Der Untergang des SDS
Doch wurde gerade diese experimentelle oder auch als antiautoritär bezeichnete Strömung von den eher traditionalistischen Flügeln innerhalb der Linken oft misstrauisch beäugt. Am Anfang, als Dutschke und Kunzelmann den SDS unterwanderten, galt dies etwa für die Keulen-Riege und den Argument-Club. Auch wenn der Kreis um Dutschke diese Hürde nahm, darf man nicht vergessen, dass der SDS der traditionellen Linken entstammte und diese Herkunft auch nie abstreifen konnte. Langhans Satz: „Was geht mich der Krieg in Vietnam an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe?“ brachte zwar ganz schöne Unruhe in die Schar der eigentlich eher biederen SDS-Jungmänner, aber alles in allem blieb man sich gleich. Nun war der SDS durch seine Umfunktionierung durch die Leute aus dem Umfeld der Subversiven Aktion scheinbar zum organisatorischen Zentrum der antiautoritären Revolte aufgestiegen. In Wahrheit hatte der SDS aber mit dem 2. Juni seinen Höhepunkt erreicht und auch dies letztlich nur wider Willen. Er war damit eigentlich bereits schon wieder obsolet, und es hätten sich andere Formen finden müssen. Auf der 22. ordentlichen Delegiertenkonferenz des SDS im September 1967 analysiert Dutschke zusammen mit dem Frankfurter Studentenführer Krahl, dass „die überkommene, noch an der SPD orientierte Organisationsstruktur des SDS“ der „noch nie dagewesenen Verbreiterung des antiautoritären Protestes nach dem 2. Juni“ nicht gewachsen sei. „Die Spontaneität der Bewegung droht, die größten Gruppen organisatorisch zu paralysieren“. Es wäre vielleicht möglich gewesen, den SDS seinem Schicksal zu überlassen, und Dutschke hätte es eigentlich besser wissen müssen, da er immerhin aus der Tradition der Subversiven Aktion kam. Aber wahrscheinlich zeigen hier die beiden verhängnisvollen Spaltungen – einmal der Subversiven Aktion selbst und dann zwischen Kommune I und SDS – ihre erste Wirkung. Die Subversive Aktion war von der Einsicht ausgegangen, dass der Sinn einer jeden revolutionären Organisation in ihrem Scheitern besteht, und einem Böckelmann war der ganze SDS-Zirkus mit den Delegiertenkonferenzen von vornherein lächerlich vorgekommen. Auch im Kommuneumfeld sah man den Sachverhalt klarer. So zitiert die durch das Buch »Klau mich« berühmt gewordene Anklageschrift in einem großen Prozess gegen die Kommune ausführlich den Kommunarden Hans-Joachim Hameister, der zum Problem des SDS Stellung bezog:
„Die gemeinsame Erfahrung, die seine Mitglieder bewogen haben, ihm beizutreten, ist, dass gar nichts da ist und dass etwas anderes als der SDS nicht da ist. Es ist wirklich ganz allgemeines dunkles Unbehagen, das im Beitritt zum SDS sich ausdrückt. Mehr nicht und meistens bleibt es dabei, d. h. der Verband, die ‚einzige funktionierende sozialistische Organisation in der Bundesrepublik‘, ist unfähig, dieses allgemeine dunkle Unbehagen aufzunehmen als das, was es ist, nämlich als allgemeines, das ganz unspezifisch an die Nieren geht. Das allgemeine Elend, das der Verband nicht artikulieren kann, es bleibt der Boden, auf den der Verband kein Bein bekommt. Das drückt sich so aus: Individuen, im Namen der Arbeiterklasse versammelt, die sich selbst und anderen unbekannt bleiben. Verdinglichte Theorie und Spontanpraxis, die sie nicht aufheben kann.“
Tatsächlich schafft es kaum eine revolutionäre Gruppe ihre eigene Auflösung zu verkünden, sobald sie ihren Höhepunkt hatte, und schon gar nicht der im Wesen nicht revolutionäre SDS. Dutschke und Krahl fürchteten sich vor der Paralyse eines überkommenen Vereins, der nicht mit der Aktivität größer werdender und sich radikalisierender studentischer Minderheiten umgehen konnte, aber wussten nichts Besseres, als dem SDS die „Organisationsfrage“ anzuempfehlen, die zu einer Reform des SDS führen sollte. Zunächst schwappte aber die wirkliche Bewegung weiter. Dutschke – der in dieser Zeit zum manischen Agitator mutierte – schaffte es nicht rechtzeitig, sich aus der Schusslinie zu bringen. Er schied