Nocheinmal über die DIY-Intellektuellen
Aus dem großen Thier N°11, 2016
„Da der Denkprozeß selbst“, schreibt Marx in seinem berühmten Brief an Kugelmann vom 11. Juli 1868, „aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozeß ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein und nur graduell, nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden. Alles andere ist Faselei.“ Und das Denken einmal als Naturprozeß wahrgenommen, führt sofort zur Anerkennung des Umstandes, das insbesondere auch das Rückenmark an diesem Prozeß starken Anteil hat. Das kann man jede Medizinerin fragen: Denken ist nicht einfach eine Tätigkeit oder sogar Leidenschaft des Kopfes. Momentan scheint die Begriffsbildung sich unter Abstraktion des Rückenmarks zu vollziehen und so schweben alle allgemeinen Wörter momentan eigenwillig in der Luft, wie eigentlich nur Gott, Kapital, Nation, Arbeiterklasse. Man würde sich solcher Begriffe schämen, wenn man das Rückenmark in Betracht zöge. Es ist so etwas wie der Fortsatz des Hirns und dort mit vielen kleinen Bewegungen konfrontiert. Folgerichtig setzt es sich in die komplette Muskulatur und sämtliche Organe fort. Die Nerven verzweigen sich überall und man findet hier dieselbe Elektrik des Körpers, die man auch im Hirn verspürt, diesem Nervenzentrum. Man kann jedenfalls sicher nicht wissen, was eine Sonate ist, solange der Kiefer auch beim Hören verspannt bleibt und was soll also ohne gebildetes Rückenmark ein Begriff vom Kapital. Das alles sei vorausgeschickt, da es um die eigenwillige Form des Denkens gehen soll, die man heute Theorie nennt. Die Theorieform ist letzlich rückenmarkloses Denken; von der Welt getrenntes Denken. Man lernt diese Form des Denkens an der Universität, hier kommt sie her. Sie betrifft die Naturwissenschaft wie die Geisteswissenschaft. Die Naturwissenschaft mag pragmatischer sein und ihrer Abhängigkeit vom Stoff bewußt, aber letztlich findet hier die gleiche Abstraktion vom Produktionsprozeß statt, um so fataler, als die Naturwissenschaft die unmittelbare Wissenschaft des Produktionsprozeßes ist. Bei den Geisteswissenschaftlern fällt die Trennung von der Welt natürlich unmittelbarer ins Auge.
Von der Uni hat die Theorieform es aber auch in die Köpfe zahlreicher durchaus radikaler Intellektuellen geschafft und so gibt es heute Tausende kluge Köpfe, aber es interessiert eigentlich nicht. Der Autismus kennt hier keine Grenzen und so lesen nur die Intellektuellen diese Essais und Bücher, die sie ja auch schreiben. Man kann darüber unendlich lamentieren, aber es nützt nichts. Es handelt sich um eine notwendig falsche Form, Ideologie genannt und diese hat ihre Wurzel in den allgemeinen Verkehrsformen unserer irgendwie bürgerlichen Welt. „Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft“, schreibt im selben Brief Marx an Kugelmann, „besteht ja eben gerade darin, daß a priori keine bewußte gesellschaftliche Reglung der Produktion stattfindet.“ Die Arbeit erscheint den Arbeitern notwendig fremd, sie verkaufen ihre Arbeitskraft, was damit passiert geht sie tatsächlich nichts an. Dementsprechend menschenfeindlich ist die Arbeit und so bewahrt man die Kinder davor, am Produktionsprozess teilzunehmen. Wie immer bei sozialdemokratischen Maßregeln wird damit das Pferd von hinten aufgezäumt. Statt den Produktionsprozeß bewußt zu regeln und dadurch die Möglichkeit zu schaffen, die Kinder ohne Scham in unseren Stoffwechsel mit der Natur einzuführen, läßt man den Produktionsprozess wie er ist und hält lieber die Kinder davon fern. Die müssen sich aber trotzdem zu zivilisierten Affen heranbilden und so diszipliniert man sie in der Schule und einige davon später noch in der Universität dazu, all das Wissen und alle Verhaltensnormen abstrakt zu erwerben und beides erst später praktisch zu erweisen. Die ganze Ausbildungsphase findet von daher getrennt vom Gegenstand statt und eben diese Trennung ist die Grundlage eines Denkens, welches in dieser Gesellschaft nicht gerade der Kopf der Leidenschaft ist. Sie ist der gesellschaftliche Grund für die Theorieform.
