, nicht zu reagieren.
Diese Besessenheit von der allumfassenden Sicherheit.
Diese Art, sich nicht aus einem bestimmten, festgelegten Lebensregime lösen zu können, ohne den Tod befürchten zu müssen – das ist die Definition eines pathologischen Zustands.
Die Pflege, die Vorsorge und die „Maßnahmen“ sind Teil der Krankheit.
Die Krankheit befällt das Gesetz, wenn das Gesetz sich um den Kranken kümmert.
Aber die Pathologie ist eine weitere Lebensweise – wie die Metropole und Biopolitik.
Es scheint, als hätte keiner der Fernsehärzte jemals eine Seite aus einem der berühmtesten Texte des wichtigsten französischen Philosophen der Medizin aufgeschlagen: „Pathologische Lebensnormen sind solche, die den Organismus zwingen, in einem ‚eingeengten‘ Milieu zu leben, das sich qualitativ, in seiner Struktur von dem vorherigen Lebensmilieu unterscheidet, und ausschließlich in diesem eingeengten Milieu. Damit ist es dem Organismus unmöglich, sich den Anforderungen neuer Milieus zu stellen, sei es in Form von Reaktionen oder von überlegten Handlungen, die von neuen Situationen verlangt werden. Nun bedeutet Leben schon für Tiere und erst recht für den Menschen nicht allein Vegetieren und Selbsterhaltung, sondern auch, sich Risiken zu stellen und sie zu überwinden. Gesundheit ist gerade, und vor allem beim Menschen, ein gewisser Spielraum, ein bestimmtes Spiel mit den Bestimmungen des Lebens und des Verhaltens. Sie zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, Abweichungen der Regeln zu tolerieren, denen nur die scheinbar garantierte und in Wirklichkeit immer notwendig prekäre Stabilität der Situationen und des Umfelds die trügerische Bedeutung einer endgültigen Normalität verleiht. Der Mensch ist erst dann wirklich gesund, wenn er zu mehreren Normen fähig ist, wenn er mehr als normal ist. Der Maßstab für Gesundheit ist eine gewisse Fähigkeit, organische Krisen zu überwinden, um eine neue physiologische Ordnung einzuführen, die sich von der alten unterscheidet. Ohne scherzhafte Absicht: Gesundheit ist der Luxus, von einer Krankheit befallen zu werden und sich wieder davon erholen zu können. Jede Krankheit besteht andererseits in der Einschränkung der Fähigkeit, die anderen zu überwinden. […] Einem Lebenden kann nichts fehlen, wenn man nur zugibt, dass es tausendundeine Weise zu leben gibt.“ (Georges Canguilhem, Die Erkenntnis des Lebens, 1952)
Das Unternehmen der Verkümmerung unserer Welt, der Unterbrechung und der digitalen Kolonialisierung aller unsere Verbindungen, die Verbreitung eines geradezu paranoiden Misstrauens gegenüber der Welt, den anderen und sogar sich selbst, die Verschreibung des Tragens von Mundschutz und der „Hygienemaßnahmen“ gegen Erkältungen, die tendenzielle Einzwängung jedes Einzelnen in ein routiniertes und häusliches Dasein – all das sind Kennzeichen eines klaren Versuchs, uns unter den besten biopolitischen Vorwänden krank zu machen.
Nichts Neues an diesem Wahnsinn. Nur die methodische Umsetzung ist umfassender als üblich. Der Romancier Georges Duhamel beschrieb, als er 1930 von einer Reise in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, was er dort gesehen hatte: das methodische Besprühen der ankommenden Ausländer, um diese zu desinfizieren, den Schrecken, den ein Nieser im Zug auslöst, wenn der Nachbar sich abermals die Kehle bestäubt, die Anzahl der Kalorien, die jedes Gericht auf der Restaurantkarte enthält, aber auch die Massenzerstreuung und den gewaltigen Industrialismus. Das Jahrhundert verspricht, ein amerikanisches zu werden, und so erzählt er in seinem Reisebericht viele Szenen des zukünftigen Lebens für ein Europa, das dazu verurteilt ist, dieselben mit Verspätung nachzuäffen. Eine dieser Szenen erzählt einen Dialog über die „Errungenschaften der Wissenschaft“ mit einem modernen und gebildeten Amerikaner, Parker Pitkin. Duhamel schrieb ihm folgende Worte zu: „Es gibt vielleicht hundert ansteckende Krankheiten. Von dem Tag an, an dem wir gegen jede dieser ansteckenden Krankheiten einen wirksamen Impfstoff besitzen, dessen Anwendung strikt vorgeschrieben ist, werden wir nicht mehr unter Krankheiten leiden, wir werden unter den von den Gesetzen auferlegten Zwängen leiden, wir werden an Gesundheit leiden.“
Und ein wenig später seine Replik darauf:
„Ich schlage vor, dass diese Einzelpersonen, denen man bereits das Trinken verboten hat und denen sie morgen, Gott sei Dank, das Rauchen verbieten werden, durch eine geschickte Überwachung der Haushalte daran gehindert werden, elende Nachkommen zu zeugen.
– Dann müssen wir nur noch, sagte Pitkin ruhig, das System der Überwachung finden.“
Dort sind wir.
Ein verantwortungsbewusster Schönheitssalon.