Die Neokonservativen in den USA
Ideologen auf der rastlosen Suche nach der Bedingung ihrer Möglichkeit
Vortrag, gehalten im Rahmen der Vortragsreihe „Unmöglichkeit und Notwendigkeit des historischen Materialismus in geschichtsloser Zeit“ im 5.2.2004 in Berlin.
Über zehn Jahre nachdem der realsozialistische Block um die Sowjetunion aufgehört hat zu existieren (auch als negativer oder positiver Bezugspunkt von ‚Linken‘, die bis zum Ende ja doch alle nicht um sie herumgekommen sind), lassen sich ein paar Fakten festhalten, ohne deswegen Debatten der 20er bis 70er Jahre wiederholen zu müssen: die Sowjetunion und die ihr angeschlossenen Staaten haben sich historisch als unreformierbar und unrevolutionierbar in emanzipatorischem, kommunistischem Sinne erwiesen. sie haben in einem beinahe überraschend milden, wenn auch farce-artigen Übergang via Gorbi und Boris ihr geschichtliches Ziel im ganz späten, höchst unbürgerlichen Kapitalismus gefunden. Spätestens seither finden sich Anhänger der praktisch gemeinten Idee eines Vereins freier Menschen vor dem Problem wieder, für die Welt nicht einmal mehr als Schreckbild vorhanden zu sein. Sie finden sich am Ende einer historischen Phase wieder, die eher kurz als Aufstieg zu beschreiben ist und eher lang als Abstieg, als Rückschritt, der manches mal als Defensive zum Zwecke des Fortschritts beschrieben worden ist – was er – noch ein jetzt feststellbares Faktum – am Ende und im Ergebnis dann doch nicht war.
Ist schon diese Betrachtung in links-oppositionellen Kreisen eine mit Minderheitenposition beinahe größenwahnsinnig beschriebene, so ist die folgende als ergänzende kaum vorhanden, deswegen nicht weniger angebracht – und bei den einen wird sie als Beruhigung wirken können, bei anderen zu Besorgnis und Fatalismus führen: Dem einstmaligen Klassengegner ging es in dieser Zeit ebenso. Die Bourgeoisie hat gewissermaßen in Parallele zur Entwicklung der kommunistisch-anarchistischen, jedenfalls emanzipatorischen historischen Kraft eine weitgehend ähnliche Geschichte durchgemacht mit einem für die Anhänger der Bourgeoisie zutiefst ernüchterndem Ergebnis: Sie ist in der Welt nicht mehr vorhanden, außer in meist recht unansehlichen Resten und Verfallsprodukten.
Wie auf historisch progressiver so ist auch auf der historisch eigentlich obsolet gewordenen Seite, die letztlich nur noch um Konservation des Erreichten bemüht sein kann, die Agitation und das Wirken einer recht obskuren Kleingruppe, die den eigenen Haufen nicht recht zusammenzuhalten weiß, vorbehalten. Sie machen das, wie es für Menschen sich gehört, die versuchen, die Höhe der Zeit trotz aller Widrigkeiten und Widerwärtigkeiten zu halten, am machtvollsten, entwickeltsten und von daher am potentiell geschichtsträchtigsten Ort, der in Zeiten der permanenten Konterrevolution (contra die bürgerliche ist gemeint) zu finden ist: in den Vereinigten Staaten von Amerika und dort am liebsten im engsten Regierungskreise. Diese diffuse und widersprüchliche Gruppe von hochideologisierten Kämpfern gegen den Geist der Zeit wird gemeinhin mit dem wort Neokonservative bezeichnet. seit den 70er Jahren haben sie sich mit diesem Begriff, der ihnen von außen gegeben wurde, abgefunden. Ein besserer als dieser allzuleicht irreführende wollte und konnte ihnen in ihrer Lage nicht einfallen. Und sie haben ja auch besseres und wichtigeres zu tun als mit Trademarks oder Labels zu hadern: Während sie um sich herum nur schwachbrüstige Liberale und feige Bürger sehen, die wie das Kaninchen auf die Schlange starren, sind sie beständig mit der Vorwärtsverteidigung der freien Welt gegen ihre allseitigen Bedrohungen beschäftigt: gegen Stalinisten, gegen Nationalsozialisten, gegen Antisemiten, gegen neue Linke, gegen Amerika-Hasser, gegen Staatskapitalismus und laissez-faire-Ökonomie, gegen die Kulturindustrie. Angry old man, könnte man vielleicht sagen, denn nie sind sie zufrieden mit den Ergebnissen ihres Kampfes, immer könnten sie erfolgreicher sein, meinen sie, immer sehen sie neue Gefahren, neue Gegner.
