Der Streik
In etlichen Vierteln begann der Generalstreik um Mitternacht: kleine Gruppen schlossen Bars und lösten traca aus, lange Serien von lärmendem Feuerwerk. In Casc Antic betrat ein Streikposten, der angeblich der CGT angehörte, ein Casino, scheinbar, um es zu schließen – und machte sich mit 2000 Euro Bargeld aus dem Staub. Die Gewerkschaft verneinte schnell jede Verbindung mit dem Täter. Als Resultat musste das Casino unerwartet am Tag des Streiks schließen und meldete einen Schaden von 50.000 Euro. Ab 6:30 Uhr am Morgen versperrten Barrikaden die wichtigsten Autobahn- und Eisenbahnzufahrten nach Barcelona: Av. Meridiana; Gran Via; Diagonal; la Ronda Litoral; metro Zona Universitaria; metro Llacuna und andere.
Umherschweifende Streikposten sammelten sich in einigen Vierteln schon um 4 Uhr früh, in anderen um 7 Uhr. Sie machten die Straßen dicht und blockierten Geschäfte, die versuchten zu öffnen – hauptsächlich Bäckereien, Bars und Supermärkte. In Horta blockierten 200 Menschen Straßen, stoppten und sabotierten Busse und schlugen die Scheiben von Mercadona ein, einer großen Supermarktkette, die dafür berüchtigt ist, ihre Arbeiterinnen und Arbeiter zu bedrohen und zu schikanieren. In Sants drangen die Streikposten in die Bahnstation ein und verprügelten einen Geschäftsmann, der versucht hatte, einen der Streikposten zu packen. In Clot gingen Steikposten im Viertel auf und ab, um jede einzelne Straße mit Müllcontainern zu versperren, bis die Bereitschaftspolizei angriff und drei Festnahmen machte. Im benachbartem Poble Nou blockierte ein kleiner Streikposten der CCOO und UGT symbolisch die Straße, während ein größerer Nachbarschaftsstreikposten Läden schloss, bis die Bereitschaftspolizei auf der Jagd nach Streikposten aus Clot auftauchte, die dort Schutz gesucht hatten. In Sant Andreu griff die Polizei Streikposten vor der Stadthalle an und verhaftete drei Personen. In Raval und Eixample gab es zusätzlich zu den Steikposten eine morgendliche Protestkundgebung.
Um 11 Uhr morgens trafen sich Leute aus vier unterschiedlichen Vierteln am Plaça Glories, um gemeinsam ins Zentrum zu marschieren. Auf dem Weg dahin blockierten sie die Gran Via und beleidigten eine kleine Gruppe von CCOO- und UGT-Streikposten, die auf dem Bürgersteig standen. Im Zentrum versammelten sich Tausende von Menschen zu einem „einheitlichen Streikposten“. Genau an diesem Ort hatten beim Streik im September 2010 die Ausschreitungen begonnen. Jedoch waren es dieses Jahr mehr Menschen, und der Plan war, aus dem Zentrum heraus nach Gràcia zu marschieren. Unglücklicherweise hatte man als direkteste Marschrouten die breiten Hauptstraßen gewählt, die eigens dafür entworfen worden waren, Rebellionen zu kontrollieren. Die großen Menschenmengen kamen nur langsam in der heißen Sonne voran, weit entfernt von allen Geschäften an den Bürgersteigen. (5) Das Ergebnis war weder ein Protestmarsch noch ein Streikposten. Nichtsdestotrotz hatten die meisten Geschäfte in der Umgebung als Sicherheitsvorkehrung geschlossen. Ein luxuriöses Hotel, welches einst 1936 von Anarchisten kollektiviert worden war, wurde mit Farbbomben beworfen, aber generell war die Atmosphäre ruhig. Schon zu Beginn des Umzugs waren ein paar Leute ausgeschwärmt und hatten Müllfeuer vor der Börse entzündet – sie zogen sich schnell zurück, als die Bereitschaftspolizei auftauchte. Am Jardinets de Gràcia stoppte der Marsch für fast eine Stunde, obwohl sich die Menschenmenge immer noch bis zurück zum Plaça Catalunya zog.
