Nur für internen Handgebrauch
Brief an einen damaligen Laidakwirt
Ende 2020, also kurz vor der zweiten Einsperrung, hatte ein Genosse es gewagt, ein Flugblatt im Laidak zu verbreiten, daß sich gegen den allgemeinen Ausnahmezustand und insbesondere gegen die Schließung der kollektiven Räume wie eben Kneipen richtete. Einer der Kneipenwirte des Laidak machte sich daraufhin den derben Spaß, den Flugblattverbreiter als Messias zu verspotten, nachdem er die Flugschriften weggeschmissen hatte. Die Episode war im Prozeß der umfassenden Säuberung des Laidak von covidianischen Elementen nur ein flüchtiger Augenblick, trug aber doch dazu bei, den Prozeß zu klären, da man bis dahin nicht ahnen konnte, wie tief diese Leute bereits gesunken waren. Frucht der glücklichen Spaltung ist das Baisel, zu deutsch Puff. Dort trifft sich nun die links-konformistische Mehrheit des alten Laidak. Manche nennen es daher Zweidak.
Inzwischen ist allgemeine Amnesie ausgebrochen. Die Königsgrippe hat ihre Wirkung getan und besser für die Herrschaft ist es, sie zu vergessen. Aber das Unbewußte kennt keine Zeit und so kam es zu einer Erinnerung an diese Episode. Eine Genossin moderierte nämlich jüngst eine philosemitische Veranstaltung eben im philosemitischen Baisel und einige ihrer Freunde nahmen das zum Anlaß, mal dort vorbeizuschauen. Darunter eben auch der erwähnte Autor der Flugschrift, der allerdings erneut als „Corona-Messias“ begrüßt und des Raumes verwiesen wurde.
Im Grunde hätte man noch weitere Leute verweisen müssen, inklusive der Moderatorin. Aber des lieben Friedens willen hat der Wirt, eine Null mit Hut, davon abgesehen und auch die Freunde des verwiesenen Flugblattautors handelten auf die übliche Weise diszipliniert ignorant, so daß diese Episode nicht weiter auffiel und die Veranstaltung den gewohnten Verlauf nahm. Sie sei aber hier zum Anlaß genommen, einen offenen Brief zu dokumentieren, den Horst Pankow damals, also Ende 2020, an den jetzigen Baiselbetreiber schickte, da man sich noch kannte und zusammen Filme im Laidak vorgeführt hatte. Indem die Spaltung des Laidak nirgends adressiert wurde, ist er immerhin auch eines der raren Dokumente derselben.
27.6.2024
Berlin, 23. 10. 2020
Lieber X,
eigentlich hatte ich schon vor einigen Wochen die Idee, Dir einen Vorschlag für eine kleine Veranstaltung zu machen, die selbstverständlich erst stattfinden würde, wenn’s wieder „die Polizei erlaubt“. In Mittelpunkt sollte die wenig bekannte Erzählung In einer dunklen Welt von Stephan Hermlin stehen. Darin geht es, kurz gesagt, um den Ent-Täuschungsprozess eines Idealisten, dessen gehöriges Projektionspotential ihn zunächst vor der Erkenntnis eines an sich gewöhnlichen, aber im historisch-politischen Kontext durchaus monströsen, Verrats bewahrte und der nach einer nahezu beiläufigen Ent-Hüllung der tatsächlichen Umstände wohl gezwungen sein wird, weiterhin mit der üblichen Nix-Passiert-Haltung des politisierenden Stehaufmännchens über eine dunkle Welt zu schlurfen. Eine bittere Geschichte, auch über die den aufrechten Linken der Vergangenheit zutiefst beunruhigende Möglichkeit des Wunsches der Zubefreienden nach Verharren in Unfreiheit. Eine mehr als nur bemerkswerte Geschichte, weil der Autor es sich hier (schon 1965 in der DDR!) gestattet, den gefälligen Nasen-Mund-Schutz des Dialektischen Materialismus nach und nach zu lüften, um ein resignativ-abgeklärtes nietzscheanisches Profil zu enthüllen, im Schlußabsatz gelang er zur Freiheit eine zentrale Aussage aus Nietzsches Parabel „Der tolle Mensch“ zu paraphrasieren.