Besonders aufgeregt und aktivistisch sind sie nun seit der antikommunistischen Konterrevolution von Gorbi und Egon Krenz geworden. Endlich sahen sie ihre Zeit gekommen, da der Antiliberalismus nun nicht mehr in verstaatlichter Form die Fortsetzung der amerikanischen Revolution im Weltmaßstab aufhalten konnte, das Feld gewissermaßen frei war. Zum Beispiel für die erste Offensive im Nahen Osten, wo sie die baathistischen und sonstigen Dynastien am liebsten ins Meer jagen wollten. Allein, George Bush, der Senior, hing noch dem alten Kalten-Kriegs-Glauben an, den die neocons schon immer für fatal hielten, daß man am besten in der Welt fahre, wenn man nicht für zuviel Unruhe sorge. Und so zeterten und schimpften sie über die schmähliche Feigheit, die US-Truppen vor Bagdad umkehren zu lassen. Und zeterten und schimpften eigentlich die ganzen neunziger Jahre hindurch, weil sich Billy Clinton als noch naiver und gutgläubiger in die mögliche Harmonie und Friedlichkeit der Staatenwelt zeigte und die Zeichen der Zeit, die auf Sturm standen, nicht erkennen wollte. Aber sie verzagten nicht und agitierten und antichambrierten und polemisierten weiter und weiter, weil sie wußten, ihre Stunde würde noch schlagen. Und bekamen erstmal recht: Ließ sich auch George Bush junior anfangs von Mordanschlägen gegen US-Botschaften und anderen Zeichen des erstarkenden Antiamerikanismus noch nicht wachrütteln, so geschah dies spätestens am 11. September 2001, und ein Feldzug nach dem Geschmack der Neokonservativen konnte beginnen. Auf einmal schien die Welt ihren Vorschlägen und Wünschen entsprechen zu wollen, und eine Zeitlang waren sie beinahe happy young man. aber eine Zeitlang nur, denn bald mußten sie schon wieder an der Realität verzweifeln, denn wieder erwiesen sich ihre Mitstreiter und Agitationsobjekte immer wieder als zu zaghaft, zu kompromißlerisch nach dem Geschmack der Neokonservativen. Da wird ihnen einmal Syrien zu milde behandelt, ein andermal finden sie es eine Kapitulation, wenn man Israel Kredite streichen oder die PLO hoffähig machen will, usw., usf. Dabei wäre noch soviel zu tun und zu richten in dieser Welt, wären die Feinde von freedom and democracy durch eine militante Großoffensive von freedom and democracy zu bekämpfen. ‚Metaphysische Spinner‘ hat sie irgend jemand genannt – und auch da wird wahrscheinlich was Wahres dran sein. aber wer weiß besser als wir, daß man an den Verhältnissen schon auch mal irre werden kann und daß auch die Restvernunft zuweilen eine ziemlich spinnerte Angelegenheit zu sein scheint?
Aber zäumen wir das Pferd nicht von hinten auf, sondern schauen, wie es soweit kam, daß Anfang der 70er Jahre ein gewisser Herr Harrington von der amerikanischen Sozialdemokratie in durchaus diffamierender Absicht den Begriff ‚Neokonservative‘ einsetzte, um gewisse Leute als politische Gegner zu markieren und so einem recht ungezogenen politischen Kind der zeit nach dem 2. Weltkrieg seinen Namen gab.
