Fragment zu Marx
1. Referat bei der „Antideutschen Sommerschule“ im Juni 2002 im Block „Über den Gebrauchswert des Kapitals“
I
Der Dichter Hacks schreibt über den emanzipierten Menschen: „Der Mensch der Zukunft ist reich: In dieser Hinsicht ähnelt der Reiche dem Menschen der Zukunft“. Reichtum aber entstand erst mit der Klassenherrschaft oder mit der Zivilisation. Deshalb, so Hacks, „ist die Einführung der Ausbeutung einer der mächtigsten Befreiungsakte der Menschheit; sie ist der Beginn der Muße, also der Produktion wissenschaftlicher und kultureller Güter“. Dies scheint als erste Bestimmung ausreichend. Erst wenn die Menschheit Reichtum produziert, also arbeitet, ist auch die selbstbewußte Aneignung eben dieses Reichtums durch das Menschengeschlecht denkbar.
Der Begriff der Arbeit ist ohne einen von Menschen bestimmten Zweck nicht denkbar. Der menschliche Geist als Zweckgebender ist Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich von der Kreatur emanzipiert. Der Geist, so einhellig die Idealisten, unterscheide den Menschen vom Tiere, von denen viele besser sehen, aber keines die Fähigkeit besitzt zu urteilen, dieses als gut und jenes als schlecht zu bezeichnen. Wenn bei Materialisten zu lesen ist, die Arbeit mache den Menschen zum Menschen, so ist dies insofern kein Widerspruch, als Marx menschliche Arbeit als zweckgerichtete Arbeit und damit bezogen auf den Geist begreift. Es schreibt Marx im Kapital:
„Wir unterstellen Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt mit ihrem Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß.“ (I, 186)
Soll die Klassenherrschaft eine menschliche sein, also die Unterjochung des Menschen durch den Menschen sich von der der Ameise unter die Königin unterscheiden, so ist eine nutznießende Klasse nötig, die die von der Arbeit umgeformte Materie auch genießt und damit überhaupt erst die Ergebnisse der Produktion seiner menschlichen Bestimmung zuführt, die wiederum von Produktion zu reden erst ermöglicht. Nicht schierer Menschenhaß war die Triebfeder der Sklaventreiber, sondern die Aussicht, durch Aneignung fremder Arbeit deren Früchte genießen zu dürfen. Von Naturbeherrschung zu reden setzt den Herrscher voraus, der die Natur als Domäne seines Willens setzt.
Zivilisation und damit das Menschengeschlecht gibt es, seit die Menschen Mythen erfanden, um sich die Welt zu erklären und sie zu beeinflussen. Doch entlarvt die reale Naturbeherrschung die mythische. „Alle Mythologie“ schreibt Marx „überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung: verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben“. Die Produktionsweise, die alles bisherige von Menschen Geleistete im Nu über den Haufen werfen und sie für null und nichtig erklären konnte, wurde von der Bourgeoisie eingeführt, die bei Marx immer auch als personalisierte Klasse auftaucht. Anders als heute, wo Linke lieber von Charaktermasken reden, also von subjektiven Automaten, die sich der durchs Kapital oktroyierten Weltvernunft zu unterwerfen haben. So geistlos wie heute erschienen Marx die Heroen des neuen Zeitalters nicht. Es waren die Wissenschaftler, nicht die geistlosen Maschinen, die sie heute geworden. Die Produktivkraftumwälzungen zu Marx Zeiten, also Entdeckung der Dampfkraft, Chemie, und Elektrizität, waren nicht Produkte von Registriermaschinen, die nur zu analytischen Schlüssen fähig sind, sondern Erfindungen von Herren, denen man mitunter noch heute Steinpuppen zum Gedenken aufstellt, weil sie zu den Heroen der Menschheit gehören, die durch ihre profanen Entdeckungen die hochsublimen Künste erst ermöglichten. Erst das Kapitalverhältnis brachte Menschen hervor, die Prometheus wirklich glichen. Friedrich Engels geriet deshalb ganz außer sich und jubelte: „Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebte hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt“. Wissenschaftliche Kenntnis ist nicht ohne Industrie