Von der Schwierigkeit, den gegenwärtigen Zustand zu verlassen
Rede an die Münsteraner Genossen vom 6. Mai 2004
Eine eindrückliche Erfahrung meiner Zeit in der Jugend-Antifa war unsere weitgehende Unfähigkeit, das Übel, zu dessen Bekämpfung wir uns zusammengetan hatten, beim Namen zu nennen. Was uns einte, war das diffuse Gefühl, dass mit Welt, in der wir leben, ganz grundsätzlich etwas nicht stimmt. Beim Versuch, konkrete Gründe für unsere Unzufriedenheit anzugeben, versagten wir jedoch völlig. Einmal wollten wir in der Kleinstadt, in der ich damals wohnte, eine antifaschistische Demonstration durchführen. In Ermangelung einer relevanten örtlichen Naziszene fiel uns nichts anderes ein, als im Demoaufruf die von uns so genannte Schleckergang – eine Gruppe jugendlicher Glatzen, die sich vor dem Schleckermarkt im Stadtteil Wäldenbronn traf – sowie die beiden Republikaner-Stadträte, die bislang durch keinerlei nennenswerten Aktivitäten aufgefallen waren, als Begründung für die unversöhnliche Feindschaft anzuführen, die wir der Gesellschaft erklären wollten. Aufgrund von allgemeiner Ratlosigkeit und Konfusion löste sich die Gruppe wenig später auf.
Um zu versuchen, diese Hilflosigkeit nicht nur aus unserer subjektiven Unreife, sondern wesentlich aus der objektiven gesellschaftlichen Situation zu begreifen, sei mir eine Abschweifung gestattet. Der zentrale Widerspruch des Kapitalismus besteht bekanntermaßen darin, dass die Menschheit in dieser Epoche zwar nie gekannte Möglichkeiten der freien Weltgestaltung hervorbringt, gleichzeitig aber unfähig ist, diese für ihren Genuss zu verwenden, ja es noch nicht einmal fertig bringt, den Hunger aus der Welt zu schaffen. Diese Unfähigkeit kommt daher, dass den Produzenten, welche die Natur umformen, die Kontrolle über ihren Arbeitsprozess und dessen Erzeugnisse entzogen ist. Dadurch werden sie auf das bloße überleben beschränkt und um ihr Vermögen gebracht, Geschichte zu machen – darin besteht die kapitalistische Ausbeutung. Obwohl die große Maschinerie Produkt ihrer eigenen Tätigkeit ist, tritt sie den isolierten Produzenten als fremde Macht gegenüber. Georg Lukacs beschreibt die Folgen: „Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozess als dessen Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, das er fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend vorfindet, dessen Gesetzen er sich willenlos zu fügen hat. Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, dass mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.“ Die subjektiven Regungen des Einzelnen sind im Produktionsablauf bloße Fehlerquellen, die das reibungslose Funktionieren der Maschinerie stören. Als Werkzeug fremder Zwecke erscheint dem Arbeiter seine Tätigkeit als ein von ihm selbst getrennter Vorgang, sodass er sich trotz pausenloser Aktivität als passiv wahrnimmt; er wird zum einflusslosen Zuschauer seines eigenen Tuns.