von einem Arbeiter angeschossen vorzeitig aus, gerade als geplant war, durch einen Gastauftritt Dutschkes zum 1. Mai in Paris die Revolte stärker mit Frankreich zu verbinden. Die Studenten zettelten daraufhin zum ersten Mal selbst eine Straßenschlacht an und blockierten die Auslieferung der Springerpresse. Die Presse musste erstaunt feststellen, dass nur ein Drittel der Festgenommenen Studenten waren; es zeigte sich nämlich, dass die bislang weitgehend parallel entstehende Bewegung der Schüler und Lehrlinge durchaus für die Sache zu gewinnen war, wenn es ernster wurde: Sie waren dabei, sobald die Studenten ihre Demokratieseligkeit aufgaben und ihrerseits in die Offensive gingen. Die sogenannten Osterunruhen – denen zwei Menschen zum Opfer fielen – und später die „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968 waren so das Ende der reinen Studentenbewegung: Sie trieben die Basisgruppen hervor, in denen Studenten und Arbeiter gemeinsam Betriebskämpfe diskutierten und organisierten (vgl. SDS-Autorenkollektiv 1969). Ferner begann sich die proletarische Subkultur zu politisieren, der sogenannte Untergrund entstand, aus dem später Gruppen wie die Bewegung 2. Juni entstehen sollten.
Innerhalb der Revolte gab es den SDS – von der Kommune I spöttisch „Seriöser Deutscher Studentenbund“ genannt – und auf der anderen Seite die selbstständige Bewegung der Basis: die Kinderladenbewegung, die Stadtteilgruppen, die Betriebsgruppen, die Subkultur und ein sich rapide ausweitendes Netz von politischen Wohngemeinschaften. Es versteht sich, dass in dieser spontanen Bewegung viel Zufälligkeit lag und hier starke zentrifugale Kräfte wirkten. Zumal das Ganze von einem Aktivismus angeheizt wurde, der den Beteiligten zunehmend über den Kopf stieg, und der Staat nun anfing, die gesamte Bewegung mit Prozessen zu überziehen. Es kam in dieser Situation alles darauf an, Ruhe und Reflexion in die Bewegung zu bringen, um dann auf erweiterter Grundlage erneut zuzuschlagen. Dies misslang jedoch gründlich. Sanders schon erwähnte Kritik am SDS, vorgetragen auf der 23. Delegiertenkonferenzen des SDS, zeigt den Untergang desselben bereits an. Sander nutzte ihre Mitgliedschaft im SDS, um – gegen die Widerstände der Berliner Sektion SDS – eine programmatische Rede der Frauenbewegung zu halten. In ihr werden einige dringend notwendige Kurskorrekturen einfordert. Sie thematisierte hier die Verleugnung der weiblichen Seite der Bewegung und fordert die Kritik der falschen Trennung von privater und öffentlicher Sphäre ein. Beseelt durch die jüngeren praktischen Erfolge – die Kinderläden hatten die Frage der Aufhebung der Familie konkret gestellt und konnten so als Ausweis für die eingeforderte Aufhebung der Sphärentrennung dienen – gelang es hier, den männlichen Meisterschwätzern ihren leeren, an die Substanz gehenden Aktivismus und ihre unbefriedigende Theorieproduktion um die Ohren zu hauen:
„Genossen, eure Veranstaltungen sind unerträglich. Ihr seid voll von Hemmungen, die ihr als Aggressionen gegen die Genossen auslassen müßt, die etwas Dummes sagen oder etwas, was ihr schon wißt. Die Aggressionen kommen nur teilweise aus politischen Einsichten in die Dummheit des anderen Lagers. Warum sagt ihr nicht endlich, dass ihr kaputt seid vom letzten Jahr, dass ihr nicht wißt, wie ihr den Streß länger ertragen könnt, euch in politischen Aktionen körperlich und geistig zu verausgaben, ohne damit einen Lustgewinn zu verbinden. Warum diskutiert ihr nicht, bevor ihr eure Kampagnen plant, darüber, wie man sie überhaupt ausführen soll? Warum kauft ihr euch denn alle den Reich? Warum sprecht ihr denn hier vom Klassenkampf und zu Hause von Orgasmusschwierigkeiten? Ist das kein Thema für den SDS?“
Sie traf darin ins Mark und folgerichtig ging niemand auf die Rede ein, woran auch eine auf Krahl geworfene Tomate nichts ändern konnte. Es war damit offiziell der Untergang des SDS ausgesprochen. Sander nannte ihn einen „aufgeblasenen, konterrevolutionären Hefeteig“.