Am Anfang – so könnte man die Geschichte beginnen – war der Antistalinismus oder nennen wir ihn besser mit dem etwas umständlichen Wort Antirealsozialismus oder nennen wir ihn auch Antitotalitarismus, er vereinte in den USA Liberale, Linksliberale, Rechtsliberale, Trotzkisten. Sie alle wurden sich einig, daß es nach der Niederringung des ersten großen Feinds der Freiheit – dem Nationalsozialismus – nun an der Zeit sei, dem zweitgrößten Schurken an den Kragen zu gehen, der Sowjetunion. und sie waren sich einig, daß diesen Job in erster Linie die USA zu erledigen hätten, das vital center des Liberalismus, wie sie die Vereinigten Staaten nannten. Aber nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus realpolitischen: Wollte die USA und mit ihr der Liberalismus in der Welt bestehen können, so müsse eben von diesem vital center aus aktiv und offensiv in die Weltgeschichte eingegriffen werden, die Frontstellung gegen die auf Expansion drängende Sowjetunion als Tatsache akzeptiert und auch kompromißlos und offensiv danach gehandelt werden.
Doch die Feinde saßen nicht nur draußen in der weiten Welt, sondern sie waren auch in den USA selbst zugange. Dort jedoch weniger, wo sie der robuste Senator Mac Carthy suchte und fand, bei den Kommunisten und ihren fünften Kolonnen in Hollywood, auch wenn die angehenden Neokonservativen Mac Carthy in der Sache schon recht gaben. Nein, der Feind war schwerer zu fassen, er steckte gewissermaßen im System. Der liberale Kapitalismus schien nach und nach seine eigenen Voraussetzungen untergraben zu wollen, der unter Roosevelt ausgehandelte New Deal, die amerikanische beziehungsweise uneuropäische Variante des Wohlfahrtsstaates, die sie sämtlich noch unterstützt hatten, zeitigte nach und nach immer mehr unliberale oder antiliberale Ergebnisse, als sie offenbar unwiderstehlich vom eher pragmatischen New Deal sich zum Konzept der Great Society weiterentwickelte. Der bürokratische Apparat wuchs und wuchs, die Menschen wurden nach und nach scheinbar vollständig in den Staat integriert, vom freien Markt und dem freien Spiel der Kräfte, von den frei tätigen Individuen blieb immer weniger übrig. Und dies alles war doch die Voraussetzung für das größte Glück der größten Zahl. Also standen auch innenpolitisch die Zeichen offenbar auf Attacke, zumal sich auch bei dieser Verwohlfahrtsstaatlichung eine sogenannte ‚Neue Klasse‘ gebildet hatte, die ihr egoistisches Eigeninteresse auf Kosten des allgemeinen liberalen Wohles durchsetzte: Sozialtechniker darf man sie wohl nennen, Verwaltungsangestellte, Sozialarbeiter, Planungsbeauftragte, Beamte aller Art. Nichts von dem Terrain, das sie schon gewonnen hatte, wollte diese Neue Klasse wieder preisgeben, stattdessen trachtete sie danach, neues Terrain zu erobern, um die Gesellschaft durch gezielte Eingriffe von ihren diversen Übeln zu kurieren, immer größer und fetter zu werden. und ihre Aufgabe, dem gesellschaftlichen Elend, das der Markt aus sich heraus produzierte, abzuhelfen, erfüllte sie immer weniger. Im Gegenteil funktionierte die Sozialbürokratie parasitär: Sie erhielt das Elend, weil sie selbst von ihm genährt wurde. Und ein solches immer träger werdendes System produziert immer trägere Menschen, die zum Kampf gegen den antiliberalen Feind kaum mehr zu mobilisieren sind. So sahen es die Neokonservativen mit Zorn und Sorge.
Dies waren in etwa die zwei Fronten, welche die späteren Neokonservativen in den 50er und 60er Jahren aufgemacht hatten. Doch war das für sie noch kein Grund zu Panik oder Dramatik. Verließen sie sich doch noch einerseits auf die Stärke der Vereinigten Staaten in ökonomischer und militärischer Hinsicht und vertrauten sie doch andererseits darauf, daß ihre Sicht der Dinge keine isolierte war, sondern wenigstens in den Grundzügen von der Mehrzahl der intellektuellen und politischen Elite in den Vereinigten Staaten geteilt würde, vor allem auch bei der Partei, der sie sich alle am nächsten empfanden, der demokratischen.
