Einige Agenten der imaginären Partei
An einen Freund – Über Blanqui
„Die Geschichte der revolutionären Bewegung ist zuerst und vor allem die Geschichte der Bindungen, die ihre Konsistenz begründen.“
Mit diesem Text halten einige Agenten der imaginären Partei eine Lobrede auf Louis-Auguste Blanqui, in der sie die revolutionäre Existenz dieses aufrührerischen Franzosen in beeindruckender Deutlichkeit vor Augen führen und einige verbreitete Vorurteile über das, was man „Blanquismus“ genannt hat, zerstören. Zugleich legen sie implizit Elemente einer eigenen Revolutionstheorie dar. Von zentraler Bedeutung ist dabei die genauere Ausformulierung dessen, was Vetreter des neueren aufständischen Anarchismus – in Abgrenzung zur formellen Organisation – als Affinität bezeichnet haben – wobei die Agenten der imaginären Partei dieses Moment auch nicht verabsolutieren. Die deutsche Übersetzung des 2007 in französischer Sprache erschienenen Textes wurde erstmals in der Zeitschrift Perspektive (Heft 67/68) veröffentlicht.
Nachtrag: Die anarchistische Gruppe An die Waisen des Existierenden schrieb nun auf ihrem Blog, dass es ihr Missfallen errege, dass diese Lobrede auf Blanqui mittlerweile auch auf Deutsch kursiere und veröffentlichte eine lesenswerte Polemik italienischer Genossen gegen Blanqui. In dieser wird darauf hingewiesen, dass Blanqui ein Protagonist des autoritären Aufstands war und demgegenüber für eine antiautoritäre Revolte plädiert. Der Text ist auch als ausdruckbare Broschüre verfügbar.
Wir dokumentieren außerdem einen Brief unseres Übersetzers an die Waisen des Existierenden.
Et al.
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„In Anbetracht der gegenwärtigen Bewusstseinslage der Menschen scheint der Kommunismus nicht gerade an die Tür zu klopfen. Aber nichts ist so trügerisch wie die Situation, da nichts so veränderlich ist.“ (1)
Wir sind immer noch vielen abergläubischen Vorstellungen verhaftet. Wir haben unsere kollektiven Halluzinationen, die nur von den Verrückten bezweifelt werden, und wir haben unsere Spukbilder, die sich von denen der Vergangenheit nur dadurch unterscheiden, dass sie säkularer sind. Wir treffen unseresgleichen und glauben ernsthaft, Personen und Leute zu sehen. Wir lieben jemanden und sprechen von „dem Anderen“. Ein Jahrhundert trennt uns von einem bestimmten Leben und wir behaupten, es sei weit entfernt. Andere Kleidung oder ein paar Variationen in der Wortwahl reichen aus, um uns von einer unüberbrückbaren Distanz zu überzeugen. Aber was wir verstehen, kann nur ein Teil unserer selbst sein, und was wir vernehmen, kann nicht weit entfernt sein. Ihr seid im Irrtum: Blanqui ist keine historische Persönlichkeit. Er kehrt nicht als ein Gespenst des 19. Jahrhunderts zu uns zurück, außer wenn man erwägt, dass ein Jahrhundert die Zeitalter durchqueren kann. Blanqui ist von gestern, morgen, heute. Blanqui existierte tatsächlich, das beweisen die Fakten. Aber die Fakten beweisen auch, dass er vor allem als eine konzeptuelle Figur existierte – wie Nietzsches Zarathustra, Batailles Gilles De Rai oder Artauds Héliogabale. Daher rührt seine wahre Unsterblichkeit. Gustave Lefrançais schreibt in seinen Erinnerungen: „Für die 400.000 stimmberechtigten Bürger des Distrikts Seine ist Blanqui einfach ein revolutionärer Ausdruck.“ Der Name Blanqui bezieht sich nicht auf eine Person, sondern auf eine existentielle Möglichkeit, eine Daseinsweise, eine Kraft der Behauptung. Wenn man Blanqui richtigerweise den Beinamen „der Eingekerkerte“ gab, so nicht nur wegen der drei Jahrzehnte, die er im Knast verbrachte, sondern ebenso sehr aufgrund der Hartnäckigkeit, die MAN darauf verwendete, diese Kraft in die historische Figur Blanqui zu bannen. Das Gefängnis, der Ruhm und die Verleumdung sind probate Mittel, um der Notwendigkeit Genüge zu tun, allzu feurige Existenzen zu isolieren.
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Der allgegenwärtige Wunsch, jemand zu sein, anerkannt zu sein, begründet die Komik unserer Epoche und gibt ihr die Erscheinung einer freien Improvisation inmitten von Geisteskranken, einer Freilichtbühne für narzisstische Persönlichkeitsstörungen jeder Art. Wenden wir unseren Blick von diesem schlechten Schauspiel ab. Stellen wir uns ein Wesen vor, das seine Augen nicht vor dem Schrecken der Gegenwart verschließen konnte – diesem Gitternetz aus Langweile, Ungerechtigkeit, Dummheit, Trennung und Zynismus, dessen katastrophale Kohärenz nur durch die Polizei aufrechterhalten wird -, ein Wesen, dem es sicherlich eine Art Behinderung, aber vielleicht auch eine gewisse Trotzhaltung unmöglich gemacht haben, mit einem solchen Zustand der Dinge im Frieden zu bleiben; ein Wesen, welches darüber hinaus, während es noch jung war, inmitten von Aufruhr, Feuer und Verschwörungen das genaue Gegenteil dessen gefunden hat, was es um sich herum sah: Intelligenz, Mut, Abenteuer, Freundschaft und Wahrheit. Ein solches Wesen – und ohne Zweifel gibt es davon viele, die gerade jetzt leben und einander suchen – wäre Blanqui, so sehr wie Blanqui Blanqui war. Jede Sekunde seines Lebens, jeder Schlag seines Herzens würde angetrieben von dieser einzigen Frage: Wie vorgehen? Wie eine revolutionäre Kraft konstituieren? Wie siegen? Historische Figuren werden geschaffen, um die Kräfte, die sie tragen, zu verschleiern. Nichts ist einfacher, klarer, gewöhnlicher als Blanqui. Und genau deshalb war es nötig, diese bedrohliche Klarheit durch so viele Verleumdungen, Gerüchte und so viel Schmutzwasser zu verdecken. Es gibt kein „Geheimnis Blanqui“, trotz all seiner nächtlichen Umtriebe, geheimen Unternehmungen und Zusammenkünfte. Es gibt nur die unhintergehbare Tatsache der revolutionären Existenz. Aber welcher Teufel treibt ihn an? Wie kann er noch voranschreiten, noch wollen, sich noch bemühen, die Situation zu bedenken, nach so viel Verrat, Verlusten und Enttäuschungen? Und wozu das alles? Macht euch keine Sorgen, Zuschauerseelen, er wird eines Tages zusammenbrechen und ihr werdet aufatmen können. Oder aber er wird triumphieren und ihr werdet untergehen. In der Zwischenzeit wird er der Alp sein, der euch plagt, er wird eure Möglichkeit sein, die ihr bis zur Erschöpfung unablässig zu bannen sucht.
