Der Erreger on Tour
Subjektiver Bericht einer Lustfahrt mit ernstem Hintergrund
Am vorletzten Oktoberwochenende waren drei Redakteure des Erregers in der ehemaligen Reichsstadt Aachen zu Besuch. Man war eingeladen die Broschüre vorzustellen. Aufbruch Freitag Mittag, einer mäßig verschnupft, dementsprechend hohes Aerosolaufkommen im Kleinwagen, Stimmung trotzdem munter. Schon bekloppt, unverantwortliche 600 km ein Weg quer durch die Seuchenrepublik, mitten in der Energiekrise. Der Liter Super an der Tankstelle Rastplatz Siepenkuck kostet schlappe 1,99€. Im Hintergrund rauscht das Geschwätz von Greta Thunfisch und Co, Klimaschutzanstrengungen versiebenfachen usf. Wir stehen derweil auf einer 4-spurigen Ruhrpott-Autobahn im Stau. Das baldige Ende des Verbrennungsmotors: hier jedenfalls nicht in Sicht.
Untergebracht sind wir in einer Absteige zwei Stockwerke über dem Kneipenraum, in dem wir am nächsten Tag vortragen werden. Heute lebt hier so manch gestrandete Existenz, früher eher Gast- und Montagearbeiter. Nach der Maloche wurde unten der Lohn versoffen und hier oben verfickt, der Straßenstrich nur einen Block weiter. Jetzt also wir zu dritt auf einem Zimmer, zwei pennen auf dem Boden. Der Raum besteht aus schwerem Holz, gestickten Doppelgardinen, einem Röhrenfernseher und viel Orange. Atmosphäre der alten BRD. Kennen wir eigentlich nur von Omma. Etwas runtergekommen aber gemütlich.
Der Eigentümer des Hauses und ehemalige Wirt ist ein steinalter Grieche. Klein, stämmig und braungebrannt schaut er aus wie eine sympathische Schildkröte. In den 50ern konnte er genug Kohle auf dem Bau machen, um das Haus zu kaufen. Den Kneipenbetrieb hat er vor einigen Jahren eingestellt, einen Monat nachdem seine Frau gestorben war. Hinter’m Tresen hängen Fotos von ihr und der Familie. Am Zapfhahn eine vergilbte handschriftliche Tabelle, in der die Preise von 1 – 40 Bier verzeichnet sind. Wenn man grünen oder roten Ouzo bestellt, leuchten seine Augen. Für die Runden kritzelt er dankbar Striche auf einen Bierdeckel.
Nach der Ankunft Spätabends sind wir alle immens durstig. Begrüßung, Quartier beziehen, weiter. Der Studentenschuppen unserer Wahl nennt sich Kuckucksnest. Natürlich gilt hier obligatorisch-faschistoides 3G, aber im Ausstellen von Fake-Corona-Tests sind wir geübt. Wirklich hingucken tut das Barpersonal trotz wichtigtuerischer Kontrolle eh nicht. Das Problem mit „Kneipen“ in NRW ist aber der militante sogenannte Nichtraucherschutz, sprich: Komplettverbot seit 2013. Gleichzeitig wundern sich Leute noch ernsthaft, weshalb die alten Gaststätten wegsterben. Oder durch lebensfeindliche Aborte wie Extrablatt oder Cup & Cino ersetzt werden, die jedes Provinznest, meistens am Markt, so auch Aachen, haben muss.
Wir setzen uns strategisch genial an einen Tisch, der sich im magischen Abstand von anderthalb Metern zur Eingangstür befindet. Logisch, unter drei Kippen geht kein halber Liter Bier runter. Zwei maskenlose Zigarettengänge reichen, um einen Ordnungshüter auf den Plan zu rufen. Gönnerhaft raunzt er: Is’ nicht das erste Mal. Über den Pissoirs dazu ein hauseigenes Toilettenhygienekonzept. Unmöglich dieses Machwerk beim Pinkeln komplett zu studieren, seine Länge stellt jede Infektionsschutzverordnung in den Schatten. Wir sind belustigt und reden. Die politische Situation heute und die damit verglichen glorreichen Zeiten damals. Als zu spät Geborene lauschen wir alten Geschichten. Melancholie beim Gedanken an die Organisationsformen der grauen Vorzeit. SAP steht für Situationistische Aneignungs Plattform.