zu denken, die die wissenschaftliche Forschung benötigt, um auf dem Markt bestehen zu können. Gezeugt wurden die Übermenschen der Aufklärung aufgrund der Notwendigkeit, daß jedes Produkt, um produziert zu werden, auch geronnene Mehrarbeit enthalten muß. Mehrarbeit aber enthält das Produkt erst, wenn es sich auf dem Markt bewährt, also menschliche Qualitäten besitzt und wohlfeil ist. Für beides ist die beständige Umwälzung der Produktivkräfte notwendig, also die Erfindung besserer Apparate, mit denen die Natur geformt und damit angeeignet werden kann. Ohne politische Umwälzung, die die feudalen Borniertheiten hinwegfegt, also ohne Revolutionäre und Politiker, die die Massen zum Kampf führen, ist aber Industrie und Handel nicht möglich, so daß zu den Heroen der bürgerlichen Epoche neben Wissenschaftlern, Händlern und Industriellen auch Politiker zählen. Die Entdecker, wie Columbus, den man als Weltgeist zu Schiffe bezeichnen kann; außerdem noch Philosophen, die sich versuchen, einen Reim auf das Ganze zu machen, als Interpreten der Welt. Die Handlung dieser Herren erst ermöglichte den Sieg des Kapitalverhältnisses. Arbeiter, Soldaten, Sklaven und Weiber waren vorausgesetzt, aber weitgehend passive Voraussetzung, während genannte Bürger die Akteure der Weltgeschichte waren, die wiederum von der Naturgeschichte sich nur unterscheidet, wenn selbstbewußt handelnde Akteure vorkommen. Daß die Menschheit erst unter der Fuchtel des Wertgesetzes zu solchen Leistungen angetrieben wurde, ist unverzeihlich, aber immerhin leisteten sie einiges. Mehr besitzen wir nicht.
II
Erst das Kapital setzte die Welt real als Domäne des Willens, indem es die sieben Weltwunder vor der Urbarmachung ganzer Weltteile verblassen läßt. Das Bedürfnis bringt es so überhaupt erst hervor, da Bedürfnisse immer Bedürfnisse nach etwas bestimmten sind und also Gegenstände benötigen, die sie adäquat und der menschlichen Natur angemessen befriedigen. Erst die mannigfaltigen Produkte, die die Kapitalverwertung plötzlich abwirft, schaffen das menschliche Bedürfnis, ohne welches es allerdings nie hätte entstehen können, daß also als der Befriedigung harrende Möglichkeit natürlich gegeben sein muß. Bedürfnisse befriedigt die menschliche Produktion nur, wenn sie vernünftig organisiert ist. Pyramiden z.B. sind alles andere als nützlich. Vernünftig wird das Kapital erst in der Zirkulation. Dort wählen Käufer diejenigen Waren, die sie auch gebrauchen können. Es besteht im Kapitalismus ein Widerspruch zwischen Produktion und Zirkulation. In der Produktion wird vom Gebrauchswert abstrahiert und drauf los produziert. Erst im Nachhinein – in der Zirkulation – kommt er hinein, wenn sich die Ware dort bewährt und ihr Wert realisiert wird. Die Zirkulation zwingt die Fabrikanten dazu, nicht irgendeinen Unsinn zu produzieren sondern nützliches Gut. Von der Verfassung der Zirkulationsspäre ist also die Nützlichkeit der Waren und die Vernunft der Produktionsweise abhängig. Ist diese in guter Verfassung – Horkheimer nennt sie dann El Dorado -, so ist der Produktionsprozeß gezwungen, sich nach dem Markt zu richten, der als Hemmnis erscheint. Produktion und Zirkulation sind dann aufeinander bezogen. Verweigern selbstbewußte Kunden den Schund, so wird das Kapital genötigt, schöne, solide und nützliche Dinge herzustellen. Tritt aber der Staat als Großkunde auf, nur um die Herrschaft überhaupt am laufen zu halten, so tritt die Vernunft partiell außer Kraft. Sind alle Kunden Deppen, also eingebildete Könige, und geben sich mit allem Schund zufrieden, den sie in den Botschaften der Monopole eher schlecht, dafür aber unglaublich penetrant angepriesen bekommen, so hat die Kapitalverwertung sich ihrer Fessel scheinbar entledigt. Haben die Warenvertilger keinen eigenen Willen, so erscheinen die Bedürfnisse oktroyiert. Sicher knüpfen sie oft an irgendein unmittelbares Interesse an, doch dieses ist selten bewußt.