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„Das Ich hat mich immer kalt gelassen.“ Das ist alles, was Blanqui der Hysterie der Feindseligkeiten, dem Konzert der Eifersucht, das allein die Erwähnung seines Namens auslöste, entgegenhält. Und das verdoppelt das Getöse. Wer sich nicht dazu herablässt, seinen Anklägern zu antworten, wer die Gerüchte ungehindert sich verbreiten lässt, kann damit rechnen, dass sie anschwellen, um sich schließlich in schmalen Bächlein der Gehässigkeit zu erschöpfen. Mitteilung an die Milieus der Politaktivisten: „Wenn Sie darunter die persönlichen Feindschaften, die Eifersüchteleien, die ehrgeizigen Rivalitäten verstehen, so verdamme ich sie mit Ihnen, denn sie sind eine Plage für unsere Sache. Aber bedenken Sie, dass dies nicht nur eine Krankheit unserer Partei ist. Unsere Gegner der verschiedensten Coleur haben gleichermaßen darunter zu leiden. Sie bricht in unseren Reihen nur deswegen stärker aus, weil man in der demokratischen Welt kommunikationsfreudiger und offener ist. Diese individuellen Kämpfe liegen übrigens in der Schwäche des Menschen begründet; man muss sich damit abfinden und die Menschen nehmen, wie sie sind. Sich über einen Fehler der Natur aufzuregen, ist kindisch und dumm. Gefestigte Geister können diese Hindernisse umgehen. Niemand kann sie beseitigen, aber jeder kann sie vermeiden oder überwinden. Lernen wir also, uns der Notwendigkeit zu beugen und zu verhindern, dass das Übel, wenn wir es auch beklagen, unseren Vormarsch aufhält. Ich wiederhole: Ein wirklich politischer Mensch nimmt auf diese Hindernisse keine Rücksicht; er geht einfach geradeaus voran, ohne die Steine, die auf seinem Weg liegen, zu beachten.“ Dies ist aus dem Brief an Maillard. Lest ihn.
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Dionys Mascolo schrieb einen Satz über Saint-Just, der für Blanqui ebenso gilt: „Die ‚Unmenschlichkeit‘ Saint-Justs bestand darin, dass er nicht wie andere Menschen mehrere verschiedene Leben hatte, sondern nur ein einziges.“ Die Menschen pflegen das Leben verstreichen zu lassen. Die Hand auf der Schulter, die sagt: „Komm, mach’ dir keine Sorgen, es wird vorbeigehen“, ist der bekannteste Überträger dieser Krankheit. Unmenschlich ist somit derjenige, der sich an die höchste Intensität, die ihm begegnet ist, bindet wie an eine Wahrheit. Derjenige, der dem Schock, der Bewegung durch die Erfahrung keine böswilligen, skeptischen und bequemen Vorbehalte entgegenbringt. Er wird seinerseits zu einer treibenden Kraft. Ein wenig Disziplin und diese Kraft, die Kraft, die ihn an diese Intensität bindet, wird den Mahlstrom der Anziehungen, die uns ausmachen, zu seinem Nutzen organisieren und ihnen eine einzigartige Richtung verleihen. Was die Zuschauer idiotischerweise „Willen“ nennen, wird vielmehr als vorbehaltlose Hingabe erfahren. Diese Intensität ist für Blanqui der Aufstand. Der Aufstand gibt seiner Existenz seit den Julitagen 1830 die Richtung. Die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ziert als Ausdruck schlechten Geschmacks die Eingangshallen von Schulen; für manche ist sie aber auch der konzentrierteste Ausdruck der Erfahrung der Revolte. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ im Kampf auf der Straße, im Angesicht des Todes. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, wie viele Blanquis der Welt am 20. und 21. Juli 2001 in Genua geboren wurden; und dies umso weniger, als viele bereits gestorben sind, weil sie in der Wüste der Realität nirgends einen Weg gefunden haben, der sie dorthin zurückgeführt hätte. „Waffen und Organisation, das sind die entscheidenden Elemente des Fortschritts, die zuverlässigen Mittel, um dem Elend ein Ende zu bereiten! Wer Eisen hat, hat Brot. Man beugt sich den Bajonetten, über die unbewaffnete Menge fegt man hinweg. Frankreich voller Arbeiter in Waffen – das ist der Durchbruch des Sozialismus.“
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Man ginge in die Irre, würde man im Falle Blanquis das Gespenst des „Übermenschen“ wieder beleben. Darum kümmern sich bereits seine Feinde ausgiebig: „Finsterer Geist, hochmütig, unzugänglich, melancholisch, sarkastisch, von enormem Ehrgeiz, gefühlskalt, unerbittlich, zerbricht die Menschen ohne Mitleid, um seinen Weg mit ihnen zu pflastern. Hat ein Herz aus Stein und einen Kopf aus Eisen.“ „Der Kopf und das Herz der proletarischen Partei in Frankreich“ (ein Journalist). „Der zynischste unter den Dämonen, die zum Verderben der modernen Gesellschaft heraufbeschworen wurden“ (ein Reaktionär). Bequeme Manöver, um die Isolation eines Wesens außerhalb der Gefängnismauern sicherzustellen. Der „Übermensch“ ist Firlefanz, genauso wie „der Mensch“ eine Schimäre ist. Es reicht aus, zu unterscheiden zwischen der mittelmäßigen Existenz, die zögert und auf Sicht zwischen den Möglichkeiten herumnavigiert, und der entschlossenen Existenz, die sich einmal an eine Wahrheit gebunden hat und voranschreitet und wirkt, bis sie diese erreicht. Nicht zufällig ging das französische Wort destin (Schicksal) aus dem lateinischen Verb destinare hervor, welches „an etwas binden“ bedeutet. Wer sich so an etwas bindet, wird immer weniger eine Person und immer mehr zu einer Präsenz. Er wird immer weniger „menschlich“, aber immer gewöhnlicher, immer einfacher. Man nennt ein Subjekt mit solcher Verbundenheit zurecht „irreduzibel“, da es tatsächlich nicht mehr auf sich selbst reduziert werden kann. Uns wiederum gefällt es, die Menge derer, die sich als Personen verstehen und sich dadurch in jedem Moment untreu werden, als die Reduzierbaren zu bezeichnen.
