Franza Ranner
„Wir sind nicht depressiv, wir streiken“
Dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, wird vor allem dadurch deutlich, dass viele Menschen sich an nichts in ihr erfreuen können. Manche sind nicht mal mehr traurig, sie fühlen einfach nichts, gähnende Leere. Aufstehen mögen sie nicht mehr, aber auch nicht einschlafen. An Essen ist nicht zu denken und zur Arbeit können sie schon gar nicht. Sie vegetieren vor sich hin. Manchen reicht es nicht, als Zombies durch die Welt zu laufen, sie setzen ihre Todeswünsche in die Tat um. So wie vor zwei Jahren, unter großer nationaler Anteilnahme mit Abschiedsgeleit im Stadion von Hannover 96, der deutsche Nationaltorhüter Robert Enke.
Große Aufregung herrschte da. Die Zeitungen konnten sich nicht entscheiden: War der Profifußball Schuld, dass Enke depressiv gewesen war? Oder nur daran, dass er sich nicht outen konnte, wenn er weiter ganz oben mitspielen wollte? Ein Umdenken im Fußball müsste staatfinden. Es dürfe nicht nur die Leistung zählen, sondern der Mensch. Theo Zwanziger, der DFB- Präsident, brachte dies in seiner Trauerrede auf den Punkt: „Ein wenig mehr, nach diesen schlimmen Tagen, an die Würde des Menschen denken. In seiner Vielfalt, nicht nur in seiner Stärke sondern auch in seiner Schwäche, empfinde ich als Auftrag dieses an sich sinnlosen Sterbens.“
Endlich sollte über Depression offen gesprochen werden, aber es wurde nur ein neues Modethema der Medien. Umso erstaunlicher, dass diese zumindest in einigen Fällen ein Tick progressiver waren als die Wissenschaften. Im Gegensatz zum Feuilleton gibt es in den Psychiatrielehrbüchern überhaupt keine Gesellschaft. Krank ist der Depressive und nicht die Gesellschaft, die die Depression hervorbringt. Deshalb kennen die psychiatrischen Lehrbücher auch nur Veränderungen von Neurotransmitter-Systemen, die mit Psychopharmaka behandelt werden oder frühkindliche Störungen in der Mutter-Kind Beziehung, für die die bevorzugte Lösung die Verhaltenstherapie ist. Ändere dein Verhalten oder deine Transmitter, so gibt es eine geringe Chance, wieder klar zu kommen, also den gesellschaftlichen Anforderungen zu genügen. Mag der Einzelne auch eine subjektive Verbesserung durch diese Form der Behandlung spüren, und sich freuen, dass er sich wieder selbst verwalten kann, anstatt von anderen verwaltet zu werden, so ist es doch die größte Leistung der Psychiatrie, dass sie ihre Grenzen anerkennt: Denn möglich ist nur eine Linderung und Verkürzung der depressiven Schübe, eine Heilung ist nicht möglich. Der nächste Schub kann jederzeit kommen, muss es aber auch nicht.
