Schafft eins, zwei, drei viele Vietnam
Mitglieder der Subversiven Aktion hatten nicht nur Einfluss auf die Kommunegründungen, sondern auch auf die Hinwendung der deutschen Linken der damaligen Zeit zu den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt.
Mit Rudi Dutschke wurde der Horizont der Subversiven Aktion erweitert. Zwar war mit Blick auf die deutschen Verhältnisse hinsichtlich einer revolutionären Veränderung durchaus Pessimismus angebracht, doch schien im Weltmaßstab ein vorsichtiger Optimismus nicht abwegig zu sein. dutschke sah die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt als Beginn einer möglichen revolutionären Epoche und nicht als nachholende Modernisierungsbewegung, wie es von Böckelmann favorisiert wurde. Ersteres war jedoch nach Dutschke nur möglich, wenn die Revolution in die Metropolen hineingetragen würde, denn nur in einer weltrevolutionären Perspektive könnten die Befreiungsbewegungen den bornierten nationalistischen Standpunkt verlassen. Diese Notwendigkeit spitzte er auf dem Vietnamkongress im Februar 1968 folgendermaßen zu:
„Wenn sich dem Vietcong nicht ein amerikanischer, ein europäischer und asiatischer Cong zugesellt, wird die vietnamesische Revolution ebenso scheitern wie andere zuvor. Ein hierarchischer Funktionärsstaat wird die Früchte ernten, die er nicht gesät hat.“
Die Identifikation mit den Befreiungsbewegungen – allen voran mit dem Vietcong und der kubanischen Revolution – konnte eine Initialzündung dafür sein, die Gewaltförmigkeit auch der eigenen Gesellschaft zu erkennen, die auf der Folie der Dritten Welt deutlicher abgelesen werden konnte. Durch den Blick auf den Trikont konnte die eigene Ausbeutung und die der Arbeiter besser erkannt werden. So bestand etwa für den Frankfurter SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl, wie er 1969 vor Gericht (7) als Angabe zur Person (8) darlegte, der eigentliche Skandal darin, dass in Europa trotz des erreichten Standes der Produktivkraftentwicklung das Leben der Proletarier und des proletarisierten Bürgertums immer noch ähnlich wie das der Menschen im Trikont auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedung reduziert bleibe. Mit Bezug auf Sartre machte er eine qualitative Unterscheidung zwischen der Unterdrückung in der Dritten Welt und der Ausbeutung im Westen, beide hätten jedoch eine gemeinsame „unmittelbare Objektivität“. Während im Trikont die Menschen auf eine „brutale Animalität“ reduziert würden, entkämen auch in den entwickelten Ländern trotz der fortgeschrittenen Produktivkraftentwicklung die Menschen einer gewissen „Vertierung“ nicht: Durch die berechtigte Angst, dass ihnen jederzeit die Lebensmittel wieder weggenommen werden könnten, bliebe das Bewusstsein der Massen an die einfache Reproduktion gebunden. Deshalb sei die im Kapitalismus zur notwendigen Bedingung der Produktion erhobene erweiterte Bedürfnisbefriedigung nicht mit einem Fortschritt im Bewusstsein verbunden gewesen, ebenso wenig wie mit einer Entfaltung der Phantasie oder der schöpferischen Tätigkeit der menschlichen Natur. Im Trikont trete dies offen zutage, während es in Europa und Amerika zunächst verschleiert bleibe, bis der Blick auf die Entwicklungsländer das wahre Gesicht des Kapitalismus offenbare. Die Solidarität mit der Vietminh (9) und den anderen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt war dabei immer so lange nachvollziehbar und keine „Fernfuchtelei“, wie die Situation in der Dritten Welt für den Erkenntnisgewinn bezogen auf die eigene Gesellschaft taugte und zu Handlungen gegen das Unrecht in der eigenen Gesellschaft anstachelte: Genau wie in der Dritten Welt, so könne auch in den europäischen Gesellschaften nur derjenige seine Menschlichkeit behalten, der diese Gesellschaft radikal bekämpft.