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Am Vorabend der Ausrufung der Pariser Kommune ließ Thiers Blanqui aus dem Verkehr ziehen. Er ließ ihn an einem geheimen Ort festhalten und weigerte sich sogar, ihn gegen 64 Geiseln auszutauschen, unter denen sich auch der Erzbischof von Paris befand. Flotte gibt folgende Bemerkung Thiers’ wieder: „Dem Aufstand Blanqui zurück zu geben bedeutet, ihm eine Kraft zu geben, die so stark ist wie ein ganzes Bataillon.“ Blanqui ist gefürchtet – und das sogar in seiner eigenen Partei – nicht als Anführer, sondern als eine Macht. Er verstand es, gewisse Fähigkeiten sowohl des Handelns und als auch des Denkens zu zeigen und diese zusammen anzuwenden. Man muss nicht weiter suchen, um den Ursprung des unversöhnlichen Hasses und der bedingungslosen Treue zu finden, die Blanqui hervorrief. „Die Tribunen mit dem wilden Gebaren, dem Ausdruck eines Löwen, dem Nacken eines Stiers wenden sich an die heroische und barbarische Bestialität der Massen. Blanqui jedoch, der kalte Mathematiker der Revolte und der Repression, scheint zwischen seinen mageren Fingern die Aufstellung der Leiden und Rechte des Volkes zu halten.“ (Vallès, Die Revolte) Blanqui wendet sich an die Genauigkeit und an die Entschlossenheit, er wendet sich an seinesgleichen. Im Gegensatz zu einem Anführer schmeichelt er niemandem und herrscht niemanden an, und er zieht es vor, lieber Distanz zu wahren, als das Risiko der Verführung einzugehen. Er widerlegt durch seine bloße Existenz die ganze Propaganda der Bourgeoisie, die – bevor sie aus den aufständischen Pariser Proletariern Leichenberge so hoch wie Barrikaden macht – damit beginnt, diese als formlose Masse, als hirnlosen Mob aus Dieben, Säufern und entlaufenen Häftlingen, als kopflose Teufel, unverständliche Kreaturen, Monster und Feinde der Menschheit darzustellen. Das Gegenteil ist wahr: Es gibt eine Logik der Revolte. Es gibt eine Wissenschaft des Aufstands. Es gibt eine Intelligenz der Empörung, ein Denken des Aufruhrs. Es bedarf des ganzen Klassenhasses eines Tocqueville, um dies zu verkennen: „Dann sah ich einen Mann vor dem Tribunal erscheinen; ich habe ihn nur an diesem Tag gesehen, aber die Erinnerung an ihn hat mich stets mit Abscheu und Grauen erfüllt. Er hatte welke und eingefallene Wangen, bleiche Lippen, sah krank, bösartig und schmutzig aus, von dreckiger Blässe, er hatte das Aussehen einer modrigen Leiche, Wäsche war nicht an ihm zu sehen, ein alter schwarzer Gehrock klebte an den hageren und ausgemergelten Gliedern.“ (Tocqueville, Erinnerungen)
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„Nieder mit den Romantikern!“ – Dies waren die ersten Worte Blanquis, die er, noch schwitzend und mit Schießpulver bedeckt, am Ende der drei Julitage des Jahres 1830 äußerte. Es existiert in der Tat ein romantisches Lebensgefühl, das bis heute fortdauert und unsere Epoche noch stärker plagt als das vorhergehende Jahrhundert. Auf den ersten Seiten seiner Bekenntnisse eines jungen Zeitgenossen hat Musset dieses Lebensgefühl ein für alle mal auf den Punkt gebracht: „Ein Gefühl unbeschreiblichen Missbehagens begann also in all den jungen Herzen zu gären. Von den Herrschern der Welt zum Stillhalten verurteilt, den Pedanten aller Arten, dem Müßiggang und der Langeweile ausgeliefert, sahen die jungen Männer die schäumenden Wogen sich entfernen, gegen die zu kämpfen sie ihre Arme trainiert hatten. […] Während das äußere Leben derart farblos und schäbig war, nahm das innere Leben der Gesellschaft einen düsteren und schweigsamen Charakter an; in den Sitten herrschte schlimmste Heuchelei. […] Es war wie eine Verneinung aller Dinge im Himmel und auf Erden, die man Enttäuschung oder, wenn man will, Verzweiflung nennen kann: Als ob die in Lethargie erstarrte Menschheit von jenen für tot gehalten wurde, die ihr den Puls fühlten. So wie einst jener Soldat, der auf die Frage: ‚Woran glaubst Du?‘ geantwortet hatte: ‚An mich‘, so antwortete die Jugend Frankreichs auf diese Frage: ‚An nichts.‘“ Alles, was in den letzten zwei Jahrhunderten an Gültigem vollbracht wurde – auf allen Gebieten – wurde gegen das romantische Lebensgefühl geschaffen – was zugleich heißt, dass dieses dabei niemals vergessen wurde. Die Poesies Lautréamonts, Chklovskis Briefe nicht über die Liebe, die Dialoge von Gilles Deleuze und Claire Parnet, das Album Entertainment der Band Gang Of Four markieren eine Front, an der sich auch die kalte Leidenschaft Durrutis, die besten Intuitionen Lenins, der italienische Feminismus, die Reden Huey P. Newtons (2), die Stadtguerilla und die Luft, die durch die Villa Savoye (3) streicht, finden. All dies wurde durch das, was wir – in Abgrenzung zur Romantik – das blanquistische Lebensgefühl nennen, hervorgebracht. In der Ewigkeit durch die Sterne und in den Instruktionen für den Aufstand findet es seinen reinsten Ausdruck. Davon ausgehen, was vorhanden ist, und nicht davon, was fehlt und was angeblich einen Mangel der Realität ausmacht. Die Hindernisse wie die Leute geringschätzen. Niemals warten, mit denen arbeiten, die da sind. Sich selbst, Wesen und Situationen nicht als Einheiten begreifen, sondern durchkreuzt von Linien und Ebenen, durchzogen von Bestimmungen. Das Mögliche nicht als einen Lichtschein auffassen, der die Wesen umstrahlt, sondern als Produkt eines Zusammenpralls dieser Bestimmungen. Keine Hinterwelt, keine Träumereien, Klagen, Erklärungen. „Man tröstet sich nur zu sehr.“ Auf die Idee des Chaos verzichten, die bloß der geistige Ausdruch des Verzichts ist – „Nie gab es irgendwo auch nur den Schatten eines Chaos und es wird ihn auch niemals geben.