Halb verkatert kloppen wir am nächsten Morgen bei Käsebrötchen und Kaffee noch schnell die letzten Sätze in unsere Vortragstexte. Danach Stadtspaziergang mit Ziel Buchhandlung, dort ein konservativ-liberaler Coronaskeptiker. Älterer Osteuropäer, kantige Physiognomie, weißes Hemd mit hochwertiger Weste, äußerlich Houellebecq-Verschnitt, bloß eleganter, ohne Suff-Kaputtheit. Mit dem nötigen Händlergeist und intellektuellem Charme redet er über seine Bücher, ist vorsichtig interessiert, aber hält durch übermäßiges Argumentieren Distanz. Aufgewachsen im und abgehauen aus dem realen Sozialismus, kennt er totalitäre Systeme. Stolzer Antikommunismus aus praktischer Erfahrung, aber anders als zeitgenössische „Kommunisten“ ausgestattet mit ausgebildetem Organ für gesellschaftliche Erschütterungen.
Das Heft ist ihm natürlich zu links, ein paar davon ist er dennoch losgeworden. In seinem Buchladen herrscht angenehmes Chaos. Irgendwo zwischen billigen Neuauflagen klassischer Werke und dem Abfall zeitgenössischer Ratgeberesoterik fügt sich unsere Zeitung ganz gut ein. Einmal standen hier die Omas gegen Rechts vor dem Laden und beschimpften ihn als Ausländerfeind, Denunziation kennt weder noch Alter noch Geschlecht. Er habe kein Problem mit Ausländern, sagte er den Gesinnungs-Omas, einige meiner besten Freunde sind Deutsche. Gemeinsam lachen wir herzlich.
Nachmittags Demo durch die Aachener Innenstadt, organisiert vom lokalen Ableger der freien Linken (1). Die Terminüberschneidung war Zufall, organisatorisch ein glücklicher. In Berlin langweilen Demos bloß, jeder will ständig irgendwas, stolze Protestkultur für und gegen alles. Selbst die unangemeldeten Maßnahmendemos wären kaum mehr als selbstbezügliche Gewaltmärsche, würden sie nicht die Riege der Medienschaffenden in Schnappatmung versetzen. Hier aber eine prallgefüllte Innenstadt, kleine Gassen voller Maskenmenschen und dazwischen einige Dutzend Querstänker. Öffentlichkeit heißt Konfrontation im nicht abstrakten Raum der Körper, Adressierung nicht bereits Überzeugter, Auseinandersetzung auf offener Straße. An diesem Nachmittag gelingt ein bisschen davon. Die Plakate sind sachbezogen, die Leute gesprächsbereit, die Reden skandalisieren, was es zu skandalisieren gibt und selbst die Bullen machen keinen Stress. Nicht einmal Masken werden getragen. Ein bisschen Jesus- und DieGedankenSindFrei-Kitsch gibt es zwar, fällt aber nicht weiter ins Gewicht. In der Hauptsache schallt ein beherztes: Wir machen eure Scheiße nicht mit! durch die Straßen. Um diese Artikulation geht es und sie wird gehört.
Zwischendurch betreiben wir Mund zu Mund-Propaganda für Abends. Einige fragen verängstigt, ob man denn überhaupt Zutritt haben wird ohne Zertifikat und sind erstaunt zu hören, dass es keinerlei G- oder sonstige Drangsalierung geben wird. Die Idee, Samstag Abends überhaupt rauszugehen, ist Vielen erfolgreich ausgetrieben worden. Ebenso wundert man sich über unser Alter. Vergangen, dass Jugend was mit Auflehnung zu tun hatte. Heute steht von jungen Menschen kein Widerspruch zu erwarten. Wir Verräter unserer Generation.