Doch dann kamen die sechziger Jahre. und in ihnen passierte einiges, was Irving Kristol in den 70ern auf die Frage, was denn ein Neokonservativer sei, antworten ließ: ‚a liberal mugged by reality‘, ein Liberaler, der von der Wirklichkeit überfallen wurde. Gerade die als künftige Elite vorgesehene Jugend von Berkeley, Columbia University etc. begann zu rebellieren oder einen Gestus der Rebellion zu entwickeln – die Gegenkultur gegen das sogenannte Establishment, gegen die bürgerlichen Werte, gegen die Vorbildlichkeit Amerikas – kurz gefaßt: gegen Amerika nach der Überzeugung der Neokonservativen. Nicht mehr waren es Proteste in der Art der Bürgerrechtsbewegung der 50er Jahre, an denen viele der späteren Neokonservativen selbst beteiligt waren und die noch auf stabiler liberaler Grundlage wirkten, ja sich durch und durch als liberal und bürgerlich verstanden. Nein, was sich jetzt zusammenbraute war die große Weigerung Marcuses, das Nichtmehrmitmachenwollen, die Ablehnung von Erfolg und Autorität, die Verachtung herkömmlicher demokratischer Verfahrensweisen, die Überzeugung, daß nicht mit sondern gegen Amerika aus der Welt eine bessere zu machen sei. Die Überzeugung, daß der Hauptverantwortliche für die großen Übel in der Welt in den USA zu finden sei: die Drohung eines Atomkriegs, Umweltzerstörung, Armut und Elend in großen Teilen der Welt – angeklagt für all dies wurden nun die USA und ihr verbrecherisch genannter Imperialismus, nicht bürgerrechtlich mehr ging es um Verbrechen der USA, sondern um das historische Verbrechen USA. Die Vereinigten Staaten sollten sich auf allen Ebenen aus den Geschicken der Welt zurückziehen, damit der progressive Lauf der Geschichte endlich ungehindert sich entfalten konnte. Ziemlich genau die Umkehrung dessen also, was die Neokonservativen voller Überzeugung und mit Zuversicht vertreten haben.
Doch mehr noch als vor dem tatsächlichen Revöltchen der sich dem Erwachsenwerden entziehenden und nach Aufmerksamkeit heischenden jungen Leute, deren aus dem Gefühl der Unmittelbarkeit, also in der Hauptsache aus Ressentiment gespeiste Rebellion ja doch von den Eltern finanziert werden mußte, erschraken die Neokonservativen vor der Resonanz, welche solch Gedankengut in den Feuilletons und Intellektuellenzirkeln des Landes und auch in den Parteien fanden. Isolationismus, détente, also Entspannung, Pazifismus, einseitige Abrüstung, konstruktiver Dialog, Wandel durch Handel – all diese Politiken, die von den Neokonservativen als fatal betrachtet wurden, kamen mit Verlauf und nach dem Ende des Vietnamkriegs zu neuer breiter Popularität. Ihrem Verständnis von Humanismus und Universalismus völlig zuwiderlaufende identitäre Bewegungen bekamen immer mehr Gewicht: Feminismus, schwarzer Nationalismus und andere sich als Minderheiten definierende Gruppen forderten antidiskriminatorische Sonderrechte, was schon bald sich in staatlichen affirmative-action-Programmen niederschlug, die nebenbei noch der meritokratischen Vorstellung der neocons entgegenstand, dem Gedanken: jedem nach seinem in der mixed economy festgestellten Verdienst, und zudem noch einen sie an Totalitarismus erinnernden Anspruch des Staates, gesellschaftliche Übel per steuerndem und gestaltendem Eingriff aus der Welt zu schaffen, beinhalten würde. Da all dies innerhalb der demokratischen Partei als erstes institutionellen Ausdruck fand, führten die Neokoservativen in dieser noch eine Reihe von Kämpfen gegen die Vertreter der Neuen Linken, verloren diese aber und zogen sich nach und nach aus dieser Partei zurück.