“ Sich organisieren, sobald man eine Bestandsaufnahme dessen, was da ist, gemacht hat. Vor keiner logischen Konsequenz zurückschrecken. Wer von Revolution spricht, ohne sich über die Fragen der Bewaffnung und der Verpflegung Gedanken zu machen, hält bereits Leichen in den Armen. Die Fragen nach Ursprung und Ende den Metaphysikern überlassen, das Hier und Jetzt als einzigen Ausgangspunkt und das, was wir praktisch tun können, als einziges ernsthaftes Ziel betrachten. Wenn die ganze Ordnung der Dinge unhaltbar ist, dann nicht wegen diesem oder jenem, sondern weil ich in ihr ohnmächtig bin. Nie die Notwendigkeiten des Denkens denen des Handelns entgegenstellen. Standhaft bleiben in Zeiten der Ebbe, wenn es gilt, auf sich allein gestellt ganz von vorn zu beginnen: Mit der Wahrheit ist man niemals allein. Eine solche Daseinsweise findet keinerlei Entschuldigung in den Augen derer, für die das Leben nichts als eine gelehrte Sammlung von Rechtfertigungen ist. Angesichts dieser Haltung bewaffnet sich das Ressentiment mit Beschimpfungen, beschuldigt sie der „Machtgier“ und des „Größenwahns“ und errichtet um sie ein Sperrgebiet aus Böswilligkeit, Unfug und Selbstgefälligkeit; es verhängt einen Bann über das Monster, das im Begriff zu sein scheint, sich aus der menschlichen Herde abzusondern. „Aber wenn ein aufrichtiger Mann diese fantastischen Luftspiegelungen der Programme und den Nebel des Königreichs Utopia beiseite lässt, aus dem Roman heraustritt, um zur Realität zurückzukehren und eine ernsthafte und praktische Parole ausspricht: ‚Die Bourgeoisie ent- und das Volk bewaffnen, das ist die erste Notwendigkeit, die einzige Garantie des Erfolgs der Revolution.‘ Oh! Dann verpufft die Gleichgültigkeit; ein langes Wutgeheul erschallt vom einen Ende Frankreichs zum anderen. ‚Frevel!‘ ‚Vatermord!‘, ‚Tollwut!‘ hört man es rufen. Man hetzt, man entfacht den Zorn gegen diesen Mann, man weiht ihn den Göttern der Hölle, weil er bescheiden die ersten Worte des gesunden Menschenverstands buchstabiert hat.“
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Die Parteigänger des Wartens haben das Adjektiv „blanquistisch“ immer als eine unwiderrufliche Beleidigung aufgefasst. Den Puristen unter den Anarchisten galt es als Synonym für „jakobinisch“, während die Stalinisten es als gleichbedeutend mit „anarchistisch“ auffassten. Die kultivierten Dummköpfe der Encyclopédie des Nuisances (4), die seit zwanzig Jahren den hellsichtigen Mut haben, unermüdlich auf die Konterrevolution zu wetten, sprachen vom „imaginären Blanquismus“ des Unabombers (5), um sich besser von dessen Gesten abzugrenzen und leiteten auf diese Art ihre plump verfälschte Übersetzung seines Manifests ein. Für die Marxisten wiederum ist „blanquistisch“ ein Synonym für „putschistisch“ und soll ein avantgardistisches Abenteurertum denunzieren, eine Hast, sich zu organisieren und sich dabei wenig um Theorie zu kümmern, während die Massen niemals bereit sind. All diese oberflächliche Konfusion ist völlig uninteressant. „Los geht’s! Geduld – immer! Resignation – niemals!“, das ist die blanquistische Manier. Die Alternative besteht nicht zwischen Abwarten und Aktionismus, zwischen der Teilnahme an „sozialen Bewegungen“ und dem Bilden einer Avantgardearmee – die Alternative heißt resignieren oder sich organisieren. Eine Kraft kann untergründig wachsen, gemäß ihrem eigenen Rhythmus, und sich im geeigneten Augenblick über die Epoche ausbreiten. Während der Erfolg des Oktober-Staatsstreichs den Bolschewiki die Bewunderung von zahlreichen Anhängern und Karrieristen aller Nationalitäten eingebracht hat, hatten die unglücklichen Versuche Blanquis, die seinem Namen diese fluchbeladene Aura verliehen, wenigstens den Vorzug, dieses Volk von Kellerasseln von ihm fernzuhalten. In ihrem Text Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa zitiert die Rote Armee Fraktion eine Passage aus Lenins berühmtem Artikel über den Partisanenkrieg: „In der Epoche des Bürgerkriegs ist das Ideal der Partei des Proletariats eine kriegsführende Partei. […] Im Namen der Grundsätze des Marxismus verlangen wir unbedingt, dass man sich nicht mit abgenutzten und schablonenhaften Phrasen von Anarchismus, Blanquismus und Terrorismus um eine Analyse der Bedingungen des Bürgerkriegs drückt, dass man sinnlose Methoden der Partisanenaktionen, wie sie von dieser oder jener Organisation […] in diesem oder jenem Augenblick angewandt worden sind, nicht zum Abschreckungsmittel gegen die Beteiligung der Sozialdemokraten am Partisanenkrieg überhaupt macht.“
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Wer in einer Bestimmung aufgeht, findet sich auf einem Boden mit denen, die sie teilen. Die Erfahrung der Freundschaft ist die süßeste Wirkung einer solchen Disziplin. „Ich betrachte es als eine Errungenschaft, Bündnisse und Freundschaften mit einigen treuen Herzen geschlossen zu haben, die zu großer Zuneigung und zu großen Opfern fähig sind – dies ist eine Kraft, über die nicht jeder verfügt.“ Wie die Liebe aus der romantischen Kloake hervorging, so gehört die Freundschaft zu den blanquistischen Freuden. Sie ist jene seltene Form der Zuneigung, bei der der Horizont der Welt nicht verschwindet. „Die Freundschaft“, sagt Hannah Arendt, „ist nicht nur im engen Sinne persönlich, sie stellt politische Anforderungen und bleibt auf die Welt bezogen.“ In der Freundschaft gehören die Wesen einander im Element der Freiheit, das heißt, sie gehören einander in dem Maße, in dem jedes einzelne immer schon einer Bestimmung zugehört. Wenn Cicero in seinem Werk Laelius vor der Gefahren der Spaltung warnt, die der Stadt durch die Freundschaft drohen, so deshalb, weil eine ungerechte Welt, eine verachtenswerte Gesellschaft in der Freundschaft nicht vergessen werden wie im erstickenden Rausch der Liebe. Es besteht sogar die Möglichkeit, dass die Freundschaft sich gegen eine solche Welt, gegen eine solche Gesellschaft wendet. Sagen wir es unverblümt: Heute befindet sich jede Freundschaft auf irgendeine Art im Krieg mit der imperialen Ordnung, oder sie ist eine Lüge.
