Hintergrund: Vorgeschichte des Streik von 2012
Urgeschichte: 2005.
Die liberale Regierung hatte die Entscheidung getroffen, die meisten der Stipendien des „Darlehen und Stipendien“ genannten finanziellen Hilfsprogramms für Studenten in Darlehen zu verwandeln, die man wieder zurückzahlen muss. Alle großen Studentenverbände von den reformistischen FÉCQ und FÉUQ bis zur „kämpferischen syndikalistischen“ ASSÉ lehnten die Reform ab.
Der Streik begann am 21. Februar, als die Vereinigung der Anthropologiestudenten an der Universität von Montréal – ein Mitglied von CASSÉÉ – ein Streikmandat billigte. Die Sache begann tatsächlich drei Tage später, am 24. Februar, als mehr als 30.000 Mitglieder von CASSÉÉ in den Streik traten. DÉCQ und FÉUQ riefen zu Streiks am 4. März beziehungsweise am 9. März auf, und am 15. März waren über 100.000 Studenten aus der ganzen Provinz im Streik.
Der anderthalb Monate andauernde Streik war bis dahin der längste und am meisten Unruhe stiftende Streik in der Geschichte Québecs. Es gab in seinem Verlauf zahlreiche Demoaktionen: Blockaden von Brücken, Blockaden des Hafens und des Casinos, Sabotage von Tankstellen, Störungen der unterirdischen Einkaufszentren. Es gab auch konfrontative Demonstrationen mit Angriffen auf die Polizei und das private Eigentum. Für die Regierung wurden die negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft bedeutsamer als die Einsparungen, die durch die Kürzung der Stipendien erreicht worden wären.
Die Regierung entschloss sich schließlich, mit „den Studenten“ zu verhandeln – also den Führern von FÉCQ und FÉUQ, nicht aber von CASSÉÉ. Anders als beim Streik von 2012 vertraten die reformistischen Verbände 2005 die Mehrheit der streikenden Studenten, und die Anführer dieser Organisationen waren über die Rückkehr zum Lehrbetrieb froh, sobald die Regierung die Reformen zurücknahm. Um es deutlich zu machen: Sie machten einen Rückzieher, gerade als sich die Regierung in einer Position tiefer Schwäche befand, und verpassten die Möglichkeit, den Druck weiter zu steigern, um größere Zugeständnisse zu sichern. Die mit der CASSÉÉ assoziierten Aktivisten denunzierten die Führer von FÉCQ und FÉUQ als Verräter; während einer berüchtigten Aktion ließen sie Ratten in die Büros von FÉUQ. Angesichts der Polizeirepression noch isoliert, konnte CASSÉÉ den Streik nicht lange fortführen und war bald gezwungen sich aufzulösen.
2005 war das erste Jahr, in dem die Studentenbewegung das rote Quadrat als Symbol benutzte, was anzeigte, dass die Studenten „voll und ganz rot“ waren – ein Ausdruck, der sowohl in Französisch wie in Englisch funktioniert. Ohne über seine Ursprünge Bescheid zu wissen, verwendeten die Studenten dieses Symbol der an direkten Aktionen orientierten Bewegung gegen Obdachlosigkeit, die nur einige Jahre vorher in Québec recht stark gewesen war. Am 30. März 2005 hängten einige Aktivisten ein rotes Quadrat an das riesige über der ganzen Stadt thronende Kreuz auf dem Mont Royal. Dies wurde zu einem einprägsamen Bild des Streiks.
November 2007.
Die Studiengebühren wurden erhöht. Die Einschreibung in die Universität kostete den Québecer Studenten 100 Dollar mehr als im Vorjahr.
Im Rahmen der Bemühung, einen längerfristigen unbegrenzten Generalstreik 2008 zu organisieren erteilten Vollversammlungen an einigen isolierten, meist mit der ASSÉ assoziierten Schulen ganz Québecs ein Streikmandat für den 12., 13. und 14. November. Strenge Streikposten wurden organisiert, unter anderem am Dawson College, der ersten englischsprachigen Schule, die jemals an einem Studentenstreik teilnahm. Es gab auch eine Besetzung der Cégep du Vieux Montréal, die von einem Polizeieinsatz brutal unterdrückt wurde. Man erinnert sich an ihn als den „Dienstag der Schlagstöcke“. Die Bemühungen, die Zugänge zum Unterricht zu blockieren, waren wegen der Repression wirkungslos.
Es gab im Jahr 2008 keinen Streik. Die Bewegung war unorganisiert. Im folgenden Jahr wurden die Studiengebühren für die Québecer Studenten um weitere 100 $ angehoben und danach während eines angegebenen Zeitraums, bis zum Schuljahr 2011/12, schrittweise weiter erhöht.