Auf allzu deutliche Weise waren all diese verhängnisvollen Entwicklungen für die Neokonservativen wieder mit globalen Trends verknüpft. Um die Verbindung an ihrer deutlichsten Stelle zu zeigen: Einen Extraschrecken jagte den Neokonservativen die für sie völlig unerwartete Verknüpfung der Proteste der Gegenkultur mit Vorwürfen und Attacken gegen Israel ein, das ab Ende der sechziger Jahre z.b. bei Protesten von Studenten und militanten black-power-Leuten in New York als ‚Verbrecherstaat‘ zum Thema gemacht wurde. Passend dazu lief nun auch global eine Entwicklung, die Anfang der 70er Jahre zu der vom bekennenden Antiimperialisten Idi Amin eingebrachten und von der UN-Vollversammlung mit großer Mehrheit abgesegneten Zionismus-ist-gleich-Rassismus-Resolution führte.
Die Konsequenz, welche die Neokonservativen sich zu ziehen gezwungen sahen und die seither als einer ihrer Leitsätze noch nicht zurückgenommen wurde, hat einer von ihnen, Daniel Moynihan, UN-Botschafter der USA, nun schon unter Nixon, einem Republikaner, im Titel eines Essays zusammengefaßt: ‚The United States in Opposition‘. In dieser Zeit wandelte sich auch die internationale Feindbestimmung der Neokonservativen. Zwar behielten einige – allerdings nicht alle – die Eindämmung und Zurückdrängung des Einflusses der Sowjetunion als Hauptziel bis in die 80er Jahre bei, doch geriet immer mehr auch die unter ‚Dritte Welt‘ bekannte Staatenansammlung mit eigenem Recht in ihr Blickfeld. Dies geschah einerseits wieder mittels der Situation Israels: Sehr früh nahmen die Neokonservativen zur Kenntnis, daß dies Land von erklärten Gegnern umgeben ist, die man nicht zum Zuge kommen lassen darf, weswegen die USA bemüht sein sollte, einerseits zu vermeiden, daß die dortigen Herrschercliquen in den Besitz von größeren Waffen kämen, andererseits Truppen in diesen Ländern zu stationieren, die in der Lage sein sollten, die Geschehnisse dort unter Kontrolle zu halten. Doch nicht nur die Vernichtungsabsichten gegen Israel sahen sie als bedrohlich, auch das Aufkommen eines neuen Ideologems: Antiimperialismus als Staatsdoktrin. Diesen sahen sie bei der OPEC-Gründung als treibendes Motiv, aber auch weiter gefaßt als Bindemittel für die sogenannte Bewegung der blockfreien Staaten. Eine neue Form von Staaten, die untereinander nicht mehr zusammenhielt, als die gemeinsame Feinderklärung gegen die sogenannte ‚Erste Welt‘ und die Selbstdefinition als Opferkollektive, im Resultat eine Art Bandenkriminalität in erpresserischer Absicht, die zu diesem Zwecke gar nicht anders konnte, aber eben dazu auch entschlossen schien, als über kurz oder lang auf blanke undifferenzierte Gewalt zurückzugreifen. Und – um die Opposition komplett zu machen – Europa kam zu dieser Zeit im Weltbild der Neokonservativen ebenfalls schon vor: als unzuverlässiger Wackelkandidat, der sich durch den unheilvollen Drang nach Neutralität und Relativismus auszeichnete und deshalb entweder abgeschrieben oder unter Druck gesetzt werden mußte zwecks Aufrechterhaltung einer noch nicht völlig aus den Fugen geratenen Welt. Um ein wenig vorzugreifen: Diese Wahrnehmung Europas hat sich bei ihnen bis heute gehalten, wenn nicht sogar gewissermaßen radikalisiert: ‚Is Europe a Threat?‘ fragen sie in einem aktuellen Artikel und geben eine zweiteilige Antwort: Europa möchte diese Bedrohung gerne sein, wird’s aber nicht schaffen. Und – als Einschub – einen zunächst ablenkend erscheinden, dennoch immer wieder zu bemerkenden, nennen wir ihn: pragmatischen Nebenstrang der neokonservativen Tendenz: Fast alle Neokonservativen haben übersehen, daß die Entwicklungen der sechziger Jahre nicht alleine gegen die USA, sondern auch gegen das zweite Imperium gerichtet waren, gegen die Sowjetunion – aber einer nicht: Irving Kristol empfahl 1968 in einem schon im Titel aussagekräftigen Artikel ‚Memoirs of a Cold Warrior‘, daß nun, da die Zeiten des Stalinismus vorbei seien, man doch zu freundlicherem und kooperativem Umgang mit der Sowjetunion finden sollte – gegen ‚die neue Brut von Radikalen, die sich überall auf der Welt breitmachen‘ und ‚eine Bedrohung „unserer“ Zivilisation und vielleicht sogar zu „unserer“ Art zu leben darstellen‘. So viel ihnen daran liegt, die Menschen wieder fähig zu machen für die Kraft des Urteils zwischen gut und böse, beharren die Neokonservativen beizeiten auch stur auf der Unterscheidung zwischen größeren und kleineren Übeln.
