26. März bis 19. April: Zeiten der ökonomischen Störung
Anfang März hatten CLASSE, FÉCQ und FÉUQ entschieden, dass am 22. März eine weitere landesweite Demonstration im gleichen Stil wie am 10. November 2011 stattfinden sollte, wobei ein weiteres Ultimatum für die Regierung formuliert wurde: „Wenn diesmal unsere Forderungen nicht eingelöst werden, werden wir eine gemeinsame Kampagne starten, um die Wirtschaft zu stören.“
Statt mit Störungen der Wirtschaft zu drohen und zu zeigen, was die Bewegung in diese Richtung erreichen könnte, bestand die Strategie von CLASSE wieder einmal darin, die Öffentlichkeit via Massenmedien für sich zu gewinnen. Dies ist gewiss wichtig, sollte aber bei der Betrachtung der sich entwickelnden kollektiven Kraft nicht im Vordergrund stehen.
Anarchist_Innen versuchten, Montreals Hafen zu blockieren, um dem Tag stärker ein konfrontatives Moment zu verleihen. Ohne die institutionelle Unterstützung, die der passiven Demonstration im Stadtzentrum zugeteilt wurde, war dies allerdings nicht so erfolgreich wie gehofft.
Wie von den Anarchist_Innen erwartet, ignorierte die Regierung eine der größten Demonstrationen der bisherigen Geschichte Kanadas mit mehr als 200.000 Teilnehmer_Innen auf den Straßen. So zögerlich auch der CLASSE-Kongress seine Unterstützung für ökonomische Störungen ausgesprochen hatte, dies bewog alle Mitglieder der Koalition zu der Ansicht, dass die Zeit jetzt gekommen sei. CLASSE stürzte sich in das Projekt, den Ablauf kapitalistischer Wirtschaft in Montreal, Québecs ökonomischen Motor, zum Stoppen zu bringen. Es avancierte von der einfachen Unterstützung von Demonstrationen und Aktionen auf der Website, von denen die meisten von einzelnen Studierenden-Assoziationen oder informellen Gruppierungen organisiert wurden, zur eigenen Organisation solcher Aktionen. Am 26. März begann die erste semaine de perturbation économique [Woche der ökonomischen Störung]. Es folgten viele weitere.
Die von CLASSE organisierten Demonstrationen brachten eine riesige Anzahl von Menschen auf die Straße, aber auch bei anderen Demonstrationen – kleineren, die unabhängig von CLASSE organisiert wurden und denen weniger Ressourcen zur Verfügung standen – stiegen die Zahlen signifikant. Trickle-Down-Wirtschaft ist Quatsch, aber der Trickle-Down-Effekt scheint in Volksauflehnungen zu funktionieren.
Bevor wir auf den Verlauf der Geschehnisse eingehen, sollten wir all die bereits geschehenen Demonstrationen und Aktionen beachten. ASSÉ-Aktivist_Innen hatten bereits verschiedene Demonstrationen und Aktionen während des Schuljahres 2010/11 organisiert; ihre politische Kultur – die stark durch die Aufnahme weniger militanter Studierendenassoziationen in CLASSE verwässert wurde – war sehr an direkter Aktion orientiert. Im Februar 2012 organisierten Studierendenorganisationen, die bereits vor 2012 Mitglieder von ASSÉ waren, unabhängig voneinander mehrere Demonstrationen und Aktionen: einen Protestmarsch auf der Autobahn 40, einen Versuch, das Centre du Commerce Mondiale [Welthandelszentrum] stillzulegen und eine Blockade der Jacques-Cartier-Brücke. Dies waren alles keine kleinen Angelegenheiten, obgleich sie kleiner waren als einige der riesigen Aktionen die im April 2012 folgten.
Das entscheidende Merkmal der Demonstrationen und Aktionen des Streiks 2012 war, dass diese sehr früh am Morgen begannen (häufig zwischen 5:30 Uhr und 9 Uhr, meistens zwischen 7 Uhr und 7:30 Uhr). Gewöhnlich war ihr Zweck, den Arbeitstag zu stören, entweder durch den Versuch, eine Verspätung der Arbeitenden auf ihrem Weg zur Arbeit herbeizuführen, oder durch den Versuch, sie bei der Ankunft vom Betreten ihres Arbeitsplatzes abzuhalten. Als CLASSE zu ökonomischen Störungen aufrief, gab es plötzlich sehr viel mehr Aktionen am frühen Morgen: Viel mehr Menschen standen auf, um daran teilzunehmen und es öffnete sich für Leute ein Raum, in dem eigene Aktionen geplant werden konnten.