6. Dezember 2010.
Die seit 2003 an der Macht stehende liberale Regierung traf sich mit Vertretern des CRÉPUQ und den drei Studentenverbänden. Busladungen voller Studenten kamen aus ganz Québec, aber hauptsächlich aus Montréal, um außerhalb des Treffens zu demonstrieren. Drinnen bestätigte die Regierung und die CRÉPUQ den Studenten, dass die Studiengebühren für die nächsten fünf Jahre jedes Jahr um 325 $ erhöht würden; sie bestanden darauf, dass die Entscheidung bereits getroffen sei und es keine Alternative gebe. Das zwang die Studentenvertreter dazu, das Treffen zu verlassen, worauf eine aus Anarchisten, Kommunisten und anderen Aktivisten zusammengewürfelte Gruppe versuchte hineinzukommen: Sie sickerte ins Gebäude ein, besprühte Wände und versuchte, Barrikaden zu errichten und die Türen zum Konferenzraum aufzubrechen, bevor die Québecer Stadtpolizei sie hinaus jagte.
Besser als gar nichts, aber keine Wiederholung der Belagerung des Millbank Towers in London, England, weniger als einen Monat zuvor.
12. März 2011.
Das Sozialbündnis – eine Vereinigung von sieben Arbeitergewerkschaften plus FÉCQ und FÉUQ – rief für den 12. März 2011 zu einer Demonstration auf, um einen „vernünftigen Etat“ zu fordern. In einem Aufruf zu einem antikapitalistischen Block brandmarkten Anarchisten diese Organisation, ihre Rhetorik – besonders ihr Appellieren an die Mittelklasse – und ihre die kurzsichtige Strategie, die darin bestand, eine Politikergang durch eine andere zu ersetzen. Als der Tag dann schließlich kam, identifizierten Friedenspolizisten der Gewerkschaft 12 schwarz tragende Leute als Störenfriede bei der Polizei: Sie wurden, noch bevor die Demo anfangen konnte, festgenommen, wegen krimineller Verschwörung und dem Tragen von Waffen angeklagt. Außerdem wurde zwischen ihnen eine Kontaktsperre verhängt. Die Verschwörungsanklage wurde schnell fallengelassen.
Für die Nacht wurde zu einer spontanen Solidaritätsdemonstration aufgerufen. Es tauchten hauptsächlich Anarchisten auf und es gab Zusammenstöße mit der Polizei. Ein beliebter Spruch dieser Nacht war „LE 15 MARS. LA VENGEANCE“ (15. MÄRZ. RACHE!), was auf die jährliche Antipolizeidemonstration einige Tage später anspielte. Unglücklicherweise wurde die Antipolizeidemonstration am 15. März nach nur fünfundvierzig Minuten aufgelöst.
Weitere Ereignisse im März 2011.
Am 24. März wurden die Büros des Montréaler Finanzminister kurzfristig besetzt, gefolgt von einem zu Unruhe führenden Marsch. Eine Woche später, am 31. März, wurden während einer landesweiten Demonstration, zu der alle drei Studentenverbände aufgerufen hatten, die Büros der CRÉPUQ im Gebäude von Loto Québec in der Sherbrookestrasse von einigen mit ASSÉ verbundenen Aktivisten besetzt, unter ihnen einige Anarchisten. Die Besetzer verhandelten schnell mit der Polizei, um aus dem Gebäude herausgelassen zu werden, aber die Leute versammelten sich weiter davor und weigerten sich, sich zu zerstreuen, bis die Polizei Blendschockgranaten einsetzte.
Diese Zusammenstöße waren unentschlossen, und zu dieser Zeit war die hinter ihnen steckende Strategie unklar. Dennoch zeigten sie, dass einige Teilnehmer an der Studentenbewegung willens waren, den Normalbetrieb zu stören.
Plötzlich: Occupy Montréal.
Kurz nachdem es Occupy Wallstreet am 17. September misslang, die Wallstreet zu besetzen, organisierten Leute in Montréal – wie überall in Nordamerika – ihre eigenen Ableger. Statt Impulse für einen Streik zu erzeugen, zogen es viele Leute vor, ihre Energie auf Occupy Montréal zu verlagern, einer Bewegung, die schnell viele zweifelhafte Merkmale annahm. Diese beinhalteten einen strengen Pazifismus, die Fetischisierung der Vollversammlung und das Zulassen der Teilnahme einer nationalistischen Bürgerwehr, die Staatsbürgeranhängern [1] und Verfechtern der Idee der Überlegenheit der Weißen dazu dient, neue Mitglieder zu rekrutieren. Während etablierte anarchistische Zusammenhänge anderswo in Nordamerika wenigstens versucht haben, in die örtlichen Erscheinungsformen des Occupy-Phänomens einzugreifen, dauerte das anarchistische Engagement in Occupy Montréal nur kurz.