Im 19. Jahrhundert wurde diese Entfremdung und Verdinglichung des Menschen bis über die absoluten Grenzen der körperlichen Belastbarkeit ausgedehnt, was den Fortbestand der Gesellschaft insgesamt in Frage stellte. Der einzige Ausweg schien es zu sein, dass die isolierten Produzenten ihre Trennung überwinden und sich in kollektiver Aktion die Kontrolle über die von ihnen erzeugten Maschinen aneignen. Bekanntlich kam es anders. Neben der Anrichtung von blutigen Massakern, etwa bei der Zerschlagung der Pariser Commune, wurde die Selbstbewusstwerdung der Arbeiter dort, wo die Bourgeoisie es sich leisten konnte, vor allem durch Gewährung einer Reihe von Scheinbefriedigungen verhindert, die nach Feierabend für die Entmenschlichung in der Fabrik entschädigen sollten. Diese Maßnahmen waren sehr erfolgreich und wurden mit Hilfe des technischen Fortschritts im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem regelrechten Brot-und-Spiele-Komplex ausgebaut. Dieser versorgt die modernen Arbeitssklaven mit körperlicher Erholung, seelischer Zerstreuung und einigen zweifelhaften Genüssen, um die ihnen durch die Arbeit zugefügten Schäden zu lindern. Zugleich – und das ist der entscheidende Punkt – werden diese Entschädigungen in einer Weise verabreicht, die dazu geeignet ist, ihre Empfänger mit dem Sklavendasein ideologisch auszusöhnen, indem sie die im Arbeitsprozess erlebte Verdinglichung in der Freizeit verdoppelt und damit als einzig denkbare Form des Erlebens überhaupt setzt. Indem den Produzenten erlaubt wird, einen Teil des durch den Diebstahl ihrer Lebenszeit erwirtschafteten Produkts stückchenweise zurückzukaufen, erhalten sie mitnichten ihr Leben zurück. Dadurch, dass die Werktätigen ihre Erzeugnisse nicht direkt und nach eigenem Gutdünken genießen können, sondern nur über die Dazwischenkunft einer von ihnen getrennten Macht, bleiben sie per se im Zustand der Fremdbestimmtheit. Sie mögen noch so reichlich mit materiellen Gütern abgefüttert werden, die freie Gestaltung des Lebens bleibt ihnen verwehrt. Dass die Konsumenten die Dinge, welche sie vertilgen, nicht genießen können, wird bewiesen durch die erstaunliche Gleichgültigkeit, mit der sie sich die ihnen gewährten Rationen auch jederzeit wieder abnehmen lassen. Der lächerliche Studentenprotest im letzten Herbst beispielsweise scheiterte nicht an mangelnder Aufklärung über die Funktionsweise der Gesellschaft, sondern ganz einfach daran, dass die Betroffenen mit den Privilegien, die man ihnen jetzt wegnimmt, ohnehin nichts anzufangen wussten. Folgt die Unmündigkeit der Konsumenten schon aus dem Begriff der Ware, so lässt sie sich auch an den konkreten Momenten des Brot-und-Spiele-Universums ablesen: ob man nun via Fernsehen dem inszenierten Leben anderer beiwohnt, beim Computerspiel festgelegte Funktionen eines fertigen Programms ausführt, sich im Ferienclub vom Animateur animieren lässt, im Pornofilm fremden Leibern beim Kopulieren zuschaut, im Supermarkt ein Fertiggericht aus der Kühltruhe nimmt oder im Stadion die Aktionen lebender Werbeträger verfolgt – stets treffen wir die gleiche Passivität, die gleiche Rolle des einflusslosen Zuschauers an, wie sie Lukacs als charakteristisch für die kapitalistische Arbeitssphäre bestimmt hat. Die den Arbeitsprozess prägende Fremdheit gegenüber der eigenen Tätigkeit, welche sich als vorbestimmte Funktion in einen fertigen Prozess einfügt, ergreift also auch von der Freizeit Besitz. Da die warenvermittelte Bedürfnisbefriedigung dazu tendiert, die gesamte nicht der Lohnarbeit und dem Schlaf gewidmete Zeit in Beschlag zu nehmen, wird die beschriebene kontemplative Haltung im Laufe eines andauernden Gewöhnungsprozesses für den modernen Menschen zur einzig denkbaren Lebensweise und alles umfassenden Wirklichkeit.
Nebenbei bemerkt: Wenn hier von Kontemplation die Rede ist, so hat diese mit dem Zustand der konzentrierten Versenkung in die Reflexion, der ruhigen Aufnahmebereitschaft des Geistes nicht das geringste zu tun. Im Gegenteil ist es gerade das Charakteristikum der modernen Passivität, in der Form permanenter Scheinaktivität aufzutreten: die ebenso leere wie nervtötend hektische Arbeitszeit wird durch die Rastlosigkeit des abendlichen Amüsierbetriebs komplettiert. So mangelt es nicht nur an Phantasie und Tatkraft, um aktiv die Welt zu gestalten – genauso fällt es den meisten schwer, konzentriert ein Buch zu lesen oder ein Musikstück bis zum Ende anzuhören.