Was fehlte, war bloß die örtliche Staatsantifa, die andernorts mit unverbindlichen Impfangeboten aufwartet. Vermutlich gibt’s in der Provinz noch waschechte Neo-Nationalsozialisten, weshalb das ein oder andere Unterscheidungsvermögen noch intakt ist. Die notorische Beobachtung durch einen ortsansässigen Miniwächter der Ordnung (2) blieb trotzdem nicht aus. Im Vorfeld schon zeigte sich Papparazzo Michael Klarmann (ein Saubermann; unter lokalen Spöttern auch sachlich korrekt der Schmiermann genannt) im Netz beleidigt, dass wir die Örtlichkeit des von uns organisierten und von seinem Antifasprech so getauften Info-Abends nicht preisgaben (3). Nach bekannter Masche stellt der Schmiermann nun den Samstags-Protest an den digitalen Pranger – samt Erwähnung unserer Teilnahme (4). Als Echokammer der Spitzelei auf Twitter stellt sich prompt eine Gesundheitstussi im Innenresort der antideutschen Schülerzeitung Jungle World zur Verfügung. Schier unglaublich für solche Stubenhocker, dass sich politisch Ähnlichgesinnte (Anklage Schmiermann, Zitat: „Gegner der Corona-Politik“ ) in der echten Welt versammeln (Tatvorwurf: Verschwörung), während sich das anständige Pack nur in der garantiert sterilisierten Paralellrealität des Internets ordnungsgemäß zusammenrottet. Die wahre Querfront reicht vom Kanzleramt bis ins autonome Zentrum.
Wie jeder Spitzel weiß, macht ein wenig Geheimniskrämerei ab und an auch mal Spaß. Konspiratives Gehabe wie halb verschämtes Zusammentreffen in eher abseitigen Spelunken sind aber kein Selbstzweck, sondern in erster Linie nervige Vorsichtsmaßnahme. Man will ja nicht zum aktiven Hygieneposten mutieren. Außerdem noch seine Ruhe haben vor Stalkern aller Couleur, die bloß darauf warten, die Staatsmacht ins Feld zu führen. Also paradox unter dem Rader bleiben, wo man gleichzeitig Öffentlichkeit sucht. Unser Abend verlief ohne alle Störung.
Aus der Innenstadt schleppen wir schnell noch zwei Kästen Bier an, richten den Kneipenraum etwas her und warten darauf, dass die Leute eintrudeln. Mit 25 Interessierten ist er irgendwann gut gefüllt. Von undogmatischen Alt-Arbeiterkommunisten und ehemalige Hambi-Aktivisten bis zu heutigen Smartphone-Antideutschen über Vertreter fast sämtlicher Parteien (einzig Grüne und Christdemokraten hatten niemand delegiert) sind Schwurbler jeder politischen Fraktion aus Aachen und den umliegenden Städten anwesend. Gut ein Drittel des Publikums bilden freie Linke, die sich als Sammelbecken für alle von ihren Genossen Verratenen ihrerseits aus unzähligen linken Subsekten zusammensetzt. Diese Personenkonstellation veranlasst im Nachgang den Schmiermann dazu, mit seinem Halbwissen die Propaganda-Seiten des Staates vollzuschreiben (5). Sein Bewerbungsschreiben als Innenminister der Ampelkoaltion stellt entsetzt fest, dass unsere Kreise doch wirklich den „liberalen, demokratischen Rechtsstaat verunglimpfen“.
Bevor wir dann zu lesen beginnen, betätigt sich eine Kämpferin gegen Freiheitseinschränkungen als Kämpferin für Freiheitseinschränkungen. Thema: Abermals Rauchen. Tief in die Psyche eingebrannt hatte sich der Gesundheitsfimmel lange vor Covid. Eigentlich ja nett, mal einen Abend wieder liberal unbelästigt, Kneipe mit allem drum und dran. Stattdessen: Erpressung eines Kompromisses, der offizielle Teil bleibt rauchfrei, wir machen Pausen, die Hälfte des Raumes strömt vor die Tür. Später raucht einem der Kopf natürlich trotzdem, gegen den Stress steckt sich vorne einer eine an. Unmittelbar wird das aus dem Publikum quittiert. Empörter Zwischenruf: Ey! Wir hatten uns doch drauf geeinigt, dass… Höhepunkt dieses autoritären Reflexes. Abweichung darf es, hüben wie drüben, nicht geben.