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Lacambre, Tridon, Eudes, Granger, Flotte – die Verschwörungen Blanquis waren anfangs nichts als Freundschaften, die ihre politische Latenz nicht unterdrückten. Umgekehrt hat jede Freundschaft einen konspirativen Kern. Im Jahre 1833 beklagt sich Vidocq darüber, dass es in Paris mehr als 100 Geheimgesellschaften gibt. Durch die gesamte Geschichte der französischen revolutionären Bewegung zwischen 1830 und 1870 lässt sich die Spur dieser Gesellschaften verfolgen, die als Clubs existierten, sofern das Regime dies zuließ, sich in klandestine Propagandazellen oder Verschwörungen verwandelten, sobald die Repression einsetzte, und sich, wenn das Regime wankte, augenblicklich in Clubs zurückverwandelten. Im Jahre 1848 gab es nicht weniger als 600 solcher Clubs in Paris, darunter, um nur einen zu nennen, den Club des revolutionären Aufstands, der sich in der Rue Mouffetard 69 traf und in dem Palanchon den Vorsitz hatte, ein alter Komplize Blanquis. Gemäß der offiziellen Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung ging die konspirative Tradition mit ihren Eiden, Aufnahmeritualen und geheimen Bräuchen mit dem Aufstieg der Arbeiterorganisationen unter – aber hat sie nicht deren Schmelztigel gebildet? Hat nicht der Bund der Gerechten, Vorläufer des Bundes der Kommunisten, an dem gescheiterten Aufstand von 1839 teilgenommen, der von der Gesellschaft der Jahreszeiten angezettelt worden war? War es nicht Buonarroti, der der modernen Welt die bedeutende Botschaft Babeufs übermittelt hat? Sicher wird man in die so genannte Revolutionär-kommunistische Liga (6) nicht in der Weise aufgenommen, wie man 1839 in die Vereinigung der egalitären Arbeiter aufgenommen wurde: „Höre mit Zuversicht und ohne Furcht; Du bist unter kommunistischen Republikanern und beginnst folglich, im Zeitalter der Gleichheit zu leben. Sie werden Deine Brüder sein, wenn Du Deinem Schwur treu bleibst, aber Du wirst für immer verloren sein, wenn Du ihn brichst. Sie haben ihn alle geschworen, wie Du selbst ihn sogleich schwören wirst. Höre immer mit größter Aufmerksamkeit: die Gemeinschaft ist die wahre Republik: gemeinschaftliche Arbeit, Bildung, Gemeineigentum, gemeinsame Vergnügungen; das ist die symbolische Sonne der Gleichheit; das ist der neue Glaube, für den wir alle zu sterben geschworen haben! Wir kennen weder Hindernisse noch Grenzen, kein Vaterland – alle Kommunisten sind unsere Brüder, die Aristokraten unsere Feinde. Nun, wenn Du Kerker, Folter, Tod fürchtest, wenn Du Deinen Mut sinken fühlst, ziehe Dich zurück; um in unsere Reihen einzutreten, muss man all dem die Stirn bieten: Wenn der Eid einmal geleistet ist, gehört Dein Leben uns, Du haftest uns gegenüber mit Deinem Kopf und mit dem desjenigen, der Dich hergebracht hat. Überlege und antworte.“ Mit dem Ende der Ära der Verschwörungen sei die Arbeiterbewegung aus ihrem kindlichen Stadium ins Erwachsenenalter, von der Nacht in den Tag übergetreten – so will es die marxistische Geschichtsschreibung. Die öffentlichen Organisationen der Sozialdemokratie hätten die unausgereifte proletarische Politik abgelöst. Vom Bund der Kommunisten sei man stufenweise zur Internationalen Arbeiterassoziation und zur Entstehung sozialdemokratischer Parteien in allen Ländern aufgestiegen, während die Anarchisten dummerweise in Terrorismus und Syndikalismus abgesunken seien. Die Wahrheit ist jedoch, dass die konspirative Politik nie aufgehört hat. Alle traditionellen Bindungen, alle Vertrautheiten des Berufs oder des Viertels, kurz: des Dorfes, auf welchen bis in die Zeit der Pariser Kommune die proletarische Politik beruhte, wurden unwiederbringlich zerstört. Die Organisationen, die sich selbst als Ersatz für das nunmehr fehlende Volk einsetzten, mussten das Konspirative in den „informellen Bereich“ abdrängen und dadurch alles entritualisieren, was durch Freundschaft entstand. Im Grunde lässt sich der Konflikt zwischen Marx und Bakunin um die Erste Internationale und ihre angeblich von Bakunin betriebene Unterwanderung durch eine geheimnisvolle Internationale Allianz der Sozialistischen Demokratie auf folgenden Gegensatz zurückführen: Hier die Politik der Programme, dort die Politik der Freundschaft. Der Preuße Karl Marx hat das traurige