Diese Wahrnehmung der Welt außerhalb der Vereinigten Staaten lief, wie gesagt, immer parallel zu der innerhalb, wo sie die selben Tendenzen und Neigungen am fatalen Werke sahen. Ergänzt werden müßte also das ‚United States in Opposition‘ um ‚Neoconservatives in Opposition‘. Erst sahen sie sich innerhalb der demokratischen Partei in eine immer schwächere Position gedrängt, schließlich flogen sie ganz raus oder zogen sich zurück, um sich also im Laufe der 70er recht isoliert wiederzufinden. Ihr Schluß daraus war, die nach ihrer eigenen Analyse recht schwachen Kräfte zu bündeln, indem sie Zeitschriften und think tanks gründeten oder zu infiltrieren suchten, um auf möglichst hoher Ebene möglichst viel Einfluß zu gewinnen. Dies führte zwar praktisch zu einer recht häufigen Zusammenarbeit mit den Republikanern – der erste neokonservative Höhepunkt war unter Ronald Reagan, dann unter Bush senior und nun unter Bush junior. Dennoch geschieht dies nicht in der Hauptsache als Parteinahme für die Republikaner, sondern als immer polemische, vorwärtstreibende Unterstützung von einzelnen Kräften innerhalb dieser Partei mit der Begleitmusik, daß sie von Leuten wie Pat Buchanan als unamerikanisch und Israels fünfte Kolonne gescholten werden, weswegen sie wiederum Buchanan regelmäßig des Antisemitismus bezichtigen, und überhaupt große Teile der Republikaner sich von den Neokonservativen als Fremdkörper in der Partei überrumpelt fühlen. Weiter haben sie sowohl bei Carter als auch bei Clinton in den jeweiligen Anfangsjahren sich um Einflußnahme bemüht, wobei sie jedesmal allerdings recht früh enttäuscht sich sahen und die letzten demokratischen Präsidentschaften als verlorene Zeit für die USA betrachten.
