24. April bis 16. Mai: Die erste Welle von Nachtdemonstrationen
Während des gesamten Verlaufs des Streiks – eigentlich schon seit dem 6. Dezember 2010, als Bündnisse von Studierenden den Abbruch eines Treffen mit der Regierung und CRÉPUG erzwangen – hatte die Regierung sich geweigert, mit Studierendenvertretern zu verhandeln. Charest und seine Bildungsministerin, Line Beauchump, waren für Verhandlungen mit den Präsidenten von FÉCQ und FÉUQ offen, verweigerten jedoch kategorisch Treffen mit CLASSE, bis sich die Gruppe von der Gewalt distanziert und randalierende Mitglieder in den Griff bekommen habe. Um sie besonders zu verspotten, wurden Kommentare von Gabriel Nadeau-Dubois, einem Sprecher für CLASSE, herausgegriffen, die er Anfang April gemacht hatte: „Wir [die Exekutive von CLASSE] haben von unseren Mitgliedern weder die Vollmacht, Gewalt zu befürworten noch sie zu denunzieren“.
Am 22. April, dem zweiten Tag des Wochenendkongresses von CLASSE, wurde ein Antrag angenommen, über den die Medien als Beschluss zur Ablehnung von Gewalt bzw. „physischer Gewalt“ berichteten. Tatsächlich wurde nicht alles kategorisch abgelehnt, was unter Gewalt verstanden werden kann; es handelte sich lediglich um die Ablehnung von Gewalt gegen Menschen und sogar dabei mit dem Vorbehalt des Rechts auf Selbstverteidigung. Die Mitglieder hätten einer breiter gefassten Ablehnung nicht zugestimmt, aber das Medien-Komitee von CLASSE verdrehte den Beschluss auf positive Art und die Medien nahmen es so an. Dies war für die Regierung ausreichend, um am Montag dem 23. April zu erklären, dass sie sich unter einer Bedingung mit CLASSE an den Verhandlungstisch setzen würden: Während der Verhandlungsperiode dürften keine störende Demonstrationen stattfinden.
Das Exekutivorgan von CLASSE stimmte dieser Bedingung zu. Dies war sowohl kontrovers als auch kompliziert. Für die nächsten zwei Tage waren eh keine Aktionen geplant; es könnte also sein, dass die Exekutive nur zwei Tagen ohne Störungen zugestimmt hatte – wenn auch einige annehmen, dass die Repräsentativen von CLASSE sich ohne Bevollmächtigung auf eine länger gehende Waffenruhe eingelassen hatten. Auf jeden Fall war eine Demonstration für die Nacht des 24. April angesetzt, die nicht von CLASSE organisiert wurde, sondern von einer streikenden Fakultät der UQÀM. Diese wurde um eine Nacht verschoben, angeblich wegen schlechtem Wetter, wobei wir hier über Québec reden – Menschen waren den gesamten Februar hindurch durch Schneestürme marschiert. Im Übrigen war das Wetter blendend. Viele glauben, dass die Anführer von CLASSE Druck auf die Fakultät ausgeübt haben, obwohl es genauso eine Bemühung seitens der Fakultät gewesen sein könnte, um die von den Anführern ausgehandelte Waffenruhe zu respektieren – in diesem Fall wundert man sich aber, warum sie diese dummen Ausflüchte mit dem Wetter gewählt haben.
Einige Aktivist_innen, die nicht Teil der streikenden UQÀM-Fakultät und gegen die Waffenruhe waren, organisierten ihre eigene Demonstration zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Die Demonstration traf sich am Berri Square und startete dann in die Straßen. Obwohl nur ein kleiner Teil der Menge sich an Konfrontationen beteiligte, unterband niemand die Anstrengungen einiger, Steine auf die Polizei zu schmeißen oder Fenster von Banken zu zerstören. Es passierte nicht viel, und die Polizei löste schließlich die Menge auf, wobei 5 Menschen festgenommen wurden. Dies war jedoch für Beauchamp Grund genug, um CLASSE am Mittwoch morgen von den Verhandlungen auszuschließen. Die leitenden Mitglieder von CLASSE beharrten darauf, dass sie die Demonstration nicht unterstützt hätten und dass diese gegen ihren Wunsch organisiert worden sei, aber Beauchamp beschuldigte CLASSE, ein doppeltes Spiel zu spielen, da das Facebook-Event für die Demonstration von der Seite der Koalition aus verlinkt worden war. Aus Solidarität mit den bestraften Sprecher_innen von CLASSE verließen auch die Leiter_innen von FÉCQ und FÉUQ die Verhandlungen.
