Schlechte Voraussetzungen der Revolte: Postfaschismus und Fordismus
Es war eine überschaubar kleine Gruppe, die Mitte der 60er Jahre auf die Revolutionierung der bürgerlichen Gesellschaft drängte. Und doch schaffte es diese Minderheit, einen unglaublichen Wirbel und eine Menge Ärger zu verbreiten. Der Wirbel beschränkte sich zunächst im Wesentlichen auf die Studentenschaft, später radikalisierten sich aber auch die Schüler und Lehrlinge. Einen Wunsch der Arbeiter bzw. der breiten Bevölkerung nach grundsätzlicher Änderung ihrer Verkehrsformen, ja zumindest nach wirklicher Demokratisierung, gab es nicht. In Deutschland blieben die Proteste daher ohne Massenbasis. Die Rebellierenden, selbst gerade erst aus dem Schlummer aufwachend, trafen bei der Bevölkerung – einer Generation, die sich, obwohl im Nationalsozialismus mehrheitlich zu Tätern geworden, gern als Opfer generierte – auf starken Widerstand. Letztere begegneten ihrem Schicksal, dem sie nach eigener Wahrnehmung immer nur mit Aufopferung und harter Arbeit begegnet waren, mit aktiver Anpassung. Diese Friedhofsruhe wurde Mitte der 60er zum Ärger der Mehrheit der deutschen Gesellschaft durch rebellierende Studenten gestört:
„Meine Herren Demonstranten, weshalb fühlen sie sich gerade verpflichtet, sozusagen als ‚Weltverbesserer‘ aufzutreten? Wissen sie, was Ihnen fehlt? Das Erleben, was uns ungewollt lange Jahre hindurch präsentiert wurde: Der Kampf ums Dasein! [...]
Unser sogenanntes ‚Wirtschaftswunder‘ scheint diesen Herren nicht gut bekommen zu sein. Sie haben sich anscheinend noch nie Gedanken darüber gemacht, wie schwer es ihren Eltern – überhaupt der ganzen Generation – gefallen ist, trotz aller Widerwärtigkeiten den Weg weiter, unter Aufopferung aller persönlichen Wünsche und Fähigkeiten, zu gehen. Wie dankbar wären wir gewesen, in der Sicherheit und mit Unterstützung unserem Ziel entgegenarbeiten zu dürfen. [...] Ich bin der Ansicht, dass unsere Generation mittlerweile ein kleines Anrecht auf Ruhe und Frieden hat. Wir, die sich immer bemüht haben, ihrem Leben einen Sinn zu geben, sind bisher noch nie auf die Idee gekommen zu demonstrieren, weil uns auch heute die Zeit einfach fehlt! Diese Zeit, die so kostbar ist, und uns dennoch tagtäglich mehr abverlangt, als wir oft schaffen können. Wir haben heute auch eine Pflicht zu erfüllen, gerade nach dem verlorenen Krieg: der Welt zu zeigen, dass wir uns zumindest benehmen können!“ (Leserbrief aus den Schleswiger Nachrichten 1967)
Die Studenten zeigten der Bevölkerung, dass nicht alle immer nur mitmachen wollten, sondern manche durchaus auf „die Idee kamen“ sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen. Etwas, was die ältere Generation angeblich aus Zeitgründen unterlassen hatte, viel eher aber wohl, weil sie sich vollkommen im Einklang mit der herrschenden Gesellschaft fühlte und dies auch während des Nationalsozialismus getan hatte. Der Sinn des Lebens bestand darin, immer seine Pflicht zu erfüllen. Dabei wurmte der verlorene Krieg – die Judenvernichtung und der totale Krieg hatten nicht dazu geführt, dass Deutschland aus dem internationalen Konkurrenzkampf als siegreiche Macht hervorgegangen war. Die Überwindung dieser Schmach ist für den Leserbriefschreiber aus Schleswig nur durch vermehrte Anstrengung und gutes Benehmen gegenüber den realen Siegern des 2. Weltkrieges, den Amerikanern, zu überwinden. Letztendlich zeichnet sich der Leserbriefschreiber durch eine vollkommene Realitätsverleugnung aus. Es scheint ihm nicht mal in den Sinn zu kommen, dass jemand den Deutschen die Ermordung der Juden, Behinderten, Roma, Sinti, Homosexuellen oder die Zerschlagung der Arbeiterbewegung vorwerfen könnte. So ist von einer Verdrängung der Schuld auch nichts zu spüren, ebenso wenig vom Trauern um die eigenen Toten. Alles was bleibt, ist die narzisstische Kränkung, den Krieg verloren zu haben.