Während andere daran arbeiteten, die weitverbreitete Auffassung anzukratzen, das Gewaltfreiheit eine gangbare Strategie für eine Bewegung gegen die Sparmaßnahmen wäre, verhalf Occupy Montréal diesem Trugschluss zu erneuerter Glaubwürdigkeit. Gerade als Leute sich bemühten, die Verschärfung der kapitalistischen Ausbeutung in ihrer Montréaler Spezifik herauszuarbeiten, nahm Occupy Montréal bereitwillig eine vereinfachte Analyse an, die unnötigerweise aus den Vereinigten Staaten importiert wurde. Als Aktivisten eine Strategie darüber entwarfen, irgendwas zu besetzen, hatte Occupy Montréal den bedauerlichen Effekt, viele Leute vor diesem Wort zurückschrecken zu lassen, damit sie nicht mit der 99%-Rhetorik in Verbindung gebracht würden.
So reich die eigene Tradition des Widerstandes in Montréal ist, sie konnte nicht mit einer massenproduzierten Nullachtfünfzehnprotestkultur konkurrieren, die von südlich der Grenze importiert wurde.
10. November 2011.
Während des Sommers 2011 einigten sich FÉCQ, FÉUQ und ASSÉ darauf, der Regierung ein Ultimatum für den 10. November zu präsentieren: Gebt unseren Forderungen nach oder wir streiken. Ein erstaunlicher Teil der Mittel der Bewegung flossen in die Werbung für diese letztendlich beschwichtigende Demonstration. Wegen des Verrats am 2005er Streik war die Beteiligung von FÉCQ und FÉUQ unter den radikaleren Studenten umstritten.
Der Tag begann mit Streikposten an mehreren Schulen. Einige von ihnen, vor allem an den englischsprachigen Hochschulgeländen wie Concordia und Dawsons College waren „weiche“ Streikposten, die nicht versuchten, den Zugang zu blockieren; andere waren hingegen „hart“ – wenn auch nicht immer effektiv, wie etwa an der UQÀM, wo es vielen Arbeitern und Studenten möglich war, durch den Streikposten in die Schule zu schlüpfen.
Die Demonstration begann am Nachmittag mit einigen Kontingenten von den Universitäten und den Cégeps des Innenstadtareals, die sich auf der McGill-College-Allee trafen. Die Demo marschierte eine lange Zeit in der Innenstadt herum, und als sie schließlich wieder an die McGill-Universität zurückkehrte, gab es eine Konfrontation vor den Montréaler Büros von Jean Charest, bei der ein Aktivist verhaftet wurde. Das war teilweise der Fehler der mit der FÉUQ assoziierten Demoorganisatoren, die die Bestrebungen sabotierten, das Gebäude anzugreifen. Einige andere wurden in der Nähe bei der Besetzung des Verwaltungsgebäudes der McGill-Universität verhaftet. Wieder sabotierten die Demoorganisatoren, dieses Mal inklusive der ASSÉ-Aktivisten, die Bemühungen derjenigen, die die Menge darüber unterrichten wollten, was in ihrer Nähe passierte. Die Organisatoren bestanden darauf, dass es für die Studenten an der Zeit wäre, zu ihren Bussen zurückzugehen, wobei sie absichtlich ignorierten, dass ein großer Teil der Menge aus Montréal kam.
Wenn der 10. November zu einem Tag der Konfrontation erklärt worden wäre, nach dem Muster der jüngsten Aktionen für die Verteidigung der Bildung in Italien, Griechenland, Chile und sogar in England, so wären weniger Leute auf der Straße gewesen. Aber wie nützlich waren die zusätzlichen Teilnehmer, wenn das Resultat eine passive Demonstration ist, die von der Regierung ignoriert werden kann? Selbst wenn man es als wünschenswert betrachtet, der Regierung ein Ultimatum zu stellen, wäre es doch überzeugender gewesen, diese Drohung zu unterstreichen, indem man etwas tut und dabei droht, es weiter zu tun?
13. Februar 2012.
Das Ultimatum vom 10. November wurde ignoriert – also begann der Streik. Zwei Fakultäten der Laval-Univerisät und eine Fakultät an der UQAM votierten für den Streik und schlossen sich CLASSE an. Von diesem Zeitpunkt an wuchs die Zahl der Streikenden für etwa eineinhalb Monate jeden Tag.
[1] Die Positionen der Citizenists (Staatsbürgeranhänger) reichen von der Befürwortung der Privilegien für Staatsbürger bis zum expliziten Aufruf, Nichtstaatsbürger abzuschieben – oder Schlimmeres. Citizenism (Staatsbürgeranhängerei) weist strukturelle Ähnlichkeiten mit white supremacism (Idee der weißen Überlegenheit) auf, und oft überlappt sie damit. In Québecer Kontext betonen die citizenists die Beherrschung des Französischen und die Zustimmung zu den „Québecer Werten“