Dann schafften es Leute mit Fahnen und Bannern schlussendlich, die Menschenmenge zu bewegen und nach links in Richtung Eixample abzubiegen. Bald warf jemand ein Leuchtfeuer auf den Dachvorsprung eines Hotels, was einen kleinen Brand auslöste. Der Anblick von Rauch hatte einen magischen Effekt. Die passive, hilflose Menge war plötzlich transformiert, als Masken auftauchten und Leute ihr Gesicht vermummten. Werkzeuge kamen hervor oder wurden der Umgebung entnommen, und bald war jede Bank und jeder luxuriöse Laden eingeworfen. Müllcontainer wurden umgeworfen und angezündet. „Aber sie haben ihren Laden doch zugemacht!“ fragte ein älterer Demonstrant, überrascht darüber, dass ein luxuriöses Geschäft eingeworfen wurde. „Was macht ihr?“ – Klar, manche Leute wollten, dass der Streikposten ein Streikposten bleibt, und verstanden nicht die Bereitschaft, zum Angriff überzugehen.
Ein Feuerwehrwagen rückte an und Transporter der Bereitschaftspolizei wurden herumrasend in der Ferne gesehen; es sollte später festgestellt werden, dass sie die Hauptmasse der Leute zurückdrängten, die vom Pl. Catalunya heraufkamen, um Unterstützung zu verhindern, wenn die Zeit kam, die Randalierer anzugreifen. Viele Menschen zögerten, jedoch drückten Tausende nach vorne, sie zerstörten weitere Banken und schlossen den Kreis, um wieder zu den Jardinets zurückzukehren. An diesem Punkt griffen die mossos (die katalanische Polizei) an, sie rasten mit ihren Transportern nach vorne, um sowohl die Straßen zu flankieren, als auch einen Teil der Jardinets abzuschneiden. Mehrere Leute wurden überfahren und noch viel mehr verprügelt, als sie sich plötzlich in einem Spießrutenlauf wiederfanden. Ein paar Personen wurden auch verhaftet, jedoch war die Menge so groß, dass es für die Polizei schwierig war, den nötigen Raum freizuhalten, um Menschen einfangen und wegbringen zu können. Der größte Teil der Randalierer, hauptsächlich Anarchisten, verzog sich in die Straßen von Gràcia, wo sie möglicherweise die gesamte Nachbarschaft einnehmen und das Rathaus hätten zerstören können. Dieses wurde lediglich von ein paar Polizisten bewacht, die sich beim Anblick von 500 schwarz vermummten Demonstranten selbst eingeschlossen hatten. Aber Letztere waren immer noch im Panikmodus nach dem Polizeiangriff und sie verstreuten sich. Über die folgenden Stunden des Versteckens und der Versuche, sich wieder zu sammeln, kommentierten viele Anarchisten die altbekannte Schwäche bei Straßensituationen in Katalonien: die Leute laufen immer vor den Bullen davon. Anderswo, weiter unten in der Stadt, rückte eine Gruppe mit Müllcontainern, Steinen und Leuchtfeuern vor, ohne gleich zerstreut zu werden; jedoch war eine erhebliche Steigerung nötig.
Um 16:30 startete die Demo der CNTs, der CGT und anderer Anarchisten in Jardinets, um zurück zum Pl. Catalunya zu marschieren. Er war um die 10.000 Personen stark und es waren weitere zehntausende Menschen in der Nähe, die die Polizei aufhielten. Man spazierte gemächlich durch die schicke Straße von Pau Claris, verbrannte Müllcontainer an jeder Kreuzung, entglaste jede Bank und warf Leuchtfeuer und Müll hinein. Die Ausschreitungen führten auch zu Konflikten innerhalb der Demonstration, als manche Protestierende den Randalierern entgegentraten und versuchten, sie zu demaskieren. Unheimliche Szenen spielten sich vor ihren Augen ab: Zuschauer glotzten auf die Ruinen, die zahlreichen Rauchsäulen und die Feuerwehrleute, welche Müllfeuer mit fünf Metern Durchmesser links liegen ließen, als sie vorbei rasten, um die Feuer in den brennenden Banken zu löschen. An der Ecke des Pl. Catalunya bei der Corte Inglés, einem der wichtigsten Einkaufszentren des Landes, griffen die mossos an und bildeten eine Kette, um die Mall zu schützen.