Nach dem Tod von Robert Enke und dem Outing einiger anderer Promis kam dem Feuilleton der Gedanke, nicht mehr allein auf die Psychiatrie zu vertrauen, wenn es um die Bekämpfung der Depression geht, sondern nach gesellschaftlichen Ursachen zu schauen, denn die Depression und andere seelische Erkrankungen entwickeln sich zu einer ernsthaften Gefährdung der Volkswirtschaft. Immerhin leiden 4 Millionen Bundesbürger an einer behandlungsbedürftigen Depression, die Fehlzeiten von Arbeitern wegen seelischer Erkrankungen haben um 76% zugenommen, und 38% der Frühverrentungen werden so begründet. Allein schon die Behandlung von Depressiven kostet 5,2 Milliarden Euro und Folgekrankheiten müssen auch noch einkalkuliert werden. Dies wird dann zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem. Die deutschen Arbeiter, aber auch die in den anderen Industriestaaten, verweigern die Arbeit. Sind die Deutschen auch sonst nicht so besonders streikfreudig und lassen sich ungern bei Erkältungen oder Rückenschmerzen krankschreiben, bei der Depression geht es oftmals nicht mehr anders, obwohl auch hier viele versuchen, so lange weiterzumachen, wie es eben geht. Aber da es zum Wesen der Depression gehört, den Arbeitsalltag, aber auch die Hausarbeit über einen Zeitraum von 3-6 Monaten nicht hinzubekommen (der normalen Dauer eines depressiven Schubes), ist auch der Emsigste irgendwann nicht mehr in der Lage zu arbeiten, weil ihm einfach die Kraft fehlt. Wenn die Offenlegung der Krankheit die Existenz bedroht, kann dies zur Katastrophe führen. So wie eben auch bei Robert Enke, der während seines zweiten depressiven Schubs teilweise noch Bundesligaspiele bestritt, und, als dies nicht mehr ging, einen grippalen Infekt vorschob. Als auch das immer unglaubwürdiger wurde und sich Enke unter Druck fühlte, die Depression offen zu machen, wählte Enke den Selbstmord. Die Offenlegung hätte Enke wohl die Karriere gekostet. Die Nichtoffenlegung kostete ihn den Tod.
Die Depression macht zwar die Arbeitsverweigerung möglich oder vielmehr ist sie die Arbeitsverweigerung, aber nicht als bewusste Verweigerung von jemandem, der den Kapitalismus und die Lohnarbeit ablehnt, weil sie ihm sein Leben enteignet, oder auch nur von jemanden, der mehr Lohn für seine Arbeit möchte. Die Depression ist der Streik, der keiner sein will. Ein Streik des Unbewussten. Denn oft sind es die besonders Angepassten, diejenigen, die meinen alles richtig machen zu müssen, oder einfach alles schaffen müssen, wie z.B. berufstätige, alleinerziehende Mütter oder der höhere Angestellte, die an einer Depression erkranken. Oder Robert Enke, der über jeden Fehler im Tor wochenlang grübelte. Der Spiegel spricht vom „Überforderten Ich“, gar von einer Gesellschaft der Ausgebrannten und zitiert den südkoreanischen Philosophen Byung-Chul- Han, der in Karlsruhe lehrt: „Der Exzess der Arbeit und Leistung verschärft sich zu einer Selbstausbeutung, und dies ist effizienter als Fremdausbeutung, denn sie geht mit dem Gefühl der Freiheit einher“. Die Depression trifft also diejenigen besonders, die die Sache des Unternehmens oder des Staates sich so sehr zu eigen gemacht haben, dass sie den äußeren Zwang nicht mehr wahrnehmen, sondern diesen so sehr verinnerlicht haben, dass sie sich selbst ausbeuten: Diejenigen also, die ihre eigene Disziplinierung als Arbeitskraft als Freiheit wahrnehmen und überall und immer gut sein müssen. Niemals Zeit verplempern, sondern auch die ganze Freizeit so ausrichten, dass die Arbeitskraft bestens hergerichtet wird.
Dass die Depression aus dem Alltag der Angepassten nicht mehr wegzudenken ist, zeigte eine Aktion des Süddeutschen Magazins. Dieses suchte ein Paar ohne Probleme, das trotzdem bereit war, eine Paartherapie zu besuchen. Gefunden haben sie Nils und Carolin, Anfang 30, die gerade ihr erstes Kind bekommen haben. Nils arbeitete Vollzeit, Carolin hat eine 32 Stunden Stelle. Seit kurzem wohnen sie in einem Reihenhaus am Stadtrand von München. Alles gut, alles super, und trotzdem nicht einfach: Fertig macht sie das Stresspotential einer beschleunigten Lebensführung: „Wir (Männer) möchten heute etwas von unseren Kindern haben. Zugleich wird verlangt, dass man viel und gut arbeitet. Freunde soll und will man haben. Lieben soll man und will man auch. Das verlangt man dann alles von sich. Aber wie passt das alles zusammen? Will man zu viel vom Leben? Das ist schon Stress“ (Nils).