Dieses Phänomen allumfassender Fremdbestimmtheit – Adorno bezeichnete es als Verblendungszusammenhang – scheint mir der Grund für die Ratlosigkeit meiner eingangs erwähnten Antifagruppe zu sein. Und nicht nur dieser: sowenig das Problem allein auf jugendlichen Unverstand zurückgeführt werden kann, sowenig kann man irgendein Mitglied dieser Verhältnisse als davon ausgenommen unterstellen. Die Aufrufe anderer Gruppen mögen elaborierter sein – trotzdem verspürt kaum jemand Lust, sie zu lesen. Wenn das konfektionierte Leben die einzige Erfahrung ist, kann es auch nicht kritisiert werden, da etwas anderes gar nicht vorstellbar ist. Die trotz kulturindustrieller Berieselung und konsumtiver Versorgung nicht austilgbare Frustration, die aus dem verdrängt fortdauernden Widerspruch zwischen Möglichem und Tatsächlichem erwächst, kann deshalb nur alibihaft auf partikulare Missstände und bösartige Einzelpersonen zurückgeführt werden, die als Abweichung von der jeder kritischen Reflexion entzogenen kapitalistischen Norm erscheinen.
Einen Ausweg anzugeben, scheint schier unmöglich. In allgemeinster Form hat Karl Marx die Aufgabe definiert, wenn er schreibt, die Aneignung der Produktion sei „nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechende individuellen Fähigkeiten“. Wenn der Kommunismus die freie Assoziation der Individuen ist, so ist seine Vorbereitung nichts anderes als die Herausbildung selbstständiger Handlungsfähigkeit und die Befähigung des zwanglosen Bezugs der Individuen aufeinander. Solange diese Fähigkeiten fehlen, ist die Herrschaft historisch notwendig, da die Beherrschten praktisch beweisen, dass sie noch nicht in der Lage sind, selbstständig zu handeln. Wie aber diese Fähigkeiten unter gegebenen Bedingungen erlangen, wenn sie von den gerade beschriebenen Mechanismen permanent verunmöglicht werden? Klar ist, dass die Passivität und Isolierung, die ihren Grund in der Einrichtung des Ganzen haben, nur durch die Umwälzung dieses Ganzen beendete werden könnte. Jeder do-it-yourself-Reformismus, der getrennte Bereiche des Lebens umgestalten will, ohne Teil eines Projekts der universellen Infragestellung zu sein, ist nichts als ein lächerlicher Versuch, die grauen Gefängniswände mit Blümchentapenten zu verschönern. Da aber die entscheidende änderung zur Zeit versperrt zu sein scheint, bleibt uns vorderhand nichts, als dennoch einige isolierte und damit notwendig falsche Schritte zum Ausgang aus unserer Unmündigkeit zu versuchen.