Oder noch einmal anders: Das Kapital muß seine Produkte verkaufen, so daß der Wert und damit der Mehrwert realisiert ist. Nur so kann es akkumulieren. Akkumulieren muß es bei Strafe des eigenen Untergangs. Zunächst erscheint es so, daß das Kapital eine Ware mit Tauschwert und Gebrauchswert produzieren muß. Plan B aber ist, diese Fessel zu sprengen und die Menschen so dumm zu halten, daß sie kaufen, ohne sich Rechenschaft abzulegen. Im ersten Fall hat sich das Kapital nach den mit nervigem Eigenwillen bestückten Menschen zu richten, im zweiten Fall haben sich die Menschen nach dem Kapital zu richten. Ob das Kapitalverhältnis Gebrauchswerte hervorbringt oder Unfug, ist von seiner konkreten Form abhängig.
III
Marx war recht skeptisch ob der konkreten Gebrauchswerte, die die Bourgeoisie nicht nur der ausgebeuteten Klasse vorenthielt, sondern auch selbst nie recht genießen konnte: Der Umstand, daß sich der Bourgeoisie als Charaktermaske der als objektives Gesetz erscheinenden Wertverwertung zu widmen hatte, führte dazu, daß „die Verschwendungssucht des Kapitalisten nie den bona fide Charakter des flotten Feudalherren besitzt, in ihrem Hintergrund vielmehr stets schmutzigster Geiz und ängstlichste Berechnung lauern“ (I, 620). Das sündige Babel und die Orgien der antiken Römer stellt man sich wilder vor, als noch das Lotterleben der Boheme. Die asketische Ideologie der Protestanten ist die des Kapitalismus. Heute ist die herrschende Klasse kein Vorbild mehr sondern abschreckendes Beispiel, was passiert, wenn man sich als ‚brain‘ den Kapitalprozeß am Laufen hält. Der neuen Herrschaft, insbesondere dem Staat, ist das Bedürfnis, als nicht zu berechnende Eigenleistung der Subjekte, stets schon suspekt. Den Tugendterror der Jakobiner bezeichnet Marx als religiösen Terrorismus, der die Bedingungen der Emanzipation auszumerzen trachte. Er sieht im autoritären Staat zunächst ein kapitalfremdes Element, das den freien bürgerlichen Subjekten äußerlich aufgepfropft wird. Ein Relikt aus der Vorvergangenheit, aus der Antike. Später aber erkennt er, daß das Kapital selbst die objektive Tendenz in sich birgt, den konkreten Gebrauchswert und das freie Subjekt zu kassieren. Schon als das europäische Kapital sich anschickt, zugunsten der Sklaventreiber der Südstaaten zu intervenieren und damit praktisch zu demonstrieren, was all der bürgerliche Pathos wert ist, sobald er mit dem Profitinteresse kollidiert, wird Marx skeptisch und empfiehlt – ähnlich der Bahamas heute-, daß das Weltproletariat Lincoln, dem „eisernen Mann aus dem Volke“, dem Anführer der Nordstaaten zur Seite stehen soll. Kurz vor seinem Tode biedern sich dann auch noch die deutschen Arbeiter dem preussischen Staat an. Marx wirft dem damaligem Pogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vor, es sei vom „Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet“. Die deutsche Arbeiterpartei habe dem Internationalismus abgeschworen: „In der Tat steht das internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter dem der Freihandelspartei“. Seine Kritik zum Gothaer Programms endet mit den Worten: „Ich habe gesprochen und meine Seele ist gerettet“. 40 Jahre später erschießen sich die Arbeiter gegenseitig an der Front.