Die Anarchisten zerstreuten sich und die meisten von ihnen schlossen sich der immensen Menschenmenge auf dem Platz an. Für über eine Stunde herrschte Ruhe, Journalisten mischten sich unter die Menge und filmten ungehindert. Dann begannen Jugendliche und Hooligans (6), von denen viele nicht einmal vermummt waren, an der oberen rechten Ecke des Platzes nach und nach die Konfrontation mit der Polizei zu eskalieren. Sie warfen mit Abfall und setzten einen Müllcontainer in Brand. Als das Feuer des Containers so groß wurde, dass die Polizei ihre Mannschaftswagen zurückziehen musste, damit diese nicht Feuer fingen, griff die wilde Meute an und jagte die Polizei einen gesamten Block zurück zum Plaça Urquinaona. Dann tat die Polizei so, als ob sie einen Gegenangriff starten würde, und die Demonstranten gerieten in Panik und rannten weg. Dieses Mal beruhigten die Leute mit mehr Straßenerfahrung die Panik und drängten alle dazu, standhaft zu bleiben und Widerstand zu leisten, was die Hooligans und einige andere schnell taten. Die nötigen Werkzeuge, um die Straße und den Bürgersteig in Wurfgeschosse umzuwandeln, tauchten schließlich auf oder wurden aus dem, was zur Hand war, geschaffen, und die Polizei wurde mit einem Steinhagel eingedeckt. In beinahe einer Stunde der Freiheit auf einer gewaltsam eroberten Straße entglasten Hooligans, Anarchisten und indepes einen Starbucks und setzten ihn und eine Bank in Brand. Mit einer beinahe wahnsinnigen Entschlossenheit durchbrachen sie zuerst eine Glas- und dann eine Metallwand, um einen Hintereingang des Corte Inglés zu öffnen und ein Feuer in dem Einkaufszentrum zu legen. Die Szene wurde von Medienleuten und Passanten gefilmt, von manchen aus Neugier und von anderen als ein bewusster Versuch der Einschüchterung. Ein paar Leute schrien die Randalierer auch an, aber Tausende andere applaudierten und blieben vor Ort, anstatt Panik zu bekommen, davonzulaufen und die Krawallmacher isoliert zurückzulassen, wie es normalerweise passiert.
Aufgrund der riesigen Menschenmenge, die die Randalierer absichtlich oder unbeabsichtigt schützte, konnte die Polizei nicht um sie herum gelangen, um sie von hinten anzugreifen. Langsam rückten sie unter einem Steinhagel vor. Als eine weitere Gruppe Bereitschaftspolizei entlang des Corte Inglés von der unteren rechten Ecke des Platzes anrückte, wich die Menge zurück und die Polizei nahm wieder den gesamten Block ein, welcher ihr zuvor genommen worden war, einschließlich des Pl. Catalunya.
Die Leute gaben aber immer noch nicht auf. Sie griffen mehrere Pressewagen an und stahlen einen Benzintank von dem Generator auf einem derselben, um ihn gleich zum Einsatz zu bringen. Sie begannen, Barrikaden zu improvisieren und auf der Suche nach Steinen den Bürgersteig aufzubrechen. Für eine geschätzte weitere Stunde schoss die Polizei ununterbrochen einen Hagel aus Gummigeschossen und verletzte viele Protestierende. Ein Mensch verlor ein Auge, ein weiterer wurde in die Lunge getroffen. Ein vier Jahre altes Kind wurde angeschossen. Die Leute aber machten sich Schilde oder suchten Schutz hinter einer Reihe von Straßenabsperrungen und anderen Hindernissen, um weiter Steine auf die Polizei zu werfen. In dem meisten Fällen waren Hooligans und migrantische Jugendliche an vorderster Front, zusammen mit einer Handvoll Anarchisten, und ihr Mut war inspirierend.