Der unbescholtene Bürger konnte die gesellschaftlichen Verhältnisse nur als „Kampf ums Dasein“ interpretieren, wie er es im NS in seiner blutigen Ausformung der darwinistischen Evolutionstheorie erlebt hatte. Es sollte durch rassenhygienische Maßnahmen auf eine phantasmatische Weise durch Ausrotten der vermeintlich zerstörerischen Gegenrasse, für welche die Juden gehalten wurde, und durch die Vernichtung „unwerten Lebens“, wie Behinderte bezeichnet wurden, ein Volk geschaffen werden, das allen anderen überlegen sei. Um dieses Ziel zu erreichen, waren in der Tat große Anstrengungen unternommen worden und auch eigene Opfer hatte man dafür in nicht geringem Maße auf sich genommen: man hatte die Kriegsproduktion hochgefahren, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion geführt, Vernichtungslager aufgebaut, unzählige Morde durch Erschießung begangen und so fort. Dadurch, dass sich die Deutschen mehr oder weniger alle an diesem Wahnsinn beteiligt und die Ziele der Nationalsozialisten geteilt hatten, waren sie nun auch realiter eine Volksgemeinschaft geworden, die keine Klassen mehr kannte, sondern nur noch die Unterordnung unter die Erfordernisse der Nation. Dies machte sie nach dem Krieg zu besonders gutem Menschenmaterial, so dass der Fordismus erst richtig durchstarten konnte. Erst der Krieg hatte hier den entscheidenden Durchbruch gebracht, weil durch die Kriegsproduktion, vor allem in den USA, aber auch in Deutschland und Japan, ein immenser Produktivitätsschub möglich geworden war. Trotz der Kriegsniederlage konnten auch die Deutschen davon profitieren, da sie einen Großteil ihrer im Krieg stark angewachsenen Produktionsmittel retten konnten und mit dem Marschallplan eine gehörige Finanzspritze seitens der Amerikaner bekamen. So wurde eine Generation, die für unsagbares Leid und Elend verantwortlich war, letztendlich doch noch belohnt und wollte sich nun auf seinen unverdienten Lorbeeren ausruhen. Dies geschah um den Preis der Verdrängung der Geburtsverbrechen der Bundesrepublik und der vollkommenen Aufgabe jedes Widerspruchsgeistes sowie des faktischen Ausschlusses der Bevölkerung aus den politischen wie ökonomischen Entscheidungsprozessen. Allein die Heftigkeit der Reaktionen auf diejenigen, welche sich dem pflichtbewussten Mitmachen entzogen, lässt negativ erahnen, dass die widerspruchslose Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht restlos gelungen war. So heißt es in einem anonymen Leserbrief an den Allgemeinen Studienausschuss der Freien Universität Berlin:
„Früher hat sich ein Student durch ehrliche Arbeit – nicht durch Bettelei bei der Bevölkerung sein Studium verdient. Ohnesorg aber hatte sogar die Frechheit, als Student zu heiraten [...] All diese Parasiten – aus denen ja nie Geistesheroen werden – sollen ins Arbeitshaus gesteckt werden. Auch damit sie endlich mal durch ehrliche Arbeit Brot verdienen und die Bevölkerung endlich wieder auf die Straße gehen kann, ohne befürchten zu müssen, von Studenten angepöbelt und ausgeplündert zu werden.“ (Anonym an den AStA FU, 21.06.67)
Das Bedürfnis nach Muße, lustvollem Leben und Abkehr vom Arbeitszwang kam als Verdrängtes im Hass auf das „arbeitsscheue Gesindel“, das auch noch heiratete, also Sex hatte, und sich zudem die Zeit nahm, zu demonstrieren, wieder zum Vorschein. Dieses Bedürfnis durfte jedoch nicht als solches wahrgenommen werden und diejenigen, die an es erinnerten und durch ihre „Demonstrationen“ für dessen Erfüllung kämpften, mussten abgestraft werden: die Studenten und die Gammler – Jugendliche, meist aus der Arbeiterklasse, die schon vor ´68 lange Haare und Parka trugen und den Müßiggang propagierten.