Ende des Bundes der Kommunisten aus Hass auf die Politik der Freundschaft nicht abgewartet. Seine Rezension von Chenus Buch Die Konspiratoren war bereits 1850 von reiner Feindseligkeit durchtränkt: „Das ganze Leben dieser Verschwörer von Profession trägt den ausgeprägtesten Charakter der Boheme. Werbunteroffiziere der Verschwörung, ziehen sie von marchand de vin zu marchand de vin, fühlen den Arbeitern den Puls, suchen ihre Leute heraus, kajolieren sie in die Verschwörung hinein und lassen entweder die Gesellschaftskasse oder den neuen Freund die Kosten der dabei unvermeidlichen Konsumtion von Litres tragen. Der marchand de vin ist überhaupt ihr eigentlicher Herbergsvater. […] Der Konspirateur, ohnehin wie alle Pariser Proletarier sehr heitrer Natur, entwickelt sich in dieser ununterbrochenen Kneipenatmosphäre bald zum vollständigsten Bambocheur (7). Der finstre Verschwörer, der in den geheimen Sitzungen eine spartanische Tugendstrenge an den Tag legt, taut plötzlich auf und verwandelt sich in einen überall bekannten Stammgast, der den Wein und das weibliche Geschlecht sehr wohl zu schätzen versteht. Dieser Kneipenhumor wird noch erhöht durch die fortwährenden Gefahren, denen der Konspirateur ausgesetzt ist; jeden Augenblick kann er auf die Barrikade gerufen werden und dort fallen, auf jedem Schritt und Tritt legt ihm die Polizei Schlingen, die ihn ins Gefängnis oder gar auf die Galeeren bringen können. Solche Gefahren machen eben den Reiz des Handwerks aus; je größer die Unsicherheit, desto mehr beeilt sich der Verschwörer, den Genuß des Moments festzuhalten. Zugleich macht ihn die Gewohnheit der Gefahr im höchsten Grade gleichgültig gegen Leben und Freiheit. Im Gefängnis ist er zu Hause wie beim marchand de vin. Jeden Tag erwartet er den Befehl zum Losbruch. Die verzweifelte Tollkühnheit, die in jeder Pariser Insurrektion hervortritt, wird gerade durch diese alten Verschwörer von Profession, die hommes de coups de main, hereingebracht. Sie sind es, die die ersten Barrikaden aufwerfen und kommandieren, die den Widerstand organisieren, die Plünderung der Waffenläden, die Wegnahme der Waffen und Munition aus den Häusern leiten und mitten im Aufstand jene verwegnen Handstreiche ausführen, die die Regierungspartei so oft in Verwirrung bringen.“ Man hat hier eine getreue Beschreibung des Typus Mensch, der im kontinentalen Maßstab von Bakunin verkörpert wurde. Bakunin, der auf seinen unaufhörlichen transkontinentalen Reisen kein Wesen treffen konnte, das er mochte, ohne ihm die Statuten seiner neuesten Geheimgesellschaft aufzuschwatzen, in der Hoffnung, er würde „jener Art von revolutionärem Generalstab“ beitreten, „bestehend aus opferbereiten und intelligenten Individuen und vor allem aufrichtigen Freunden, weder ehrgeizig noch eingebildet, aus dem Volk, fähig, als Mittler zwischen der revolutionären Idee und den volkstümlichen Instinkten zu dienen. Die Zahl dieser Individuen muss jedoch nicht groß sein. Für die internationale Organisation in ganz Europa reichen hundert eng und ernsthaft verbundene Revolutionäre aus.“ (Programm und Ziel der revolutionären Organisation der internationalen Brüder) In Wirklichkeit hat die konspirative Politik nie aufgehört, alle organisatorischen Realitäten zu verdoppeln. In Spanien verdoppelte die FAI die CNT, wie das Militärbüro der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands der Organisation keinerlei Rechenschaft ablegte. Lenin war der einzige, der über die letzte Enteignungsaktion Kamos (8) zugunsten der Organisation im Jahre 1912 auf dem Laufenden war. Die „Kommission für illegale Arbeiten“ von Potere Operaio befasste sich mit deren Selbstfinanzierung und in den Statuten der „unsichtbaren Partei“ klingt dieselbe Verdopplung an. Es ist in Vergessenheit geraten, dass die Partei niemals aufgehört hat, legal und illegal, sichtbar und unsichtbar, öffentlich und konspirativ zu sein. Es ist ein Charakteristikum der Gegenwart, dass wir in einem Moment, in dem wir alle Mittel der konspirativen Politik brauchen, über diese nichts mehr wissen. Es gilt, um jeden Preis an folgendem erkenntnistheoretischen Prinzip festzuhalten: Die Geschichte der revolutionären Bewegung ist zuerst und vor allem die Geschichte der Bindungen, die ihre Konsistenz begründen.