Zwischen dem 26. März und dem 19. April gab es Dutzende von Aktionen. Die Hauptbüros der SAQ [8], einem staatlichen Unternehmen, das Alkohol vertreibt, wurden am 27. März blockiert sowie am 5. April das für die Distribution in Montreal zuständige Büro. Der Hafen von Montreal wurde zum zweiten Mal in einer Woche blockiert und dies – dank der großen Teilnehmerzahl, die, als die Aktivist_Innen ihr Ziel erreichten, etwa bei 1000 lag – um einiges erfolgreicher als am 28. März. Die Polizei schaffte es für über zwei Stunden nicht, in den Hafen einzurücken. Weitere Blockaden folgten am 5. und 10. April.
Am 29. März begannen vier verschiedene Protestmärsche am Square Philipps – jeder durch eine unterschiedliche Farbe gekennzeichnet, welche die Linien der U-Bahn Montreals repräsentierten – und verteilten sich über verschiedene Bereiche der Innenstadt als Teil einer Demonstration, die den Namen Grande Mascarade trug. Befürwortet von CLASSE und durchgeführt mithilfe der logistischen Unterstützung der Koalition, wurden alle Teilnehmenden dazu ermutigt, Masken zu tragen. Der Grund wurde explizit genannt: um die Praxis zu etablieren/normalisieren, im Angesicht polizeilicher Repressionen anonym zu bleiben. Ein_e Teilnehmer_In wurde mit ihrer Äußerung zitiert, dass die Organisator_Innen der Demo „nicht zur Gewalt aufrufen, aber sollten Leute dies tun, so ist das der Grund, warum wir auf der Straße sind; warum wir uns im Streik befinden. Es geht darum, einen günstigen Moment herbeizuführen“.
Einige Aktivist_Innen nutzten die Gunst des durch die Grande Mascarade entstanden Augenblicks, um zu randalieren, aber nicht viele. Drei Leute wurden festgenommen und der Sachbeschädigung beschuldigt; sie wurden für alles beschuldigt, was während des Tages passiert war. Eine dieser Menschen war Emma Strople, die später für die Verfolgung durch Polizei und Justiz herausgegriffen wurde. Der Einsatz von Zivilpolizei war für diese Festnahmen entscheidend.
Die National Bank, die einzige kanadische Bank mit Hauptsitz in Montreal, wurde während dieser Zeit wiederholt zum Ziel von Aktionen. Am 4. April wurde das Treffen der Aktionär_Innen im Queen Elizabeth Hotel gestört, was die erste Massenfestnahme in Montreal seit dem Abend des 15. März zur Folge hatte: insgesamt 70 Menschen. Am 11. April, als über 12 Stunden hinweg jede Stunde eine neue Demonstration mit unterschiedlichem Ziel startete, war die Blockade des Hauptsitzes der National Bank die erste Aktion. Sie dauerte etwa über eine Stunde an. Aus der nordöstlichen Ecke des Gebäudes griffen Geschäftsleute Aktivist_Innen körperlich an und wurden infolgedessen zusammengeschlagen, bis die Polizei mit Pfefferspray dazwischen ging. Die Blockade am Morgen des 11. April war wahrscheinlich die erfolgreichste der Aktionen aus dem „Hochhäuser Blockaden“-Genre.
Gleichzeitig störte eine andere Aktion – zu der von Studierendenassoziationen verschiedener Cégeps aus dem Norden Montreals und dem Vorort Laval aufgerufen worden war – für über eine Stunde den morgendlichen Berufsverkehr durch die Blockade der Viau Bridge, eine der Verbindungsbrücken zwischen der Island of Montréal und der Island of Jesus. Später am selben Tag zogen stündlich Demonstrationen vom Square Victoria los, wobei einige von ihnen weitere Störungen bewirkten. Aktivist_Innen rannten durch La Baie, ein großes Kaufhaus, und richteten Chaos an; gegen Mittag und am Nachmittag gab es Auseinandersetzungen mit Sicherheitsdiensten, als Demonstrierende versuchten, den Hauptsitz von Québecor [9] sowie später die Montreal Büros der CIBC, einer weiteren Bank, zu blockieren.
Für den Morgen des 13. April organisierten Aktivist_Innen der Concordia University mit enthusiastischer Unterstützung von außen eine ambitionierte Aktion: die Blockade des Hall Building der Universität am zweiten Tag der Examen. In einem qualitativen Bruch mit allen vorherigen Streiks der Geschichte Québecs hatten sich einige der Fakultäten der englischsprachigen Concordia University am Streik beteiligt, und es hatte mehrere kleine Aktionen auf dem Campus gegeben – wobei der Streik im Vergleich zu dem, was an französischsprachigen Bildungseinrichtungen geschah, ein Misserfolg war. Die Blockade am 13. April scheiterte, als Studierende, die eifrig ihre Klausuren schreiben wollten, Kaffee auf den gekachelten Gang vor die den Ausgang der Metro-Station zum Hall Building blockierenden Aktivist_Innen schütteten und bis Drei zählten, um dann gemeinsam die menschliche Absperrung zu durchbrechen. Die Polizei griff nicht ein, bis die Aktivist_Innen auf die Straßen zogen; erst zu diesem Zeitpunkt trat die Polizei mit dem Einsatz von Pfefferspray auf.
