Liebe Waisen des Existierenden,
Vor einiger Zeit haben wir auf dieser Seite eine deutsche Übersetzung des Textes A un ami von einigen Agenten der imaginären Partei veröffentlicht. Der Text war als Vorwort eines Buchs mit Texten des französischen Revolutionärs Blanqui geschrieben worden.
Die anarchistische Gruppe An die Waisen des Existierenden schrieb nun auf ihrem Blog, dass es ihr Missfallen errege, dass diese Lobrede auf Blanqui mittlerweile auch auf Deutsch kursiere und veröffentlichte eine lesenswerte Polemik italienischer Genossen gegen Blanqui. In dieser wird darauf hingewiesen, dass Blanqui ein Protagonist des autoritären Aufstands war und demgegenüber für eine antiautoritäre Revolte plädiert. Der Text ist auch als ausdruckbare Broschüre verfügbar.
Wir dokumentieren außerdem einen Brief unseres Übersetzers an die Waisen des Existierenden.
vor einiger Zeit habe ich einen Text von „einigen Agenten der imaginären Partei“ über den Revolutionär Blanqui übersetzt und ihn Euch zur Veröffentlichung in Eurer Zeitschrift bzw. auf Eurer Internetseite vorgeschlagen. Ihr habt mir damals nicht geantwortet.
Jetzt schreibt Ihr auf Eurem Blog, dass es Eurer Missfallen errege, dass dieser Text mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum kursiere und veröffentlicht ein Pamphlet italienischer Genossen gegen Blanqui. In diesem wird dem französischen Aufrührer vorgeworfen, ein Anhänger der autoritären Insurrektion gewesen zu sein, der die Massen bevormunden wollte. Diese Kritik ist berechtigt; tatsächlich erscheinen Blanquis putschistische Verschwörungen wenig geeignet als Modell für die soziale Revolution der Zukunft. Übrigens wird dies auch von den „Agenten der imaginären Partei“ in ihrem Text explizit verneint; wer genau liest, wird es dort finden. Wie dem auch sei, jedenfalls wird in den italienischen Pamphlet, als zeitgenössischer Gegenentwurf zu Blanqui, der Aufstandsplan des Anarchisten Joseph Déjaque von 1854 erwähnt: „Dass jeder Revolutionär unter denen, deren Zuverlässigkeit er am höchsten einschätzt, einen oder zwei andere Proletarier wie er erwähle. Und mögen alle – in Gruppen zu dritt oder zu viert, die untereinander nicht verbunden sind und getrennt operieren, damit die Aufdeckung einer der Gruppen nicht zur Festnahme der übrigen führt – mit dem gemeinsamen Ziel der Zerstörung der alten Gesellschaft handeln.“ Das klingt sympathisch und ich werde beizeiten versuchen, mir die Schriften dieses Mannes zu besorgen. Aber für eine Bewegung, die sich nicht weniger als die Abschaffung aller Staaten und die Umwälzung der Produktionsverhältnisse im Weltmaßstab zum Ziel gesetzt hat, scheint mir dieses Konzept doch ziemlich mager.
Offen gestanden weiß ich überhaupt nicht, auf welchem Wege wir der Revolution näher kommen können. Niemand in den subversiven Milieus weiß das, sonst würden wir ja nicht alle so im Nebel stochern. Im Unterschied zu all den Rätekommunisten, Trotzkisten, Insurrektionalisten, Antiimperialisten usw. – und wahrscheinlich auch im Gegensatz zu Euch – glaube oder behaupte ich aber auch nicht, es zu wissen. Ich bin überzeugt, dass alle revolutionären Strömungen der Vergangenheit gescheitert sind – nicht nur der autoritäre Sozialismus, sondern ebenso der Anarchismus – und dass nur eine völlig neue Bewegung in der Lage sein wird, das alte Ziel ernsthaft anzugehen.
Für die Erzeugung einer solchen Bewegung erscheint es mir aber nützlich, sich möglichst vorurteilsfrei mit der ganzen Geschichte vergangener Subversionen und Revolten zu beschäftigen und aus diesem Steinbruch zu nehmen, was für heute brauchbar ist. Aus diesem Grund ist es begrüßenswert, wenn die „Agenten der imaginären Partei“ an Blanqui erinnern und einige seiner Schriften zugänglich machen. Dies macht sie nicht zu Blanquisten, so wenig, wie ich ein „zum Appellisten konvertierter Prosituationist“ bin, weil ich einen Text aus dem Tiqqun-Milieu übersetzt habe. Es ist wahr, ich habe einige situationistische Schriften gerne gelesen, und auch „Der kommende Aufstand“ hat mir gefallen (Der „Appell“ dagegen weniger). Aber ich habe beispielsweise auch vor einiger Zeit versucht, Adam Weishaupt und den Freiherrn von Knigge ein wenig bekannt zu machen, ohne deshalb „Weishauptianer“ oder „Kniggist“ zu sein. Alles an diesen Herren ist fragwürdig und wenig zur Nachahmung zu empfehlen, trotzdem erschienen mir bestimmte Aspekte an ihrem Wirken als nutzbringend für heutige Subversive. Wer sich von vornherein auf die Ideen einer bestimmten Strömung der Vergangenheit beschränkt – z.B. auf den aufständischen Anarchismus – der wird zur kommenden Revolution wahrscheinlich wenig beitragen können.
Über die Erinnerung an Blanqui hinaus ist der Aufsatz „An einen Freund“ auch an sich lesenswert. Es ist eine dumme oder böswillige Denunziation, wenn Eure italienischen Freunde behaupten, dass er sich auf das rein gefühlsmäßige Lob von „bewundernswerten Qualitäten“ Blanquis beschränke, mit denen sich ebenso Napoleon, Mussolini oder Bin Laden hätten rühmen können. Vielmehr geht es, durchaus nüchtern und sachlich, unter anderem um bestimmte Charakterzüge, die einen Menschen zum Feind des Bestehenden machen und ihm den Hass seiner Mitmenschen einbringen können; um eine bestimmte Haltung zur Welt, die aus einem solchen Charakter erwächst; um die konterrevolutionäre Funktion von Verschwörungstheorien; um die geschichtsphilosophische Frage nach der Bedeutung und dem Status des Vergangenen; um die Vorzüge der auf gemeinsame Überzeugungen gegründete Freundschaft gegenüber der romantischen Liebe; um das Verhältnis von informellen Bindungen und formeller Organisation in der Geschichte revolutionärer Bewegungen und dergleichen mehr. All dies sind Fragen, die zu bedenken sich für Kritikerinnen der bestehenden Ordnung allemal lohnen, ganz gleich, wie sie zur historischen Figur Blanqui und seinen konkreten Aufstandsplänen stehen. Insbesondere die Überlegungen zur Rolle informeller Bindungen schienen mir recht nah an Euren eigenen Ideen zu sein, umso mehr wunderte es mich, dass Ihr den Text nicht veröffentlichen wolltet.
Wie dem auch sei, jedenfalls sollte es nicht Euer Missfallen hervorrufen, wenn Texte in revolutionärer Absicht zugänglich gemacht werden. Vielmehr könnte es Euch im Interesse einer kontroversen Debatte auch freuen – denn diese wird notwendig sein, wenn eine neue subversive Kraft entstehen soll –, und sei es nur, um Euch einen Anlass zu geben, Eure Gedanken zum Gegensatz von autoritärer und antiautoritärer Insurrektion darzulegen.
Mit freundlichen Grüßen,
Euer immergleicher Prosituationist Josef Swoboda