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Die Vernünfteleien des Ressentiments verstehen sich auf die Kunst, logische Beziehungen in ihr Gegenteil zu verkehren. Seit mehr als einem Jahrhundert und namentlich seit den Protokollen der Weisen von Zion findet jedes Ereignis bei den Sklaven seine Erklärung in einer Verschwörung der Mächtigen. Das globale Kleinbürgertum liebt diese Literatur, weil sie seine Unwissenheit und Ohnmacht bestätigt. Der Fortschritt des Verschwörungsglaubens folgte stets der Zunahme dieser „Klasse“. Tatsächlich dient die Enthüllung, dass die Mächtigen gegen uns konspirieren, allein dazu, die gegenteilige Evidenz zu verdecken: die Macht, die wir in der Freundschaft und folglich in der Verschwörung finden können. Im Vorwort seiner Geschichte der Dreizehn drückt Balzac wie kein anderer die Ambivalenz dieser Macht aus, die sich ebensogut in Form eines aristokratischen Komplotts wie als revolutionäre Kraft äußern kann: „Zur Zeit des Kaiserreichs haben sich in Paris dreizehn Männer zusammengefunden, die alle vom gleichen Gefühl durchdrungen und sämtliche mit einer Energie begabt waren, die ausreichte, dass sie dem gleichen Gedanken treu blieben. Sie waren redlich genug, einander nicht zu verraten, nicht einmal, wenn ihre Interessen sich durchkreuzten; sie waren so abgründige Politiker, dass sie die geheiligten Bande, die sie einten, verheimlichten; stark genug, um sich über alle Gesetze hinwegzusetzen; kühn genug, um alles zu unternehmen, und so sehr vom Glück begünstigt, jedes ihrer Vorhaben erfolgreich durchzuführen. Sie hatten die größten Gefahren auf sich genommen, aber ihre Fehlschläge verschwiegen; der Furcht waren sie unzugänglich; sie hatten weder vor dem Fürsten noch vor dem Henker, noch vor der Unschuld gezittert; sie hatten einander hingenommen, wie sie waren, ohne nach gesellschaftlichen Vorurteilen zu fragen. […] Diese abseitige Sonderwelt innerhalb der Welt und der Welt feindlich, würde keine der Ideen der Welt zulassen, keines ihrer Gesetze anerkennen. […] Diese innige Eintracht überlegener kalter Spötter, die inmitten einer falschen, kleinlichen Gesellschaft lächelten und fluchten. […] Es gab also in Paris dreizehn ‚Brüder‘, die einander angehörten und in Welt und Gesellschaft taten, als kennten sie einander nicht. […] Kein Oberhaupt befahl ihnen, niemand konnte sich die Macht anmaßen; nur die heftigste Leidenschaft, der dringlichste Umstand hatten Vorrang. Es waren dreizehn unbekannte Könige, aber wirkliche Könige und mehr als Könige, nämlich Richter und Henker, die, da sie sich Flügel zugelegt hatten, um die Gesellschaft in allen Höhen und Tiefen zu durcheilen, es verachteten, darin etwas darzustellen, weil sie darin alles vermochten.“
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Alle Texte von Blanqui sind Gelegenheitsarbeiten. Sie sind bestimmt durch die Umstände, unter denen und gegen die sie geschrieben wurden. Keiner von ihnen bis hin zu Die Ewigkeit durch die Sterne, in dem nicht das Fort du Taureau (9) Erwähnung findet. Daher kommt es, dass es kein Oeuvre Blanquis in Sinne eines in sich abgeschlossenen Vermächtnisses gibt. Deshalb gibt es auch keine blanquistische Doktrin, so wie es eine marxistische Metaphysik gibt. „Ein wenig Leidenschaft, die Doktrinen später!“ Was es allerdings gibt, ist ein blanquistischer Stil. „Revolutionen verlangen Männer, die an sie glauben. Ihren Erfolg anzuzweifeln, heißt bereits, sie zu verraten. Durch Logik und Kühnheit werden sie verwirklicht und gerettet. Wenn Euch diese Vermögen fehlen, so werden Eure Feinde sie gegen Euch anwenden; sie werden in Euren Schwächen nur eines sehen: das Maß ihrer Stärke. Und ihr Mut wird sich im direkten Verhältnis zu Eurer Verzagtheit wieder aufrichten.“ Es ist alles da. Blanqui ist der Erfinder der Losung „Weder Gott noch Herr“, er ist der Mann, der schrieb: „Die geordnete Anarchie ist die Zukunft der Menschheit“, und er ist der Autor eines Plädoyers gegen den Mutualismus (10) und für eine integrale Assoziation, genannt „Der Kommunismus, die Zukunft der Gesellschaft“. Geht und sucht eine Orthodoxie in diesen Aussagen. Wenn es darum geht, eine administrative Monarchie umzustürzen, wenn nur eine Elite auszuschalten ist, kann die Bildung einer revolutionären Kraft vielleicht das Werk einer Elite sein. Wenn die Armeen Bismarcks auf Paris marschieren, würde revolutionäres Handeln vielleicht heißen: „Barrikaden errichten und Gräben ausheben; Verwendung der Kirchen zum nationalen Nutzen, Bewaffnung der Priester und damit Abschaffung aller religiösen Kulte; Zwangsrekrutierung; Vergemeinschaftung der Subsistenzmittel und Rationierung; Entlassung und Auflösung der alten Polizeikräfte; Denunziation von Verdächtigen und Bonapartisten.“ (Dommanget, Blanqui) In der gegenwärtigen Gesellschaft, in der die Macht gleichermaßen in den Flüssen der Nahrung, der Information und der Medizin zirkuliert, in der jeder x-beliebige Bürger von seinen Rechten Gebrauch macht, um seinen Nachbarn die Polizei auf den Hals zu hetzen, versteht es sich von selbst, dass eine revolutionäre Kraft alle Aspekte der Existenz umfassen muss, sie muss sowohl die Lebensmittelversorgung sichern, als auch als Armee fungieren, sie muss als poetische wie als medizinische Kraft auftreten und sie muss Territorien erobern. Sie muss alle brauchbaren Informationen über die gegnerische Organisation konzentrieren und in allen Rängen der Gesellschaft Deserteure hervorbringen. Sie muss sich im selben Maße sozialisieren wie das Soziale sich militarisiert. Jedoch kann sie, nicht anders als früher, keinesfalls warten. Eine solche Kraft ist dabei, sich zu konstituieren. Wenn sie sich mit Blanqui befasst, dann nur, um den im Gang befindlichen Krieg besser zu verstehen.
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Die Zeit vergeht. Das ist ihre Natur. Solange es Zeit gibt, wird es Verdruss geben, und die Zeit wird vergehen. Die Vergangenheit jedoch vergeht nicht. Alles, was sich tatsächlich ereignet hat, trägt in sich einen Funken Ewigkeit, hat sich in einem Winkel der kollektiven Erfahrung eingeschrieben. Man kann seine Spuren tilgen, aber nicht das Ereignis selbst. Man kann wohl die Erinnerung daran pulversieren, aber jede Scherbe trägt in sich die gesamte Monade dessen, was man zerstört glaubte, und wird es wieder hervorbringen, wenn die Gelegenheit sich ergibt. Wir wiederholen: Der Historismus ist ein Bordell, in dem man sicherstellt, dass die Kunden einander niemals begegnen. Die Vergangenheit ist nicht eine Abfolge von Daten, Ereignissen und Lebensweisen, sie ist keine Kostümkammer, sondern ein Reservoir von Kräften, Gesten und existentiellen Möglichkeiten. Ihre Kenntnis ist nicht notwendig, sie ist schlicht lebenswichtig. Lebenswichtig für die Gegenwart. Von der Gegenwart ausgehend versteht man die Vergangenheit, nicht umgekehrt. Jede Epoche träumt die vorhergegangenen. Das Verschwinden jedes historischen Sinns, wie das verschwinden jedes Sinns überhaupt in unserer Epoche, ist die logische Entsprechung zum Verschwinden aller Erfahrung. Die systematische Organisation des Vergessens unterscheidet sich nirgends von der systematischen Organisation des Erfahrungsverlusts. Der dementeste historische Revisionismus, der es mittlerweile geschafft hat, sogar auf Ereignisse der Gegenwart Anwendung zu finden, hat seinen Nährboden im suspendierten Leben der Metropolen, wo man niemals irgendetwas erfährt, außer Zeichen, Signale, Codes und deren wattierte Konflikte. Wo man stattdessen „Erfahrungen sammelt“, dass heißt private und damit verarmte Erfahrungen, die stumm, unfassbar und nichtig dahinfließen; implodierende Intensitäten, die sich nicht über die Mauern eines Apartments hinweg mitteilen können, und die jeder Bericht noch hohler macht, statt dass er es ihnen ermöglichte, mit anderen geteilt zu werden. Die Privatisierung der Erfahrung ist heutzutage zur vorherrschenden Form des Erfahrungsverlusts geworden.