Was nun den Untertitel der heutigen Veranstaltung angeht, die Wiederkehr der Ideologie: Die Ideologie dieser Neokonservativen bleibt weiterhin schwer zu fassen, eher will es so scheinen, daß ihr Projekt sich darum bemüht, verzweifelt oder einigermaßen hoffnungslos-aktivistisch die Bedingungen wiederherzustellen, in denen man noch mit einem notwendig falschen Bewußtsein anstatt mit schlichten Wahnvorstellungen rechnen konnte. Das Vertrauen darauf, daß die je einzelnen selbstbewußten Bürger durch ihr interessegeleitetes zweckrationales Handeln eine wahrhaft liberale Gesellschaft herbeiführen und betreiben, haben sie ohnehin wohl schon seit den Zeiten des Nationalsozialismus und des Stalinismus verloren, weswegen viele von ihnen anfangs noch in trotzkistischen oder sozialistischen Gruppen versuchten, über die bestehende so unbürgerliche bürgerliche Gesellschaft hinauszudrängen, die Geschichte den offenbar so lebensnotwendigen Schritt weiter machen zu lassen. Da diese Versuche allerdings nicht nur einfach gescheitert sind, sondern nach und nach man nicht um die Wahrnehmung herum konnte, daß ihnen ihre Grundlage, mit der man rechnen und an der man sich abarbeiten konnte, verlorengegangen sind, das heißt die gesellschaftlichen Institutionen und Konstellationen, die qua Existenz den fragilen Haufen gescheiterter Subjekte mehr schlecht als recht, aber dennoch zusammengehalten haben, praktisch dekonstruiert worden sind und nunmehr – wie einer von ihnen beschreibt – die Gesellschaft statt Subjekten nur noch unreife und in einem infantilen Stadium stecken gebliebene Asoziale hervorbringt, bleibt den Neokonservativen im Kern nicht viel mehr übrig als Ratlosigkeit und Rückzugsgefechte, die zuweilen mit großem Halali als Vorwärtsverteidigung inszeniert werden. Da sie sich aber irgendwann selbst verboten haben, das große Ganze als Totalität, die dann zwecks Selbsterhalt eventuell abzuschaffen bzw. aufzuheben sei, in die Augen zu fassen, dennoch aber den Scherbenhaufen wahrnehmen, den der chaotische Verlauf der Vorgeschichte hinterlassen hat, entscheiden sie sich fürs Scherbenzusammenkleben und räsonieren über sozialpolitische Maßahmen, welche die Familien wieder reparieren sollen, beteiligen sich an Werte- und Moraloffensiven, beklagen die mangelnde Ehrfurcht vor der Religion, forcieren Gründungen von Nachbarschaftsvereinigungen, lassen immer wieder die ‚einfache Bevölkerung‘ hochleben als vertrauenswürdigen Gegensatz zur verderbten und prinzipienlosen intellektuellen Elite; kurz: machen sich dümmer, als sie bei ihren Feindanalysen meist sind – bewahren sich dabei aber irgendwie die Klugheit, daß sie sich selber in ihren Aktivitäten nicht ganz trauen beziehungsweise den Aspekt der Lächerlichkeit, der diesen anhaftet, offenbar bemerken und deswegen immer auch aufs Ganze gehen und die Geschicke der Welt in die Hand nehmen wollen – das heißt, die Totalität ihnen dann doch durch die Hintertür hereinschlüpft -, indem sie sich an allen Fronten – die eigene Unsicherheit und Haltlosigkeit dreist überspielend – der ständig neue Triumphe feiernden Herrschaft der Willkür entgegenstellen wollen, zumal dort, wo sich die feindlichen Truppen, die Gegner der schlichten instrumentellen Vernunft und Freunde des guten Willens und Gewissens, die organisierten Weltverbesserer aus Passion schon versammelt haben und zum Angriff auf die USA übergegangen sind, um den vollends irrational gewordenen Produktionsverhältnissen die entsprechende zur Vollendung getriebene Irrationalität der Herrschaft und des Bewußtseins ohne Rest und Nische beizufügen.