Was mich bewegt, Dir diesen Veranstaltungsvorschlag schon jetzt, lange bevor es wieder „die Polizei erlaubt“, zu machen, ist, Du ahnst es schon, die jüngste Entwicklung des Laidak. Wie Du weißt, bin ich alles andere als ein bedingungsloser Parteigänger jedweder Unruhe, von märtyrhafter Konfrontation mit einer mächtigen und entschlossenen Staatsgewalt rate ich in der Regel ab und heroische High-Noon-Konfrontationen genieße ich lieber on screen als in einer für mich chancenlosen Realität. Dennoch bestehe ich auf den vielleicht archaisch erscheinenden, idealistischen Terminus Würde und gestehe, dass mich Würdelosigkeit zutiefst abstößt. Ich bin der festen Überzeugung, dass der häufig (überlebens-)notwendige Opportunismus gegenüber dem staatlichen Souverän dann in Würdelosigkeit und Selbstentwertung (nicht nur im ökonomischen, sondern vor allem im idealistischen Sinn) übergeht, wenn ohne erkennnbare staatliche Observanz Parteiabzeichen getragen und Fahnen geschwenkt, wenn Gessler-Hüte untertänig gegrüßt werden, ohne dass die entsprechenden Büttel zur Ahndung der Verweigerung bereitstehen. Unwürdig ist heute das Tragen dieser grotesken Corona-Masken, wenn kein Polizist daneben steht, wenn kein selbsternannter (echt bemerkenswert: die diskursive Karriere dieses Adjektivs von fremd & verdächtig zu vertraut & schätzenswert) Volksgesundheitsschützer einen darauf verweist, doch bitteschön auch die Nase „vollständig“ zu bedecken, weil „sonscht ja doch alles sinnlos is“, wie mich kürzlich eine mittelalterliche Schwäbin mit beeindruckendem sense of misson in der Berliner S-Bahn aufklärte. Unwürdig ist auch die Aufforderung von Kneipenwirten an ihre Gäste sich in eine Anwesenheitsliste einzutragen, um den Behörden einen Nachvollzug der an einem Tag erschienenen Gäste zu ermöglich. Unwürdig und auch peinlich für beide – Wirte wie Gäste. Und damit sind wir endlich wieder beim Laidak und seiner jüngsten Entwicklung.
Du erinnerst Dich vielleicht, lieber X, an den vergangenen Montag, den 19. Oktober, als Du mich, gegen etwa 18.00 Uhr im Laidak eingetroffen, auffordetest, mich (Du meintest meine sog. Kontaktdaten) in einen Zettel einzutragen, der ungefähr das Format einer gängigen Visiten- oder Geschäftskarte aufwies und den Zettel anschließend in eine Box aus Pappe zu werfen. Der Zweck dieser Zettelwirtschaft bestand offensichtlich darin, keine datenschutzrechtlichen Bedenken aufkommen zu lassen, wie sie sich bei Eintragungen in DIN-A4-Listen rasch einstellen können. Dass sich die Situation dennoch entspannte und ich, ohne Zetteleintrag, aber mit Getränk, schließlich den Raucherraum des Laidak entern durfte, verdankte sich wohl drei Faktoren: 1. Meiner unbedarften Tölpelhaftigkeit: „Wieso? Ich bin doch gar nicht hier. Wüsste nicht, wer bezeugen sollte, ich sei heute hier gewesen.“ 2. Der Genialität Bob Dylans: „I’m not here.“ Und 3. Der weltklugen Gelassenheit des Wirts, und der warst Du an jenem Abend, lieber X.