Am 19. April begann eine morgendliche Demonstration am Square Phillips, die sich direkt in zwei Teile spaltete. Angekündigt war die Demonstration unter dem Motto On Shutdown Le Centre-Ville [Wir machen das Stadtzentrum dicht]. Eine der zwei Gruppen zog zu den Montreal Büros der Canadian Imperial Bank of Commerce und blockierte die Eingänge, um Angestellte vom Betreten des Gebäudes abzuhalten; die andere Gruppe blieb mobil und zog durch die Innenstadt, um Chaos zu verbreiten und die Polizei abzulenken. Schließlich schloss sich diese zweite Gruppe den Blockierer_Innen an; die beiden Gruppen wurden letztlich von der Polizei gezwungen, sich aufzulösen. Leute traten gegen Autos von Zivilist_Innnen, die versuchten, durch die Menge zu fahren; eine Praxis die auch auf friedlichen Demonstrationen immer häufiger wurde, da es allgemein bekannt ist, dass Autofahrer so Leute verletzen können.
Zusätzlich zu solchen Massenaktionen gab es Angriffe auf die Wirtschaft, für die nur eine kleine Anzahl von Menschen vonnöten war sowie Angriffe, die in ihrer Zielsetzung weniger wirtschaftlich als politisch waren. Letzteres hielt an, als die Bewegung von morgendlichen Aktionen und Demonstrationen zu allnächtlichen Märschen durch die Stadt wechselte. Wir können das Plündern des Büros der Bildungsministerin zur letzteren Kategorie zählen; Busse voller Aktivist_Innen hielten vor dem Büro von Line Beauchamps [10] im Norden Montreals und stürmten das Gebäude, wobei alles zerstört wurde und die Mitarbeiter_Innen verängstigt zurückblieben. Der Kampf von Victo am 4. Mai, auf den später nochmal eingegangen wird, ist ein anderes Beispiel für politische Angriffsziele; hier wurde der jährliche Kongress der liberalen Partei zum Ziel.
Die vielleicht wichtigsten wirtschaftlichen Angriffe waren diejenigen, die das Metrosystem während des morgendlichen Berufsverkehrs ins Visier nahmen. Am 16. April wurden Säcke mit Steinen auf Gleise rund um die Stadt verteilt, was zu einigem Durcheinander führte. Dies wiederholte sich am 25. April, als zwei Rauchbomben in verschiedenen Metrolinien hochgingen und eine weitere im Complexe Desjardins explodierte, einem Einkaufszentrum, in dem auch viele Büros von Unternehmen untergebracht sind. Am 10. Mai gab es als Resultat von vier Rauchbomben, die in einigen der Hauptmetrostationen Montreals hochgingen, ein noch viel größeres Chaos. Diejenigen, die für diese Aktion strafrechtlich verfolgt werden, sind die ersten Angeklagten, die unter eines der nach 9/11 erlassenen Anti-Terrorismus Gesetze fallen, die es jedem verbieten, einen terroristischen Scherz, definiert als die Herbeiführung einer Situation, in der es für Betroffene rational ist, davon auszugehen, dass ein terroristischer Anschlag stattfinden wird oder gerade stattfindet, zu begehen.
Es gab auch andere Angriffe, die weniger strategisch und eher individuell ausgeführt wurden – Graffitti, eingeschlagene Fensterscheiben, nächtliche Attacken auf parkende Polizeifahrzeuge – und doch gemeinsam eine Atmosphäre der Spannung schafften. Solche Anschläge gibt es immer in Montreal, aber die Anzahl stieg seit dem Anfang des Streiks. In der Nacht auf den 15. April gab es einen koordinierten Angriff auf vier verschiedene Regierungsbüros in Montreal, bei dem Fenster zerbrochen und nicht-gezündete Molotowcocktails im Gebäude hinterlassen wurden, wahrscheinlich als Drohung – wobei die Logik hinter solch einer Drohung undurchsichtig ist. Andere Ziele waren das SNC-Lavalin, eine Ingenieurfirma welche die Sicherheitsabsperrungen für den G20 Gipfel in Toronto herstellte, und die Büros der Boulevardtageszeitung Le Journal de Montréal.
Diese und viele andere Aktionen hätten niemals so militant werden können, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den die ganze Zeit parallel stattfindenden größeren Aktionen und Demonstrationen gestanden hätten. Letztere fanden weitaus öfter statt, als es diese kurze „best-of“-Liste zeigen kann.
[8] A.d.Ü: Société des alcools du Québec (SAQ): ‚Unternehmen der Alkohole Québecs’.
[9] A.d.Ü: Eines der größten Medienunternehmen Kanadas.
[10] A.d.Ü: Damalige Bildungsministerin; Rücktritt im Mai 2012 im Zuge des Bildungsstreiks.