Krahl ließ sich wiederum von der Tomate kaum beirren. Zwar bemerkt er lakonisch, dass auf der 23. Delegiertenkonferenz „mit der Entmythologisierung und Entzauberung auch der eigenen Autoritäten begonnen wurde“, dies änderte aber nichts an seiner Arroganz, und so fantasierte er eine Strategie zusammen, welche die heterogene Bewegung bündeln sollte: Er kreierte ein Traumportrait einer Partei, die ausgerechnet aus dem SDS hervorgehen sollte. Auch Krahl trieb sich mit dem Problem des zunehmend panischen Aktivismus herum, wagte es aber nicht, dieser unheilvollen Dynamik prinzipiell zu widersprechen, denn das Aussetzen der Aktionen „würde bei einer sozialistischen und antiautoritären Bewegung, die sich so sehr in der Aktion und durch die Aktion konstituiert und reproduziert, tödlich sein“. Es brauche aber eine revolutionäre Organisation, um den Aktivismus in sichere Gefilde zu lenken. Dieser Organisation widmete Krahl in dieser Zeit viele seiner Gedanken:
„Erst wenn ein historisches Selbstbewußtsein organisatorische Gestalt angenommen hat, die die falsche Identitätsangst, die Bewegung sei zersetzt, wenn sie nicht alle vierzehn Tage mit einer spektakulären Aktionsfolge aufwarte, beseitigt, bieten sich die geschichtlichen Bedingungen der Möglichkeit, einen Begriff revolutionärer Strategie zu entwickeln.“
Allerdings sei es gerade der Aktivismus der wirklichen Bewegung, welcher auf den „SDS zersetzend und chaotisierend gewirkt“ habe, und genau diese leere Hülle sollte nun dazu dienen, den Aktivismus zu bremsen. Krahl versucht, aus diesem Teufelskreis durch die Propagierung der freiwilligen Disziplinierung der Antiautoritären zu entkommen. Die „erforderliche Selbstdisziplinierung des antiautoritären Emanzipationsbewußtseins“ habe nämlich „die Avantgardefrage der politischen Organisation formeller Kader auf die Tagesordnung gesetzt.“ Nur die „sozialistische Kaderorganisation“ vermöge die dezentralen Gruppen „vor den zersetzenden Folgen departementalisierender und partikularisierender ‚Handwerkelei‘ zu bewahren.“ Die „informelle Organisierung“ erweise „sich als unzureichend, denn in sie gehen immer dissozierende Momente von Kontingenz und Privatisierung, Planlosigkeit und Zufall ein.“ „Parteilichkeit und Verbindlichkeit müssen die praktischen Kriterien dieser Kader sein“. Die Reflexion über die falsche Welt sei eine „ausdauernde und angestrengte ‚Arbeit des Begriffs‘“ etc. pp. Die Revolution hört hier auf, ein Gegenstand der Lust zu sein.
Während die Männer – für die Krahl hier steht – auf keines der Argumente von Sanders Rede eingingen, verstanden die Frauen besser. Es gründeten sich überall Frauengruppen, welche dann dem SDS noch einen letzten Tritt verpassten, indem sie auf der 24. Delegiertenkonferenz ein Flugblatt verteilten in dem die Befreiung der sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen gefordert wurde. Insbesondere wurden die Namen von zahlreichen „formellen Kadern“ genannt, von denen frau nicht weiter belästigt werden wollte.