Dann, rauchend unter Rauchern in einem posthistorischen deutschen Raucher-Innenraum, kam mir der Gedanke, Dich gleich über meine Idee einer Veranstaltung über die erwähnte Stephan-Hermlin-Erzählung zu informieren. Allein die befremdlichen Berichte meiner Mitrauchenden hielten mich davon ab. Das Maskenunwesen, hies es, greife auch im Laidak mehr und mehr um sich. Berichtet wurde von maskierten Gästen, die das selbstbewußt getragene Unterwerfungsstigma niemals ablegten, es vielmehr durch entschlossene Blicke dergestalt „Leg dich nicht mit mir an, ich bin viele“ ergänzten, irgendwelche Getränke mit Strohhalmen unter ihren Masken in sich einführten und dann allerdings bald wieder verschwanden. Ebenso befremdlich waren Berichte über Laidak-Mitarbeiter, die offenbar demonstrativ maskiert ihre Arbeit verrichteten, was zur Folge hatte, dass viele Gäste dies als Aufforderung allgemeiner Maskierung verstanden, obwohl dies staatlicherweise gar nicht von ihnen verlangt worden war.
Vier Tage zuvor (Donnerstag, der 15. Oktober) schien mir alles noch anders. Bei meinem Eintreffen gegen kurz vor sieben keine Maske weit und breit. Die freundlichen Leute hinter der Theke erwarteten auch von mir weder Maske noch Listeneintrag. Beim Umherspähen vermochte ich zwar eine Besucherliste zu entdecken, die befand sich, behaglich von Getränkepfützen durchweichend, dort, wo sich wohl auch hingehörte, unter einem Tablett mit vor langem ausgetrunkenen Gläsern, die wohl noch lange ihrer Säuberung harren würden und einem auch notorische Heilsverweigerer zur Tabakabstinenz inspirierenden Syph-Aschenbecher. Daneben allerdings befand sich ein Stapel mit interessanterem Material, nämlich Flugblättern, deren Text sich mit dem Laidak – auch wenn dieses expressis verbis nicht erwähnt wird – in der sog. Corona-Krise beschäftigt. Der mysteriöse Titel „Wo stehst du mit deiner Kunst, Genosse?“ vermag die inhaltliche Brisanz nicht lange zu camouflieren. Es geht in diesem Text um die Verteidigung von Würde angesichts einer uns alle beschämen sollenden Entwicklung zu affigen Maskendeutschen. Ohne diesen zur richtigen Zeit am richtigen Ort erschienenen Text jetzt weiter zu erörtern, möchte ich eine zentrale Aussage zitieren: „… den 40 Menschen, denen man am Freitag in der Liebigstraße in Berlin die Wohnung wegnimmt, muß man dafür mit 2500 Polizisten kommen. Für die Durchsetzung der Corona-Regeln reicht dafür jedermanns cop inside.“ Es mag vielleicht übertrieben klingen, wenn man die Existenz von Läden wie dem Laidak als shelter against the cop inside bezeichnete, doch zumindest den sympathischen Ansatz zu solcherlei Größenwahn habe auch ich darin gesehen. Und Bescheidwissern, die zu bemerken müssen glauben, es habe eigentlich the cop within heißen sollen, präsentiere ich gern meine durchaus vorhandene autistische Seite. A propos Seite, auf welcher stehst Du, lieber X?