IV
Weil das Kapital den inneren Widerspruch besitzt, einerseits die Maschinerie zu entwickeln und damit potentiell den Reichtum, der die Menschen ihrem Begriff angemessen versorgen könnte, aber anderseits gleichzeitig selbst die herrschend Klasse zwingt, den Triebverzicht zu maximieren und damit das Bedürfnis zu tilgen, welches den Reichtum erst zum Reichtum für Menschen macht, weil also das Kapital schon in seiner liberalen Phase eher Kriegsgerät produzierte als auch nur genug Essen für die Götzendiener, deshalb changiert Marx immerzu zwischen positivem Lob der konkreten Errungenschaften des Kapitals und dem negativen Lob, daß das Kapital nur Reichtum als Möglichkeit schuf, also die Produktivkräfte entwickelte, die, als angeeignete, auch den Menschen zur Verfügung stehen könnten. Abstrakter Reichtum schlechthin, also unter Absehung der konkreten und trivialen Gebrauchsgüter, ist aber nicht denkbar. Ohne daß die Natur auch tatsächlich zu von Menschen frei gewählten Zwecken umgeformt und dann angeeignet wird, keine Euphorie und kein Menschenkult, wie man ihn aus der Aufklärung kennt. Die Errungenschaft der neuen Epoche ist die überbordende und den Reichtum konsumierende Subjektivität, die einige Bürger gerade dadurch dem Kapitalverhältnis abtrotzten, indem sie sich zu den Exekutoren des neuen Prinzips machten. Das heute von allen kritisierte bürgerliche Interesse kommt bei Marx nicht schlecht weg, weil subjektive Interessen den echten Idealen zuwiderlaufen würden sondern im Gegenteil: „Die ‚Idee‘ blamierte sich immer, soweit sie von dem ‚Interesse‘ unterschieden war“. Das bürgerliche Interesse hat an sich, so Marx weiter, daß es „weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt“. Der Universalismus aber wird von den Kommunisten aufgenommen, die das menschliche Interesse schlechthin verwirklichen wollen statt es abzuschaffen.
Der idealistisch gefärbte Marx gegen den Tugendterror der Jakobiner und damit gegen den Tugendterror aller modernen Feinde der Spaßgesellschaft:
„Nach dem Sturz Robespierres beginnt die politische Aufklärung, die sich selbst hatte überbieten wollen, die überschwenglich gewesen war, erst sich prosaisch zu verwirklichen. … Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuß noch keck, leidenschaftlich, frivol, berauschend ist; wirkliche Aufklärung des französischen Grund und Bodens, dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie – das sind einige von den Lebenszeichen der neuentstandenen bürgerlichen Gesellschaft.“
Revolution erscheint bei Marx als Mittel, das erst dann sinnvoll ist, wenn es zum Rausch führt, wie das Werkzeug sich erst dann als nutzbringend erwiesen hat, wenn der von ihm behandelte Gegenstand zur Glückseligkeit beiträgt. Die Fieberhitze, die Marx bejubelt, weil sie Motiv für die tatsächliche Emanzipation des Menschengeschlechts sein soll, ist nicht zu trennen von einer falschen Staatsauffassung, nach welcher der Staat ein Staat der Bürger sei. Anzumerken ist, daß der französische Staat, den Marx im Blick hat, von Bürgern revolutionär gegründet wurde. Im Gegensatz zu Deutschland oder Italien. Marx:
„Nur der politische Aberglaube bildet sich noch heutzutage ein, daß das bürgerliche Leben eben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird.“
Im Kapital wird er die metaphysischen Mucken des Kapitals aufspüren und erkennen, daß der Staatsfetischismus zumindest ein notwendiger politischer Aberglaube ist.