Dieser Gedanke findet sich zugespitzt auch bei Frantz Fanon, der auch glaubte, dass die Kolonialisierten erst durch die Gewalt gegen ihre Unterdrücker zu Menschen würden. Allerdings kannte Fanon dabei keine Klassen und Proletarisierte in den Metropolen selbst, sondern nur den Widerspruch zwischen Kolonie und imperialistischen Nationen. Alle Europäer würden vom Kolonialismus profitieren und seien deshalb zum Abschuss freigegeben, wenn sie sich nicht uneingeschränkt mit den Befreiungsbewegungen solidarisierten. Damit waren jedoch auch terroristische Akte legitimiert, die die Zivilbevölkerung trafen und die die algerische Nationale Befreiungsfront (FLN) schon in den 50er Jahren Wirklichkeit werden ließ, indem sie in französischen Cafés in Algier Bomben legte. Machte der Bezug auf Fanon und den von ihm legitimierten Widerstand den Protagonisten Mut, die eigenen Skrupel zu überwinden, was für eine revolutionäre Bewegung immer nötig ist, entwickelte er sich im Laufe der Studentenbewegung zu einem moralischen Rigorismus, der Aktivismus um jeden Preis forderte und dabei immer makabrere Züge annahm: vom schmähenden Flugblatt der Kommune 2 gegen Adorno, das ihn dazu aufforderte, Geld für den Vietcong zu spenden, und sich genüsslich daran ergötzte, dass durch die geforderten 1.000 DM „18 tote GIs + mit ohne Füße“ zu erwarten wären, bis hin zum Aufbruch der Tupamaros Westberlin nach Jordanien, als sich die radikale Bewegung bereits unheilvoll mit den Palästinensern verschwisterte, was 1969 schließlich bis zu einem Anschlagsversuch auf die Berliner Synagoge führte.
Als von Fanon geforderte, uneingeschränkte Solidaritätskampagne war die Unterstützung der Befreiungsbewegungen, der südvietnamesischen im Speziellen, schon von Beginn an problematisch, da sie einer nationalistischen bis völkischen Sichtweise Vorschub leistete. Damit wurde letztendlich eine Bewegung theoretisch legitimiert, die nur verbal kommunistisch war und sich ansonsten praktisch und theoretisch auf dem Boden einer nachholenden bürgerlichen Entwicklung des Staates in seiner aktuellen historischen Fassung als Staatsautoritarismus befand. Dutschke sah zwar die Gefahr einer solchen Entwicklung, doch behauptete er auf dem großen Vietnamkongress vom Februar 1968, dass der aktuelle Kampf der Vietnamesen die Avantgarde im aktuellen Stand des Klassenkampfes bilde. Dass es sich bei den Befreiungsbewegungen durch die Bank um staatskapitalistische autoritäre Regime handelte, die in der Regel durch Bürokratien stalinistischer und maoistischer Prägung organisiert waren, wurde nur selten erwähnt, auch wenn paradoxerweise die Sowjetunion und die DDR – allen voran von Rudi Dutschke – als autoritäre Staaten abgelehnt wurden. So war auch die Geschichte der kommunistischen Partei Vietnams nicht so ruhmvoll wie von ihrem Vorsitzenden Ho Chi Minh behauptet:
„Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben sich die 17 Millionen Einwohner des Nordens unter der Volksmacht zu einem einzigen Block vereinigt, um den nationalen Aufbau in Angriff zu nehmen, ein neues Leben aufzubauen und in jeder Hinsicht die Leistungsfähigkeit des Landes zu stärken. Die erreichten Erfolge zeigen immer mehr die deutliche Überlegenheit des Sozialismus und begeistern unsere Landsleute im Süden in ihrem patriotischen Kampf.“ (Ho Chi Minh)