Die aufgeschobene Demonstration in der Nacht des 25. April – angekündigt als OSTIE DE GROSSE MANIF DE SOIR, was jedoch schnell seinen Reiz verliert, wenn man das als „big fucking night demo“ [große verfickte Nachtdemo] übersetzt – war viel größer und umfasste eine viel größere Vielfalt an Menschen, einschließlich einer beträchtlichen Anzahl von Leuten, die der FÉCQ und FÉUQ politisch näherstehen und von denen nur wenige an den CLASSE-Aktionen der ökonomischen Störungen teilgenommen hatten. Es ist denkbar, dass viele von ihnen nur zu den großen passiven Demonstrationen, die von den reformistischen Bündnissen organisiert worden waren, auf die Straße gegangen waren; als eine große Anzahl von Menschen begann, die Polizei zu bekämpfen, könnte es sehr gut sein, dass einige zum ersten Mal an so etwas beteiligt waren.
Als die Menge in dieser Nacht am Berri Square zusammenkam, sammelten sich viele verschiedene Gruppen auf unterschiedlichen Teilen des Platzes und zeigten sich gegenseitig ihre Positionen durch weiße Fahrradlichter an. Sie hatten – aus welchem Grund auch immer – entschieden, sich nicht gemeinsam auf dem Platz zu sammeln, sondern Distanz zwischen sich zu wahren; dies ist das einzige Mal, dass so etwas während des Streiks vorkam. Als die Menge begann, sich zu bewegen, war eine Gruppe von etwa 75 Straßenkämpfer_innen an der Spitze der Demo und eine andere Gruppe von ungefähr 50 Leuten in der Mitte; die hintere Gruppe wusste nicht über die vordere Gruppe Bescheid, bis sie an Gegenden vorbei kam, die bereits erheblichen Eigentumsschaden erlitten hatten. Beide Gruppen begannen sehr früh, Steine und Brocken vom Pflaster zu sammeln und in Tüten aufzubewahren. Im Laufe der Nacht wurde die Polizei kontinuierlich angegriffen und musste unter Steinregen zurückweichen. Zu einem Zeitpunkt wurde eine Polizeistation für mehrere Minuten attackiert; eine Medienquelle berichtete, die Polizeibeamten hätten während des Angriffs Angst gehabt, dass Molotowcocktails hineingeworfen werden könnten. Der Riot dauerte drei Stunden.
Nach dem 25. April, dem Höhepunkt der Konfrontationen für die Nachtdemonstrationen, beruhigte sich die Situation, da die peace police – auf französisch les paci-flics, pacifiste + das Wort für „Bulle“ – vermehrt Straßenkämpfer_innen angriff: manchmal versuchten sie einfach, die Leute davon abzubringen, manchmal, sie zu entmummen, oder es wurde versucht, sie direkt den zuständigen Autoritäten auszuliefern. Obwohl konfrontative Aktionen während der Periode der Nachtdemonstrationen vom 25. April bis zum Wochenende vor der anarchistischen Buchmesse im Mai weiterliefen, wurde es sehr viel gefährlicher, sie durchzuführen. Anfang Mai dankte die SPVM bei mehreren Gelegenheiten den „Kollaborateuren“ auf ihrem Twitter-Account. Anarchist_innen fuhren mit dem Verteilen von Material zur Kritik des Pazifismus fort und argumentierten für vielfältige Aktionsformen – aber im Allgemeinen erlöschten die konfrontativen Aktionen bis zum 16. Mai.
Emma Strople, eine der drei Leute die von der SPVM bezichtigt wurden, während der Grande Mascarade am 29. März Unheil angerichtet zu haben, war am Dienstag, dem 24. April, für die angebliche Nichtbeachtung der Auflagen der vorzeitigen Entlassung, nicht an irgendeiner als illegale Versammlung erklärten Demonstration teilzunehmen, festgenommen worden. Nachdem die Kaution gezahlt worden war, wurde sie am Mittwoch Morgen ohne eine Veränderung der Auflagen aus der Haft entlassen. In jener Nacht wurde sie ein zweites Mal festgenommen.
Die SPVM meldete dem Gericht, dass Emma abermals die Auflagen ihrer Entlassung gebrochen habe. Tatsächlich zeigte das Filmmaterial der Sicherheitskamera der Metro, dass sie zu der Zeit, von der die Polizei es behauptete, nicht auf der Demo war. Trotzdem verbrachte sie vier Nächte im Tanguay Prison for Women [Frauengefängnis] in der nördlichen Gegend von Ahuntsic; während dieses Zeitraums kamen etwa 75 Leute für eine Lärmdemonstration zusammen und liefen die 16 Blöcke westlich von der Henri-Bourassa Metro Station zum Gefängnis ab. Als sie am 30. April entlassen wurde, waren die Bedingungen ihrer Entlassung modifiziert: Binnen einer Frist von drei Tagen dürfte sie sich nicht länger auf dem Island of Montreal aufhalten, egal aus welchem Grund. Sie war ins Exil geschickt worden.