Ähnlich wie den Staatsglauben widerlegt Marx die bürgerliche Auffassung, die Welt bestünde aus Atomen:
„Genau und im prosaischen Sinne zu reden, sind die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft keine Atome. Die charakteristische Eigenschaft des Atoms besteht darin, keine Eigenschaften und darum keine durch seine eigene Naturnotwendigkeit bedingte Beziehung zu anderen Wesen außer ihm zu haben. Das Atom ist bedürfnislos, selbstgenügsam; die Welt außer ihm ist die absolute Leere, d.h. sie ist inhaltslos, sinnlos, nichtssagend, eben weil es alle Fülle in sich besitzt. Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner unsinnlichen Vorstellung und unlebendigen Abstraktion zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen, absolut vollen, seligen Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung, jeder seiner Sinne zwingt es, an den Sinn der Welt und an der Individuen außer ihm zu glauben, und selbst sein profaner Magen erinnert es täglich daran, daß die Welt außer ihm nicht leer, sondern das eigentlich Erfüllende ist.“
Zwar ist die atomistische Ideologie als bürgerliche benannt, aber die religiöse Tendenz des Kapitals mit jeder seiner Lügen wahr zu machen, ist erst im Kapital ausgeführt, wo Ideologie und allerrealste gesellschaftliche Formen des menschlichen Lebens vermittelt werden bzw. die theologischen Mucken der Ideologen aus den theologischen Mucken des Kapitals selbst und damit auch die Ideologie als notwendige bestimmt werden kann. Der frühe Marx, der dem Kapital emanzipatorische Momente abgewinnt, kann dies nur durch zumindest partielle Verklärung des Kapitals, gar nicht so anders als Adam Smith, der auch glaubt ein vernünftiges Allgemeines würde sich aus den Einzelwillen induzieren, während der reale Lauf der Dinge auf einen Staat hinausläuft, der die einzelnen Atome autoritär zusammenhält. Der frühe Marx wird deshalb auch von anarchistischen Schwarmgeistern geschätzt, die den späten ablehnen, weil dieser dort die schreckliche Wahrheit über das Kapital ausspricht, und Wahrheit können Bürger nie vertragen.
V
Im Kapital ist vom automatischen Subjekt und von Charaktermasken die Rede. Der Kapitalismus wird als Gesellschaftsordnung denunziert, die der Vorgeschichte angehört und die Menschen zum Material degradiert. Der frühe Marx hätte etwa folgendes zum Kapitalverhältnis geschrieben: „Genau und im prosaischen Sinne zu reden, beherrscht nicht der Produktionsprozeß den Menschen. Der Produktionsprozeß ist Aneignung und Umformung der Natur durch den … .“ Im Fetischkapitel des Kapitals aber schreibt er nun umgekehrt, daß den Formeln, nach denen der Kapitalismus funktioniert, „auf die Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert“. Oder genauer und an anderer Stelle:
„Gebrauchsgegenstände werden überhaupt erst Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten sind. Der Komplex der Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb des Austauschs. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehung, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittels derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“
Unterm Kapital wird nicht geplant, was, wann und wie produziert wird, sondern im Gegenteil produziert jede Fabrik unabhängig und erst auf dem Markt erweist sich, ob es auch gesellschaftlich notwendige Arbeit war, die verausgabt wurde. Dort aber erscheinen die Waren schon als vom Arbeitsprozeß unabhängige Ergebnisse in seltsamer Verpackung. Was Ergebnis der menschlichen Umformung der Natur ist, erstarrt zum Ding. Diese Sicht der zu Dingen versteinernden Welt ist notwendig. Dem fetischistischen Produzenten erscheint die Welt, wie sie ist. Aber sie scheint doch nur zu sein. Der Schein ist das Allerrealste. Adorno nannte dies Verblendungszusammenhang.