Nils nimmt die gesellschaftlichen Anforderungen als seine eigenen an. Das was sein soll, das will er praktischerweise auch. Nur ist das alles irgendwann zu viel, und am Ende gibt er sich die Schuld an der Misere: Vielleicht wolle er zu viel vom Leben. Dies ist genau das Muster, in dem sich die bürgerliche Mittelschicht heute bewegt, zumindest solange sie die Anforderungen wie selbstverständlich annimmt und nur versucht, einen Umgang mit dem Hamsterrad zu finden. Freunde und Familie sind innerhalb dieser Arbeitsbeziehungen und in diesen engen Zeitfenstern nicht mal mehr für die Männer ein Ausgleich, sondern eine ebenso abzuarbeitende Aufgabe wie die Lohnarbeit.
Die Ausdehnung der Arbeitszeit, die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, die oftmals empfundene Notwendigkeit für einen Job umziehen zu müssen, wenn man irgendwas machen will, was man halbwegs interessant findet oder um überhaupt Arbeit zu finden, führt zu einer Atomisierung der Menschen. Oft bleibt, wenn überhaupt, nur noch der Partner als Sozialbeziehung vor Ort über. Denn die Freunde werden kaum umziehen, weil man gerade einen Job in Wanne-Eickel gefunden hat und selbst die Attraktivität von New York ist wahrscheinlich nicht hinreichend, um andere zum Umzug zu bewegen. Sich für Freunde Zeit zu nehmen, wird damit schwerer. So auch bei Nils und Carolin. In der Therapie der beiden nimmt dann auch der bevorstehende Urlaub viel Zeit in Anspruch. Fahren sie ihre Freunde und Familie besuchen, oder entspannen sie auf Kreta. Der Therapeut spricht von modernen Heimatlosen in einem streng durchorganisierten Leben, ohne Großeltern in der Nähe, ohne alte Freunde. Das moderne Paar ist isoliert. Dies verstärkt den Druck, weil es keine Unterstützung gibt. In diesem sehr engen Zeitrhythmus kann schon ein etwas kälterer Wintertag das Gerüst zum einstürzen bringen. Ein Grund wohl für die Aufregung, die seit einiger Zeit jeder Schneefall mit sich bringt: „Ich dachte, verdammt, dafür musst du dir auch noch ein Zeitfenster einbauen. Also um 6.20Uhr aufstehen. Wenn ich das bisschen Sport machen will, dass mir wichtig ist, ein paar Minuten nur, dann heißt das 6.10Uhr. Und wenn ich noch mit Nils im Bett bleiben möchte, für was auch immer, heißt das noch mal eine viertel Stunde früher. Das kann doch nicht sein.“ (Carolin)
Es dauert auch nicht lang, bis die dauernde Überforderung körperliche und psychische Auswirkungen zeitigt. „Wenn es Burn-Out für Mütter gibt, bin ich im Club. Ich habe so einen Druck auf der Brust. Ich habe Angst, ich kann nicht mehr.“ (Carolin)
Zumindest ist Carolin erschöpft und überfordert. Sie weiß überhaupt nicht, wie sie alle gesellschaftlichen Anforderungen, die gleichzeitig ihre eigenen sind, bewältigen soll. Für Frauen, die oft mehr Verantwortung für die Kinder übernehmen, sind diese Arbeitsbedingungen oft noch belastender. Sie zerreiben sich zwischen den verschiedenen Funktionen von Beruf, Ehefrau und Mutter, ohne dafür Anerkennung zu bekommen. Nie würde einer sagen, super, dass du das gemacht hast, findet Carolin. Bemerkt würde nur, was sie nicht geschafft hat. Ihr Mann kann – auch das typisch für das perfekte Paar heutzutage – ihre Probleme nicht nachvollziehen und reagiert irritiert. Dies könne ganz schön frustrierend sein, sagt Carolin. Diese Enttäuschung und Frustrierung sind der Nährboden für eine depressive Episode.