Zum Schluss mussten die mossos zum ersten mal in ihrer zehnjährigen Geschichte Tränengas einsetzen, um den Platz zurückzuerobern. Das Gas war nicht so stark, doch als etwas Unbekanntes löste es Angst aus. Die ersten paar Kanister wurden zurückgekickt, die nächsten jagten die Massen zurück zum Placa Universitat, wobei auf dem Weg weitere Feuer entzündet und Banken eingeworfen wurden. Für die nächste Stunde gehörten alle Straßen um den Placa Universitat dem Volk, bis die Polizei es schlussendlich schaffte, zwei weitere Häuserblocks voranzukommen. Als nächstes brachen Feuer in Passeig de Gràcia (über dem Pl. Catalunya) und Raval (die migrantische Nachbarschaft unter dem Pl. Universitat) aus. In letzterem Gebiet entzündeten Einwanderer und Anarchisten die ganze Nacht über Feuer, bauten Barrikaden, griffen Banken an und sammelten Steine in der Hoffnung, die Polizei würde kommen. Außer mit ein paar Zivilbullen, die schnell verjagt waren, gab es kaum Konfrontationen, jedoch nur, da die Ordnungsmacht sich entschied, diese zu vermeiden. Überall in der Stadt raubten Leute am Rande der Hauptkonfliktpunkte Supermärkte aus, schlugen Banken ein, verbrannten Mülltonnen und verprügelten Zivilpolizisten. Bis spät in die Nacht raste die Feuerwehr hin und her, im Zentrum oder in den Vororten der Stadt. Für einen Tag hatte die Polizei die Kontrolle über die Stadt verloren, so wie am 27. September 2010; vielleicht für das erste Mal seit den Cine Princesa-Ausschreitungen von 1996 – auch wenn es dieses Mal in einer ganz anderen Größenordnung geschah – hatte nun eine große Menge von Menschen gelernt, wie man die Polizei in einem anhaltenden Kampf zurückdrängt.
Die Ausschreitungen waren ein Ereignis von großer Bedeutung. Daß es gelungen war, den Geschäftsbetrieb stillzulegen war offensichtlich, auch wenn einige Geschäfte nicht geschlossen hatten. Vielleicht tausend Mülltonnen wurden in Barrikaden verwandelt, neben unzähligen Reifen und anderen Objekten. 295 Müllcontainer wurden verbrannt, was für die Stadt einen Schaden von eineinhalb Million Euro bedeutete, wobei die aufgebrochenen Straßen und Bürgersteige und die eingeschlagenen oder angezündeten Banken und Kaufhausfilialen nicht mitgezählt sind. Jedoch war die Erfahrung, die Straße zu gewinnen, das Wichtigste. In der Zeit danach fühlten sich die Anarchisten siegreich, während der katalonische Innenminister anerkannte, dass dies ein Zeichen kommender Zeiten sei – gewissermaßen ein Bild der Zukunft (7). Bei der Vorbereitung zum Generalstreik hatte niemand geglaubt, dass eine Eintagesaktion irgendein Problem lösen würde, und diese Überzeugung ist geblieben, auch wenn der Streik die wildesten Erwartungen aller bei weitem übertroffen hat. Was jedoch gewonnen wurde, wird für die zukünftigen Schlachten von enormer Bedeutung sein.
Anmerkungen:
(5) In Barcelona bestehen die großen Magistralen aus einer breiten Straße, die von Grünstreifen und schmaleren Seitenstraßen gesäumt wird. Große Demonstrationszüge laufen daher normalerweise auf der mittleren Straße und lassen so eine Pufferzone auf beiden Seiten frei, die für Polizeioperationen oder die Bewahrung einer friedlichen Atmosphäre nützlich sind. Die Grünstreifen machen es schwierig, alle drei Straße auf einmal einzunehmen, sofern keine große Entschlossenheit dazu besteht, da große Massen immer dazu tendieren, den Mittelweg entlangzugehen.
(6) Damit sind in diesem Fall nicht Sporthooligans im engeren Sinne gemeint, sondern marginalisierte und rauflustige Jugendliche, im Gegensatz zu Leuten, die bewusst und gewohnheitsmäßig an sozialen Kämpfen, revolutionären Projekten, aktivistischen Kampagnen oder Politik teilnehmen.
(7) Wahrscheinlich eine Anspielung auf den Slogan „Wir sind ein Bild der Zukunft“, den die rebellierenden Jugendlichen in Griechenland 2008 den Verteidigern der alten Ordnung als Drohung entgegenschleuderten. Vgl. A. G. Schwarz, Tasos Sagris u. Void Network (Hg.): Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte. Texte aus der griechischen Revolte, Hamburg 2010. (Anmerkung des Übersetzers)