Seit dem Ende des 2. Weltkrieges und der japanischen Besatzung Vietnams gewann die nationalkommunistische Partei Vietminh mit Ho Chi Minh an der Spitze immer mehr Einfluss. Schon 1950 konnte sie sich rühmen, de facto zwei Drittel des Landes unter Kontrolle zu haben. Als der Indochinakrieg gegen die Franzosen 1954 endete und die Vietminh Nordvietnam zugesprochen bekamen, galten sie in den Augen vieler Vietnamesen als die wahren Befreier des Landes und hatten entsprechend großen Rückhalt in der Bevölkerung. Allerdings lag nach jahrelangen Kriegshandlungen das Land, vor allem der Norden, wirtschaftlich am Boden. Zudem war die Infrastruktur zu großen Teilen zerstört. Der notwendige Wiederaufbau, der nach kommunistischen Prinzipien vonstattengehen sollte, zeigte dann aber, dass die Kommunisten oftmals brutal und autoritär vorgingen, um ihre Zwecke zu erreichen. Eine zwischen 1953 und 1956 durchgeführte Boden- und Agrarreform etwa, bei der letztendlich alle Bauern enteignet wurden, löste großen Widerstand in der bäuerlichen Bevölkerung aus, der mit brutaler Repression beantwortet wurde und ca. 15.000 Tote und 20.000 Verhaftungen zur Folge hatte. Allerdings räumte Ho Chi Minh schon früh Fehler ein und unterband 1956 die Verfolgungen und Tötungen der Bauern.
Auch gab es ähnlich wie in der Sowjetunion groß angelegte Säuberungsaktionen, die zu massenhaften Hinrichtungen von Parteikadern führten. Das war etwa der Situationistischen Internationale (SI) bekannt, wurde aber von den deutschen Genossen zumindest nicht offen ausgesprochen. Die staatsautoritären Züge des kommunistischen Nordvietnams sowie der Kampf gegen die Amerikaner in Nord- und Südvietnam führten laut SI dazu, dass die Klassenwidersprüche innerhalb der vietnamesischen Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen wurden und die Vietnamesen einzig als unterdrücktes Volk im Kampf gegen den US-Imperialismus erschienen. Die Verbreitung dieser Ideologie war auch Teil der Strategie der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams (NLF), die ihren Kampf gegen das Regime darüber führte, dass sie den Hass auf die „US-imperialisten und seine Lakaien“ schürte. Allerdings tat sie dies zu einem Zeitpunkt, als die südvietnamesische Regierung relativ selbstständig agierte. Ihre autoritäre und brutale Führung, die sich jegliche Kritik verbat und unter dem Deckmantel, Kommunisten zu bekämpfen, nach unabhängigen Schätzungen ca. 150.000 Menschen inhaftierte und zehntausende tötete, handelte weitgehend unabhängig von den USA, wenn diese in der zweiten Hälfte der 50er Jahre auch schlichtweg nicht so genau wissen wollten, was in Südvietnam unter dem von ihnen unterstützten Herrscher Diem so alles geschah. (10)
Nach Meinung der SI verschleierte die Sichtweise von den unterdrückten Völkern auf der einen und den imperialistischen Kräften auf der anderen Seite nicht nur die wirklichen Konflikte innerhalb der vietnamesischen Gesellschaft, sondern auch die Tatsache, dass eine revolutionäre Lösung zumindest in dieser Konstellation nicht gegeben sei. Auch die SI war gegen den Krieg in Vietnam, sah aber in einer Beendigung der Aggression der Amerikaner nur die Bedingung der Möglichkeit, die wahren Kämpfe zu führen: Dies hieße, sich im Norden gegen die kommunistische Bürokratie und im Süden gegen die Feudalklasse zu richten.