Die Depression ist das Gegenteil dieser modernen Arbeitsethik, das Gegenteil des Immer-da-und bereit-sein müssen und wollen. Die Depressiven werden krank an der Haus- und Lohnarbeit, indem sie als Symptom die Arbeitsverweigerung herausbilden. Nur liegen sie dabei nicht am Strand oder wo man sich sonst aktuell zu amüsieren glaubt, denn sie mögen sich auch jenseits der Arbeit an gar nichts erfreuen. Wie gesagt, sie sind innerlich leer. Dies liegt daran, dass die Depressiven enttäuschte Verliebte sind. Libidinös gebunden an die Arbeit. Die Depressiven arbeiten in der Regel nicht allein des schnöden Mammons wegen, was in der Familie und bei Freunden sowieso schon nicht möglich ist, sondern weil sie sich dazu innerlich berufen fühlen und sich mit der Sache identifizieren, deshalb sind ja auch diejenigen besonders von Burn-out bedroht, die in sozialen Berufen arbeiten oder eben Mütter. Aber weil sich mittlerweile alle mit ihrem Job identifizieren, hat sich die Depression ausgeweitet. Jeder, der im Beruf eine Enttäuschung erlebt oder bei dem trotz Anstrengung der gewünschte Erfolg ausbleibt, wird seine Libido vom Objekt, also vom Arbeitgeber oder von der Familie abziehen. Das Objekt wird gehasst. Wenn man jetzt das Objekt nicht hassen kann, weil man zum Beispiel von ihm existentiell abhängig ist, wie von der Arbeitsstelle oder wenn das Objekt der eigene Partner oder das Kind ist, dann wird die Libido zwar von dem Objekt abgezogen, aber nicht auf ein neues Objekt verschoben, sondern die Libido wird ins Ich zurückgezogen, dass dadurch eine zweite Instanz aufbaut, das nun wie ein Objekt behandelt wird. Die Liebesbeziehung kann erhalten bleiben, trotz des Konfliktes mit der geliebten Person oder halt des geliebten Unternehmens. Gleichzeitig kann der Sadismus und der Hass befriedigt werden, die eigentlich dem Objekt gelten, aber auf diesem Weg eine Wendung gegen die eigene Person erfahren: Bei beiden Affekten pflegt es den Kranken noch zu gelingen, auf dem Umwege der Selbstbestrafung Rache an den ursprünglichen Objekten zu nehmen und ihre Lieben durch Vermittlung des Krankseins zu quälen, nachdem sie sich in die Krankheit begeben haben, um ihnen ihre Feindseligkeit nicht direkt zeigen zu müssen (Freud). Der Selbstmord ist hier nur die höchste Stufe dieser Wendung gegen das eigene Ich, die eigentlich dem ehemals geliebten Objekt gilt, dass man zu vernichten wünscht. So streikt der Depressive nicht nur, sondern wünscht gar den Aufstand, den er jedoch erst mal nur gegen sich selber führt. Vernichtet wird dann nicht das Unternehmen, oder gar die Verhältnisse, die ein solches hervorbringen, sondern erst mal nur er selbst. Weder die Tranquilizer, noch die Therapie, noch die beste Work-Life-Balance kann die Depression stoppen. Nur die Umwandlung eines unbewussten in einen bewussten Streik, in dem die Verhältnisse, die diese Arbeitsbedingungen und Familienkonstellationen hervorbringen, bekämpft werden, könnte ein Ende der Depression bedeuten. Ziel wären dann Verhältnisse, in denen Theo Zwanzigers Worte von der Anerkennung der Schwäche nicht mehr nur Phrase bleiben muss, sondern sich verwirklichen würde.