Einen Tag später (Freitag, den 16. Oktober) soll kein einziges dieser Flugblätter im Laidak mehr auffindbar gewesen sein. Allerdings erhält der Autor tagsdarauf von einem Laidak-Mitarbeiter ein Email, das er mir zu Verfügung stellte und das ich hier vollständig zitiere:
„Hey Z, Y hier. Deine flugblätter kamen so gut an, sie sind alle schon weg. Weiß auch nicht wie das passieren konnte. Wahrscheinlich bist du so ne art messias. Freundliche Grüsse aus dem Laidak. Y“
Ja, sowas … Überflüssig zu sagen, der Y hätte einfach weitere Exemplare des Flugblattes nachbestellen können. Gewisse Dinge sind ausgeleiert und abgedroschen, bleiben aber trotzdem peinlich und scheinbar unauslöschlich. Wie manche hässliche Flecken auf Wänden, die immer wieder auftauchen, so oft man sie noch überstreichen mag. Verschwinden werden sie nur durch den radikalen Abbruch der Wand. Aber dann ist eben die Wand auch weg … Ebenso wie die Wand, die als reines Ding ja gar nicht schuldfähig sein kann, bringt auch der deutsche Sozialcharakter immer wieder seine spezifischen Flecken hervor. Zwei davon finden wir in der zitierten Email: Der sozialsadistische Charaktertyp freut sich hämisch über den angerichteten Schaden, hier die Zurückziehung der Flugblätter, und ergeht sich in Krokodilstränen, huch, weiß gar nicht, wie das passieren konnte, ogottogott … Der antisemitische Charaktertyp präsentiert sich als Enthüller einer gespenstischen Präsenz von längst Vergangenem. „Vielleicht bist du so ne art messias“ kommt mit der ganzen Kraft des einerseits Spekulativen und des andererseits irgendwie schon immer Gewussten daher. Die Ironie ist hier immer nur eine scheinbare, die handfeste Maßnahmen ankündigt. In der Geschichte des europäischen Antisemitismus finden sich nicht wenige Beispiele, in denen „rechte“ wie „linke“ Verfolger und Ankläger ihre menschlichen Objekte als „Messias“, „König der Juden“ o. ä. kennzeichneten, um sie unter den wohlwollenden Blicken einer bedürftigen Öffentlichkeit zu quälen.
Lieber X, der Autor des Flugblatts teilt mir mit, die Person Y kaum zu kennen, er habe insgesamt seit Jahren wohl weniger als dreißig Minuten mit ihr gesprochen. Bei mir sieht die Bilanz noch negativer aus, ich kann mir gegenwärtig nicht mal ein Bild von einer Person unter diesem Kürzel machen. Das ist gewiß zum größten Teil meiner Ignoranz geschuldet. (Auf schlechtes Namensgedächtnis o. ä mag ich mich gar nicht heraus reden.) Ich meine aber, dass eine öffentliche, ausführliche und stichhaltige Entschuldigung des Y gegenüber dem Autor des Flugblattes unabdingbar für eine weitere Kommunikation des Laidak mit der Nicht-Masken-Welt wäre.
Beinahe hätte ich statt „unabdingbar“ die Floskel „conditio sine qua non“ benutzt, hätte mich nicht vor einigen Wochen eine türkische Kollegin dahingehend unterrichtet, dass sich hinter der scheinbar harmlosen Floskel eine gefährliche internationale Verschwörerorganisation verberge, die sich, wie sie meinte, auf „Menschenopfer“ & „Trump-Unterstützung“ spezialisiert habe. Natürlich fand ich das ziemlich daneben, doch war es (wohl nicht nur für den heterosexuellen alten weißen Mann) schwierig, sich dem quasi natürlichen Charme der begeisterten Maskenträgerin zu entziehen und ich hielt lieber die Klappe, was sich als weise Entscheidung erwies …
Ja, aber … wenn die Maskenmenschen das Laidak umlagern wie die Zombies das Kaufhaus im Horrorfilm, wer hilft dann? Weiß ich auch nicht, lieber X. Vielleicht die Reste jener Antideutschen, die sich einst bei Euch so wohlfühlten. Vielleicht einige jüdische Intellektuelle, die ihr oft ersehntet und die selten kamen. Vielleicht einige Vertreter des authentischen Linksradikalismus und des wahren Klassenkampfes, vielleicht einige originielle Rezipienten von Avantgarden, die aufgrund allgemeiner Maskenpflicht anderswo nicht bemerkt würden? Vielleicht … Doch halt, die Masken sind ja offenkundig schon da, die Maskenpflicht wird wohl bald nachfolgen.
Lassen wir es besser nicht so weit kommen, lieber X. Was meinst du?
Herzlich grüßt K [Horst Pankow]