Zwischendurch stellen wir unsere Überlegungen vor. Teils schon im Heft (6) oder anderswo (7) irgendwie Publiziertes, teils Neuaufgeschriebenes (8). Danach offene Diskussion. Das Unbehagen am Ausnahmezustand ist der geteilte Ausgangspunkt. Niemand denkt dran, Differenzen zu leugnen oder umgekehrt Positionsreinheitsverlust oder Kontaktschuldblödsinn zu fürchten. Stillschweigende Einigkeit, die stets wieder ausgetrampelten Diskurspfade mal nicht zu bestreiten. Für einen Abend, angenehm. Die große Runde dennoch eher unfruchtbar, hartgesottene Vortragstouristen früherer Tage kennen das. Die diskussionsfreudigeren Liberalen tun sich dadurch hervor, peinlich berührt mit den Augen zu rollen, wenn das Wort Klasse oder Kapitalismus fällt. Für sie bleibt der Fortschritt eine Autobahn ohne Unfall. Den produktiveren Teil des offenen Gespräches bilden Spekulationen über den Ursprung der Corona-Krise. Die berüchtigte Frage nach dem Warum?, und wie immer: Versammelte Ratlosigkeit. Die Rauch-Intervention setzt dann unfreiwillig einen Schlusspunkt. Wirkliche Verständigung: mühsam und selten, selbst im Gespräch über Verbindendes.
Der gesellige Teil gerät kürzer als gedacht. Gespräche ergeben sich mit dem sozialistischen Lager. Vorheriges Misstrauen verfliegt, Sympathie im Kampf gegen’s gleiche Übel (9). Anerkennung auch für unermüdliche Arbeit, die manch Traditionsmarxist sich nicht hat ausreden lassen und die manch feiner Herr Ideologiekritiker zu verachten gelernt hat. Ganz ohne Streben nach Assoziation geht man unter, auch inhaltlich. An frühere Zeiten fühlt sich einer erinnert, als der Zerfall der Linken noch weniger fortgeschritten war. Langeweile während der Kohl-Ära, viel Zeit für Gedanken und Geschichte. Und heute weiß kaum jemand mehr, was der Matrosenaufstand war. Wir nicken mit schlechten Gewissen. Uns fehlt die Tradition, den klugen Leuten vor Ort die Gesprächspartner.
Am Ende sitzen wir bis spätnachts in kleinem Kreis beisammen und diskutieren allerhand Fragen. Aufstieg und Fall einer Strömung, verlorene Lieben. Als halb Dahergelaufene haben wir auf Vieles selbst keine Antwort. Sicher, es braucht praktischen Widerstand gegen das heraufziehende Dystopia. Genauso aber theoretische Arbeit. Sagen, was ist: geht nicht im stillen Kämmerlein. Was bisher über Tageskampf und notwendiges Gepöbel hinausgeht, sind zarte Versuche, kaum der Rede wert. Auffällig bloß, dass die alten Weggefährten, wo sie nicht zu Anhängern des Regimes geworden sind, partout das Maul nicht auf bekommen wollen. Alle geimpft.
Am nächsten Tag sitzen wir im Auto zurück nach Osten. Zuhause können wir berichten, dass es tief im Westen einige genauso verlorene und vereinzelte Seelen gibt. Wir sind ihnen flüchtig begegnet. Ganz so allein ist man nicht.
23.10.2021
Anmerkungen:
(1) https://kraz-ac.de/gegen-die-diskriminierung-von-nicht-geimpften-7676
(2) http://www.magazinredaktion.tk/corona55.php
(3) https://twitter.com/Klarmann/status/1449681008115191809
(4) https://twitter.com/Klarmann/status/1451921688795525124
(5) https://www.demokratie-leben-aachen.de/de/aktuelles/detail/FL
(6) BRD im Ausnahmezustand. Oder wie die Kulturklasse lernte, die Seuche zu lieben
(7) https://www.achgut.com/artikel/Einmal_mehr_ein_verlorenes_volk
(8) http://www.magazinredaktion.tk/corona76.php
(9) https://kraz-ac.de/die-erreger-in-aachen-7688