Dabei agieren sie weniger – wie manchmal unterstellt – als missionarische Erweckungsprediger, sondern quasi als Praktiker der Elitetheorie oder eine Art negativ gewendete Freimaurersekte, die nicht mehr in der alten Gesellschaft die noch verborgenen Kräfte der neuen mit Geschick vorwärts drängen wollen, hin aufs große Ziel, sondern den Resten der alten Gesellschaft in konzertierter Aktion Kraft einhauchen wollen, damit niemand chancenreich auf die Idee kommt, wir wären nicht am Ende der Geschichte angelangt, sondern müßten in einem Kraftakt des Kollektivs der Gutwilligen die andere Welt möglich machen. Daher versuchen sie unermüdlich, so einfache Gedanken ins praktische Bewußtsein der Menschen zurückzubringen, daß der Staat kein Heilsbringer, sondern eine vernünftige Einrichtung zur Organisierung der Herrschaft ist, daß Glück in dieser Welt ein primär privater und nicht öffentlicher Zustand ist, daß man der Absicht von Menschen, welche die USA zum Feind erklären, Glauben schenken und entsprechend mit ihnen umgehen sollte, daß Antiamerikanismus nicht auf ein Problem Amerikas sondern auf ein Problem des Antiamerikaners verweist, daß es einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz nicht geben kann – es sei denn, so menschlich wie er eben nun schon mal ist (in zwei Formulierungen von Irving Kristol: ‚Die Welt ist in Wirklichkeit eine Hölle. Es geht darum, diese Tatsache mit Stoizismus zu ertragen‘. und: ‚Ja, es gibt einen Klassenkonflikt im Kapitalismus; es gibt den Klassenkonflikt immer. und gerade die Idee einer klassenlosen Gesellschaft ist eine der bizarrsten Fantastereien der Sozialisten‘.), Daß schließlich – als letzte neocons-message an dieser Stelle – alle, die versprechen, das Glück auf Erden und für alle Menschen auf politischem oder antipolitischen wege, also immanent herbeizuführen, als wahnsinnig beziehungsweise gemeingefährlich eingestuft werden müssen. ‚Die Pflicht des Neokonservativen ist es, die Revolution zu verhindern‘, liesse sich diese Überzeugung vielleicht umformulieren. In den Mitteln sind sie dabei nicht zimperlich. So verteidigt Norman Podhoretz Ende der 70er in seinem Buch ‚Why We Were in Vietnam‘ den Vietnamkrieg nicht nur als große, mit edelsten Motiven gespeiste Tat, sondern kann auch keine einzige Fehlleistung im Detail während dieses Feldzugs finden – außer daß er verloren wurde, weswegen man es beim nächsten mal eben besser machen müsse. Oder ein anderer, Edward Luttwak, plädierte für glaubwürdige atomare Strafandrohungen mit dem Hinweis, daß ja mittlerweile der ‚Vergeltungsakt zweckgerichtet ist und eher weniger katastrophal als mehr‘.
Doch es wiederholt sich für die Neokonservativen im weltpolitischem Maßstab die selbe Prozedur wie bei ihren innenpolitischen Vorstößen: Immer wieder müssen sie sich auf schlechtere Ausgangsbedingungen für ihr heroisches Projekt einstellen (und nennen dies daher wie Norman Podhoretz Anfang der 80er wohl in realpolitisch angemessener Schlichtheit ‚Neo-Nationalismus‘), immer wieder kommen sie zu spät und außerdem oft nicht zum Zuge. Schließlich: wenn doch, kompromittieren sie sich an der Einrichtung der Welt – naturgemäß will man sagen. Immer wieder müssen sie sich empören, daß die Welt nicht und nicht einmal die US-Außenpolitik sich ihren strikten und klaren Maßgaben fügen will. In den 70ern mußten sie Pinochet gegen Castro setzen und bastelten sich dabei zwischendurch die Erkenntnis, daß in manchen Weltgegenden die Leute eben doch noch nicht reif für die Demokratie seien, in den 80ern kamen sie nicht umhin, auch Ronald Reagan als ‚too soft on communism‘ zu finden, George Bush senior blies zu ihrer Empörung den ersten Irak-Krieg vor den toren Bagdads ab, Bill Clinton ließ sich von den Europäern und ihrem Gerede von der Friedensdividende einlullen, und selbst George Bush der jüngere wollte ihren Empfehlungen erst nach dem 11. September ernsthafter zuhören – und hält sich aber zu ihrem Leidwesen mit großer Sturheit weiter die dem militanten Idealismus abholde Powell-Option offen. Was und wie sie’s auch versuchen, sie kommen zu keinem guten Ende, stehen immer und immer wieder neu erst am Anfang und können keine Ruhe finden, dafür aber z.b. erstmal Joschka Fischer und Wolfgang Schäuble als Hoffnung machende Lichter am Ende des dunklen europäischen Tunnels und in einem Deutschland, dessen Pazifismus sie sonst ohne Abstriche als schnöden neuen Nationalismus erkennen, der Amerika auch für künftige, noch schlechtere Zeiten als massenbindenden Sündenbock etabliert hat und mit dem sich Deutschland den Nationalsozialismus als Faschismus-Keule aneignen konnte, mit der die Deutschen als die einzig berufenen Faschismus-Experten der Welt erklären können, warum zum Beispiel die USA faschistisch sind, der Hussein-Irak hingegen nicht.