Schließlich konnte die Identifikation mit dem vietnamesischen Widerstand dazu dienen, die deutsche Schuld an Auschwitz zu relativieren. Zum Ausdruck kam dies schon bei der ersten Aktion vor dem Amerikahaus: Die amerikanische Anti-Vietnamkriegs-Aktivistin Elsa Rassbach stellte bei den deutschen Kommilitonen eine „diebische Freude“ fest, endlich auf die Amerikaner schimpfen und diese mit den Nazis gleichsetzen zu können. Die bewussteren Studenten verglichen den Vietnamkrieg allerdings nicht primär mit dem Holocaust, sondern mit dem spanischen Bürgerkrieg, in dem die Nazis militärisch die Faschisten unter Franco unterstützt hatten. Dieser Vergleich traf insofern, als dass es beide Male um eine antikommunistische Politik ging, die militärisch geführt wurde. Jedoch verweist die „diebische Freude“ auf das Bedürfnis, den Amerikanern, und der auf sie nach dem 2. Weltkrieg projizierten moralischen Überlegenheit eins auswischen zu können. Solche Aktionen konnten das Minderwertigkeitsgefühl kompensieren, dass viele Deutsche hatten, sahen sie sich doch in moralischer Abhängigkeit von den Amerikanern, deren Werte und Normen sie nach dem zweiten Weltkrieg aufgrund des Druckes von außen übernommen hatten. Dieser virulente Antiamerikanismus der Vietnambewegung wurde jedoch innerhalb der Studentenbewegung nicht manifest. Im Gegenteil nahm man begierig alle Aktionsformen und kulturellen Produkte der amerikanischen Bewegung auf. Kritisiert wurden die Amerikaner lediglich in ihrer Eigenschaft als imperialistische Führungs- und Ordnungsmacht, denn mit diesem Status ging auch eine moralische Verantwortung einher, an der sich die USA messen lassen mussten. Erst nachdem sich die ehemaligen Revolutionäre wieder in deutsche Staatsbürger zurückverwandelt hatten und sich die Kritik an Amerika auf der Ebene der Staatenkonkurrenz zu bewegen begann, kann von manifestem Antiamerikanismus gesprochen werden. So wurde es ab Ende der siebziger Jahre en vogue, die amerikanische Kultur insgesamt abzulehnen und die deutsche oder europäische Gesellschaft gegen die amerikanische auszuspielen. Auf einmal war der Maßstab, an dem die amerikanische Politik gemessen wurde, nicht mehr die materielle Befreiung, die für die menschliche Gesellschaft auf dem Stand der gerade auch in den USA vorhandenen Produktivkräfte möglich wäre, sondern die amerikanische Gesellschaft wurde auf moralischer und kultureller Ebene mit der deutschen oder europäischen verglichen. Dabei kam man zu dem ressentimentgeladenen Schluss, dass Amerika im Gegensatz zu Europa verderbt sei. (11)
(7) Krahl war gemeinsam mit Günther Amendt, dem späteren Sexualwissenschaftler, sowie Hans Dietrich Wolf, dem Vorsitzenden des SDS, angeklagt. Hintergrund war eine unangemeldete Demo gegen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den singhalesischen Präsidenten Senghor.am 22. September 1968.
(8) Krahls Rede vor Gericht ist ein bis heute sehr lesenswerter Text, der unter Angaben zur Person weite Verbreitung fand (http://www.krahl-seiten.de/zurperson.html).
(9) Der eigentliche Name der kommunistischen Partei in Nordvietnam. Vietcong ist eine Feindbezeichnung des südvietnamesischen Machthabers Diem, die übersetzt „die Kommunisten Vietnams“ meint, und mit der Diem seine Feinde, die südvietnamesische Befreiungsbewegung Nationale Front für die Befreiung Südvietnams (NFL) beschimpfen wollte. Jedoch konnten sich viele jungen Leute aus der ganzen Welt mit dieser Bezeichnung anfreunden und adaptierten den Namen für sich. Im Folgenden werden wir trotzdem die jeweiligen Selbstbezeichnungen verwenden.
(10) Die Geschichte des Vietnamkrieges ist nachzulesen bei: Frey, Marc: Die Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München 2006 (1998)
(11) Ausführlicher nachzulesen bei: Porth, Wolfgang: Anti-Amerikanismus, Anti-Imperialismus. In: Stammesbewustsein, Kulturnation. Pamphlete, Glossen, Feuillton. Berlin 1984. S. 70-84. Vortrag, gehalten in Freiburg am 15. Mai 1984.