Naturgemäß können auch die oppositionellen Grüppchen nicht anders, als sich zunächst noch vollkommen innerhalb der Verkehrsformen der alten Welt zu bewegen. Betrachtet man deren gängige Aktionsformen wie Demonstrationen, Kundgebungen, Podiumsveranstaltungen etc., so stellt man fest, dass die Teilnehmer bei allem äußerlichen Aktivismus im wesentlichen genau in der kontemplativen Haltung verbleiben, die wir als ein Hauptmerkmal der von ihnen angefeindeten Verhältnisse bestimmt haben. Wer beispielsweise eine Kundgebung besucht, der folgt einem Aufruf, den andere verfasst haben, lauscht Redebeiträgen, die andere für ihn vortragen und ruft, wenn’s hoch kommt, Parolen, die er sich meist auch nicht selbst ausgedacht hat. Letztlich reduziert sich seine Rolle auf die einer qualitätslosen Nummer, die sich mit möglichst vielen anderen abstrakten Nummern zusammenaddiert, um dann durch die reine Quantität eine irgendwie eindrucksvolle Menge zu ergeben. Erfolgreich war die übung dann, wenn man genug Leute zusammenbekommen hat, um die Medien für einen zu interessieren, sodass man sich selbst abends in der Tagesschau bewundern kann. Schon ihrem Begriff nach und ganz unabhängig von dem, was man so „politische Inhalte“ nennt, ist eine Kundgebung das Gegenteil von Aktivität: man tut seine Meinung über einen Misstand kund, anstatt zu versuchen, diesen zu beheben. Implizit handelt es sich dabei immer um einen Appell besorgter Untertanen an die zuständigen Stellen ihrer Obrigkeit, sich bestimmter Probleme anzunehmen. Deshalb bittet man auch vorher brav bei der Polizei um die Erlaubnis, sich versammeln zu dürfen.
Es folgt aus der Analyse nicht unbedingt, dass die als verkehrt erkannten Scheinaktivitäten in Zukunft generell unterbleiben sollten. Eine unmittelbar und für sich genommen vollkommen zwecklose Veranstaltung kann einen vermittelten und von den Beteiligten zunächst nicht bedachten Sinn haben. Wenn z.B. eine Anzahl isolierter Individuen es nicht schafft, sich aus sich heraus zu vereinigen, so ist es notwendig, dass eine äußere Macht sie zusammenruft – etwa unter dem Vorwand, mittels eines Vortrages irgendwelche Neuigkeiten bekannt zu geben. Natürlich ist es mit diesen Neuigkeiten nicht weit her. Aber vielleicht kommen in der Rauchpause Leute miteinander in ein fruchtbares Gespräch, die sich sonst nicht getroffen hätten. So entpuppt sich die vermeintliche Nebensächlichkeit als der wahre Zweck der Angelegenheit und der offizielle Zweck als äußerliche Form, die in dem Maße an Bedeutung verliert, indem die Beteiligten sich ihres Tuns bewusst werden.
Die Bewusstwerdung über die eigene Lage wird gefördert durch das Studium vergangener Emanzipationsbemühungen. Nur im Kontrast zu bewegteren historischen Situationen wird die Leblosigkeit des gegenwärtigen Zustands erkennbar. Auch die Humanisten der Renaissance konnten das finstere Mittelalter nicht aus sich heraus verlassen, weil sie in diesem zunächst noch vollkommen befangen waren. Erst die Beschäftigung mit den Meistern der Antike ließ sie die Verworfenheit des eigenen Zeitalters erkennen. Ohne die Lektüre der Reden Ciceros hätten sie nicht das nötige Selbstbewusstsein erlangt, um gegen die engstirnigen Scholastiker ihrer Zeit zu polemisieren. Auch für uns stellt sich heute die Aufgabe, an einer Renaissance zu arbeiten, nachdem Faschismus und Sozialdemokratie in trautem Verein jeglichen Versuch der Negation der Herrschaft ausgerottet haben und der Kommunismus in einen todesähnlichen Schlaf versunken ist, der bis heute anhält. Die wenigstens formal dieser Aufgabe gewidmeten Intellektuellen beschäftigen sich derzeit eher mit den bürgerlichen Aufklärern als mit den Köpfen der proletarischen Bewegung. Dies scheint auch sinnvoll, da die bürgerlichen Kritiker, gleich uns, in der Regel recht isoliert waren und, da an eine praktische Bewegung nicht zu denken war, zunächst den Kopf organisieren mussten. Auch wenn sich nicht wenige ihrer Einzelaussagen als falsch erwiesen haben und man von ihnen keine unmittelbaren Antworten auf Tagesfragen erwarten darf, können die Aufrührer und Verschwörer vergangener Epochen helfen, uns in der jetzigen Welt zurecht zu finden, indem sie die Methoden des Denkens bilden und Beispiele dafür geben, wie man unter widrigen Umständen agieren kann.