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Dezember 2006. Das Schiff der Nation leckt an allen Ecken und Enden. Bald wird nur noch der Ausguck aus dem Wasser ragen. Frankreich brennt und erleidet Schiffbruch. Das ist gut. Das frischt Erinnerungen auf. In Flammen stehende Schulen brennen sich Generationen von Proletariern ins Gedächtnis, die dort den bitteren Geschmack von Stundenplänen, Arbeit und Gehorsam kennenlernten und das Gefühl ihrer vollständigen Minderwertigkeit verinnerlichten. Diejenigen, die nicht mehr wählen gehen, ehren die Aufständischen des Juni 1848, dieser „Revolte rebellischer Engel, die sich seither nicht mehr erhoben haben“ (Cœurderoy), und die man im Namen des allgemeinen Wahlrechts auf die Bajonette gespießt hat. Die Intellektuellen der Linken fragen sich im Radio, ob die Regierung den Mut haben wird, die Armee in die Banlieues zu schicken, wie ihre Vorfahren den Generälen applaudierten, die, aus Algerien zurückgekehrt, Pariser Proletarier massakrierten, da es ihnen zur Gewohnheit geworden war, die Wilden zu zivilisieren. Damals wie heute nennt sich diese Sorte von Dreckskerlen republikanisch und spricht vom „Gesindel“. Die Gefangenen der Action directe haben ihre Mindesthaftstrafen längst überschritten. Régis Schleicher (11) wird bald mit Blanqui um die längste Aufenthaltsdauer im Gefängis konkurrieren. Die Armee trainiert mehr den je für den alten Straßenkampf. In Frankreich ist die historische Uhr seit dem Mai 1871 blockiert. Die Frage des Kommunismus ist im Geheimen die einzige Frage, die in allen sozialen Verhältnissen herumgeistert, sogar in den Bettgeschichten. Das Universum tritt auf der Stelle. Letztes Jahr am 31. März dauert eine unangemeldete Demonstration von 4.000 Menschen länger als acht Stunden, von der Intervention des Präsidenten der verkalkten Republik – er verkündet im Fernsehen das Festhalten am CPE (12) – bis vier Uhr morgens. Die Leute möchten auf den Elysée-Palast zusteuern, biegen dann zur Nationalversammlung ab, deren Besetzung aus Mangel an Material und Waffen ebenso scheitert wie die des Senats. Im Verlauf des Marsches wächst die Entschlossenheit. Ein Schlachtruf trägt sie: „Paris, steh’ auf, erwache!“ Es ist ein Befehl. Auf dem Boulevard de Sébastopol, dann am Boulevard de Magenta zersplittern die Schaufensterscheiben von Banken und Zeitarbeitsfirmen, methodisch, eine nach der anderen. In Pigalle begrüßen Prostitierte den Marsch von einem Fenster aus. Die Menge steigt mit dem Ruf „Vive la Commune“ im Laufschritt zum Sacré-Coeur hinauf. Die Tür der Kryptra gibt nicht nach – wie schade, man hätte sie in Brand stecken können. Auf dem Rückzug, in einer kleinen Straße lehnt eine Dame im Nachthemd auf ihrem Balkon und ruft aus Leibeskräften Die schlechten Tage werden enden. Das Büro des schrecklichen Pierre Lellouche wird bald verwüstet werden. Es ist drei Uhr morgens. Das Vergangene vergeht nicht. Die Inbrandsetzung von Paris wird die angemessene Vervollständigung des Zerstörungswerks des Barons Haussmann sein.
Einige Agenten der imaginären Partei
2007
(1) Alle nicht weiter ausgewiesenen Zitate sind Worte Blanquis.
(2) Huey P. Newton, Mitbegründer der Black Panthers.
(3) Villa Savoye, ein von Le Corbusier entworfenes Haus nahe Paris.
(4) Encyclopédie des Nuisances, dt. „Enzyklopädie der Verheerungen“, von Jaime Semprun und anderen 1984 gegründete französische Zeitschrift, die sich in der Tradition der Situationistischen Internationale sah.
(5) Unabomber, mit bürgerlichem Namen Theodore John Kaczynski, ein US-amerikanischer Mathematiker und zivilisationskritischer Bombenleger.
(6) Revolutionär-kommunistische Liga (Ligue communiste révolutionnaire), französische trotzkistische Partei, die von 1974 bis 2009 bestand.
(7) Bambocheur, dt. Zechbruder.
(8) Kamo, eigentlich Semjon Arschakowitsch Ter-Petrosjan, ein georgischer Revolutionär und Bankräuber.
(9) Fort du Taureau, Gefängnisinsel, auf der Blanqui eingekerkert war.
(10) Mutualismus, Bewegung von Handwerkern und Arbeitern im 19. Jahrhundert, die in der wechselseitigen Hilfe durch Unterstützungskassen etc. ihr Los verbessern wollten.
(11) Régis Schleicher, Mitglied der franzöischen Action directe, wurde 1986 zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt. Am 26. Mai 2010 wurde er aus der Haft entlassen.
(12) CPE, Contrat Première Embauche, dt. „Vertrag zur Ersteinstellung“, ein neues Gesetz der französischen Regierung, das 2006 massiven Proteste der Jugend auslöste und schließlich zurückgenommen wurde.