Staat und Gewaltmonopol
Die Macht der Institutionen setzt unsere Ohnmacht voraus.
Warum fühlen wir uns ohnmächtig und haben keinen wirklichen Einfluss auf die Gestaltung unserer Gesellschaft, obwohl wir doch in einer Demokratie, also „Volksherrschaft“, leben? – Eine gängige Antwort lautet: Weil die Politiker machtgeil und arrogant sind, lügen, wann immer es ihren Interessen nützt und lieber auf die Einflüsterungen irgendwelcher Lobbyist als auf die Wünsche derer hören, die sie gewählt haben. – Auch wenn diese wenig schmeichelhafte Beschreibung unserer Volksvertreter sicher in vielen Fällen zutrifft, so taugt sie doch wenig als Erklärung für unsere Ohnmacht. Wir denken, das Problem ist nicht, dass das jeweilige Herrschaftspersonal seinen Job schlecht macht – das Problem ist vielmehr die Herrschaft selbst. Mit anderen Worten: Wir kritisieren an der Demokratie, dass sie eine Staatsform ist.
Ein Staat ist eine zentralisierte Organisation der Herrschaftsausübung von Menschen über Menschen. Wohl nie hatte eine gesellschaftliche Institution soviel Macht über die ihr unterworfene Bevölkerung wie der moderne Staat: Seine Gesetze schreiben uns in allen möglichen Lebensbereichen vor, was wir tun oder lassen sollen, durch Steuern und Abgaben nimmt er uns einen Teil unseres Einkommens weg, seine Beamten fragen uns über unsere privaten Verhältnisse aus, seine Geheimdienste überwachen unsere Kommunikation. Der Staat kann uns ins Gefängnis stecken, er kontrolliert, wer ein bestimmtes Territorium betreten darf und wer draußen bleiben muss, er kann uns im Ernstfall befehlen, für seine Interessen mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, zu töten und zu sterben. All das tut der Staat, ohne je nach dem Einverständnis der von seinen Maßnahmen Betroffenen zu fragen. Und er tut es unabhängig davon, ob ein König, ein Diktator oder eine Versammlung gewählter Vertreter an seiner Spitze steht. Würde irgend eine andere gesellschaftliche Gruppe versuchen, uns die oben aufgezählten Zwangsmaßnahmen aufzuerlegen, wären wir empört und würden sie als Bande von Räubern oder Mafiosi bezeichnen. Wenn der Staat dasselbe macht, nehmen wir es, von einigen besonders krassen Exzessen abgesehen, als selbstverständlich hin.
Damit die staatlichen Institutionen diese Machtfülle innehaben können, müssen ihnen gegenüber alle anderen gesellschaftlichen Kräfte machtlos sein. Der Aufstieg des modernen Staates ist gleichbedeutend mit der Ausschaltung oder Unterordnung aller gesellschaftlichen Instanzen, die vormals eine gewissen Unabhängigkeit und eigene Macht hatten: Ritter, Klöster, freie Reichsstädte, berufsmäßige Zünfte und Gilden, Dorfgemeinden. Unsere Ohnmacht ist also keine Fehlfunktion des bestehenden Systems, die behoben werden könnte, wenn endlich einmal „ehrliche“ Politiker an die Macht kämen – sie ist die logische Kehrseite der staatlichen Macht.
Das Mittel zur Durchsetzung der Staatsmacht ist das Gewaltmonopol: Staatliche Institutionen – Polizei und Militär – sind die einzigen, denen es in unserer Gesellschaft erlaubt ist, unmittelbaren körperlichen Zwang gegen andere Menschen anzuwenden. Dadurch garantieren sie die Einhaltung der staatlichen Gesetze. Das heißt nicht, dass der Staat permanent gewalttätig auftreten würde, im Gegenteil, meist herrscht er durch bürokratische Briefe und gelangweilte Sachbearbeiter auf dem Amt. Aber wir müssen uns nur einmal das beeindruckende Arsenal an uniformierten Schlägertrupps und technischem Gerät ansehen, das die Polizei bei größeren Demonstrationen oder Fußballspielen auffährt oder an die Sondereinsatzkommandos denken, die im Fernsehen manchmal bei der Verbrecherjagd gezeigt werden, um uns klar zu machen, welche Gewaltmittel der Staat in Reserve hat, falls Menschen sich einmal entschließen sollten, seinen Anordnungen nicht zu gehorchen. Die Furcht vor dieser Gewalt haben wir alle tief verinnerlicht und sie ist auch der letztendliche Grund dafür, warum viele angesichts eines amtlichen Schreibens in Panik geraten, obwohl es doch an sich nur ein Stück Papier ist.
An dieser Stelle drängen sich nun möglicherweise einige Fragen auf: Ist das Gewaltmonopol des Staates denn nicht notwendig, auch wenn es die Einzelnen in ihrer Freiheit beschränkt? Würde ohne Polizei nicht Mord und Totschlag ausbrechen und wir könnten uns unseres Lebens nicht mehr sicher sein? Zeigen nicht die blutigen Bandenkriege in sogenannten failed states wie Somalia, Libyen oder dem Irak, wie verheerend es ist, wenn der Staat sein Gewaltmonopol nicht durchsetzen kann?