Einer der Dogmen der Theorieleute besteht darin, dass Theorie vor allem schwer zu begreifen sei. Tatsächlich ist ihre Theorie oft schwer zu begreifen, weil sie noch die einfachsten Dinge in ihren Nebel hüllen. Es stimmt dann kaum die Grammatik. Aber wenn eine umfassende Kenntnisnahme unserer Welt in ihrer Gegenwart und Geschichte auch viele Köpfe und viel Zeit beansprucht und nicht alles sofort begreifbar ist, so ist sie dennoch nicht im eigentlichen Sinne kompliziert. Es wird mit Wasser gekocht. Es ist zunächst der Eigendünkel von Intellektuellen, die sich vor sich selbst und damit auch vor den anderen verstecken müssen, der unsere Gedankenwelt so kompliziert erscheint läßt. Und dann ist es wieder die allgemeine Entfremdung vom Gegenstand, dieser hilflose Versuch unter schlechten Bedingungen und eben getrennt vom Gegenstand irgendetwas zu erkennen. Unsere Intellektuellen sind blind wie Maulwürfe, nur wühlen sie nicht. Das Marxische Kapital selbst z.B. ist nicht so schwer wie sein Ruf. Nur etwas dick und teils gar nicht so interessant. Die es lesen, wollen es nicht verstehen, lieber läßt man das Rückenmark verkommen. Mangelnder Intellekt ist jedenfalls nicht die Ursache, sondern eher zuviel davon und am Ende kann Marx behaupten, „daß Arbeiter und selbst Fabrikanten, und Kaufleute mein Buch verstanden und sich darin zurechtgefunden haben, während diese 'Schriftgelehrten' (!) klagen, daß ich ihrem Verstand gar Ungebührliches zumute“. Man muß die kapitalistische Form instinktiv ablehnen, um das Kapital zu verstehen. Anders bleibt man in der Form der Verdinglichung stecken und hält insbesondere dieses Buch für ein Ökonomielehrbuch und nicht für eine länglich geratene, nie abgeschlossene Kritik, die sich manchmal sogar zum Scheine sehr ernsthaft auf die Volkswirtschaftslehre einläßt. Es ist daher durchaus auch heute noch wahrscheinlich, dass etwa Krankenschwestern Marx besser verstehen, als Theoretiker.
Aber auch die Theoritis ist heilbar. Wenn man sich aber dieses ganze Theorie aus dem Kopf geschlagen hat und ernsthaft versucht, diese Welt auch zu begreifen, so ist das Denken nicht zu verachten. Ohne Verallgemeinerungen, ohne Zusammenhang verliert man sich im Einzelnen. Das ist eine Binsenweisheit. Marx schreibt immer noch an Kugelmann: „Und dann glaubt der Vulgäre eine große Entdeckung zu machen, wenn er der Enthüllung des inneren Zusammenhangs gegenüber darauf pocht, daß die Sachen in der Erscheinung anders aussehn. In der Tat, er pocht darauf, daß er an dem Schein festhält und ihn als letztes nimmt.“ Das ist das Elend der Bewußtlosigkeit. Man braucht die Enthüllung des inneren Zusammenhangs. Bekanntlich hängt alles mit allem zusammen. Die Fußsohle mit der Nasenspitze, der Welthunger mit dem Welthandel etc. Die Erscheinungen haben ein Wesen. Das Wesen ist in seinen Erscheinungen. Beides fällt nicht zusammen und was eben noch das letzte der Gefühle war ist dann schon wieder abgeleitet. Und wenn man dann das Wesen hat, so kann man es wieder aus den Erscheinungen ableiten, wo doch das Wesen selbst die Erscheinungen begründet. Wenn man das konkret irgendwo schafft, wo es Not tut und dabei verständlich und gefällig bleibt — ich bin mir sicher, die Welt steht einem offen. Das Dumme dabei ist und man merkt es an der Metaphysik des letzten Absatzes —, man muß sich am eigenen Schopf aus dem Morast ziehen und dabei geht man leider von der verallgemeinerten Trennung aus, in die man hineingeboren ist. Mit Philosophen ausgedrückt: Hegel selbst ist von der materialistischen Schule vorgeworfen worden, den Inbegriff des abstrakten Denkens in seiner Trennung vom materiellen Prozeß zu repräsentieren. Recht hatte sie und wie wenig hat es ihr genutzt! Bekanntlich haben Marx und Engels beide den Hegel trotzdem ausführlich gelesen, ohne sich an der im einzelnen ulkigen Ausdrucksweise zu stören — man muß Hegel wirklich eher schnell lesen, als langsam. Als Stürmer und Dränger haben beide gegen ihn und mehr noch gegen seine Schüler polemisiert und doch nie auch die Terminologie Hegels überwunden. Ihre Denkform in diesen Jahren ist von Hegel geradezu erlernt, wenn sie sich auch anderen Gegenständen zuwenden und sich dadurch den Schein einer Bodenhaftung verliehen. Im Alter dann haben sie sich beide wieder offen zu Hegel bekannt, eben weil der Verzicht aufs abstrakte Denken uns das Chaos der unbegriffenen Tatsachen beschert. Indem der Schein für das Letzte und Einzige gehalten wird, schaffen die Vulgären das Denken selbst ab. Es gibt dann kein Wesen der Dinge mehr zu erforschen und schon gar kein Unwesen der Dinge anzuprangern. Dementsprechend frustriert Marx im Brief: „Wozu dann überhaupt noch Wissenschaft?“ Denn: „Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretischer Glaube in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also absolutes Interesse der herrschenden Klasse, die gedankenlose Konfusion zu verewigen.“ Umgekehrt kann die Einführung des zusammenhängenden Denkens eine vornehme Aufgabe der DIY- Intellekuellen sein. Sie müssen nur das Rückenmark entdecken, aufhören sich ihrer Praxislosigkeit zu schämen und dann aus allen Rohren mit Aufklärung schießen.
Vielleicht noch Anmerkung: Der Marxbrief ist im WWW unter http://magazinredaktion.tk/magazin/heft2/kugelmann.php zu lesen.