VI
Dieser hier nur skizzierte Kapitalbegriff wird heute öfter rezipiert. Nur wenn der Begriff des Kapitals sich nicht mit der Realität deckt, ist aber überhaupt die Möglichkeit der Revolution vorhanden. Heute ist der Begriff Charaktermaske so unkritisch wie der Begriff Humankapital, weil sich niemand daran stößt, nur Humankapital zu sein. Nur bezogen auf den idealistischen, frühen Marx kommt den drei Bänden des Kapitals das Prädikat Kritik zu. Ohne die heute lebensreformerisch anmutenden Stellen, in denen Marx das menschliche Unglück denunziert, also ohne seine Revolutionserwartungen, ist mit Marx nichts anzufangen, es sei denn, er erlebt in der Universität eine neue Blüte. Vieles, was heute unter logischer Kapitalinterpretation läuft, ist damit für die Katz. Die Gruppe Krisis z.B.
Wieder der frühe Marx meint, daß das Proletariat schlußendlich die eigene erbärmliche Lage durchschauen wird, um dann tatsächlich die Menschheit zu emanzipieren. Wenn diese aber die gesellschaftlichen Verhältnisse mit Dingen verwechseln und andersherum den Dingen, etwa Computern, Geist unterstellen, also ganz dies tun, was im Fetischkapitel als notwendig falsches Bewußtsein denunziert wird, so gibt es keine Revolution. Es folgt die Revolutionstheorie von Marx:
„Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt. weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird. … Wenn das Proletariat siegt, so ist es dadurch keineswegs zur absoluten Seite der Gesellschaft geworden, denn es siegt nur, indem es sich selbst und sein Gegenteil aufhebt. Alsdann ist ebensowohl das Proletariat wie sein bedingter Gegensatz, das Privateigentum, verschwunden.
Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs …, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil sie die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst vom Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not … zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien.“
Die Arbeiter werden sich als Abschaum des Menschengeschlechts erkennen, sich also als selbstbewußte Klasse konstituieren. Ihr Elend erkennen sie aber nur dadurch, daß ihnen die Nutznießer der eigenen Arbeit gegenüberstehen, die als Herrscher wenigstens den Schein der Menschheit besitzen. Nur von solchem Scheine kann man auf den Begriff des Menschen im emphatischen Sinne schließen. Dieser wird als visionärer Begriff gebraucht. Der Satz ‚Die Vielen sind übel geknechtet und viehisch gesinnt‘ macht nur Sinn, wenn man auch Menschen kennt, die frei und nicht wie Vieh gesinnt sind. Nur wer einen Begriff von der Natur des Menschen hat und dementsprechend weiß, was für den Körper schlecht und was gut ist, der kann sich als die Negation der menschlichen Natur erfahren und sich darob empören. Nur wenn man kennt, was die Menschheit alles hervorgebracht hat, kann man sich selbst als Verlust der Menschheit denken und zugleich Bewußtsein dieser Verworfenheit erlangen. Bewußtsein ist nach Marx die Voraussetzung, daß sich das Proletariat befreien kann. Die Notwendigkeit, von der Marx spricht, ist nur dann eine, wenn der Widerspruch zwischen Negation des Menschen (Proletariat) und Menschheit (ruling class) vorhanden ist. Den Begriff der Menschheit hat die unterdrückte Klasse nur von der reichen Klasse. „Der Mensch der Zukunft ist reich: In dieser Hinsicht ähnelt der Reiche dem Menschen der Zukunft“. Hier schließt sich der Kreis, und die Antwort auf die hier behandelte Frage lautet, daß Zivilisation recht vernünftig ist, sofern sie Reichtum schafft – samt glücklichen Menschen, die diesen Reichtum positiv genießen oder wenigstens negativ begehren und nach Glück streben. Nicht aber wie heute, wo es wenig Reichtum und Glück gibt und die Vielen beides dort, wo sie es vermuten, ausmerzen wollen. Die Einführung der Ausbeutung aber ist insofern nur hinsichtlich des Kommunismus ein Fortschritt, aber unter gegebenen Bedingungen eventuell nur ein Fortschritt in Tötungsmethoden.