Was Griechenland (aus meiner Sicht) für den Anarchismus bedeutet
Ungefähr zwei Jahre, bevor der Aufstand in Griechenland im Dezember aufgeflammt ist, haben Anarchisten aus der Plattform-Richtung Griechenland beschämenderweise als ein Land mit schwachen gesellschaftlichen Kämpfen bezeichnet, um ihre mechanistische Theorie zu stützen, daß die aufständische Tendenz im Anarchismus nur aus Tiefpunkten erwachse, d. h. ein Produkt der Schwäche sei. Nach dem Dezember haben andere Anarchisten, die überzeugt waren, daß die Arbeiter das einizig legitime revolutionäre Subjekt seien, die Bedeutung der Revolte minimiert, weil die Arbeiterklasse als solche nicht mitgemacht habe, oder sie verdrehten die Ereignisse und verstanden sie völlig falsch, indem sie die Informationen über Proteste der Basisgewerkschaften und die Blockaden der Bauern hervorhoben, als ob sich das unverantwortliche Abenteurertum der Molotowcocktails und Brandbomben irgendwie außerhalb der Ereignisse befand.
Andererseits schienen sich die aufständischen Anarchisten, die im am stärksten entfremdeten aller Länder überlebten, ausschließlich von einer digitalen Bilderwelt und schlecht übersetzten poetischen Kommuniqués zu ernähren, von Schnappschüssen, die den Geruch brennender Geschäfte trugen, aber völlig von ihrem gesellschaftlichen Kontext getrennt waren, als ob diese Anarchisten noch gieriger als die Medien darauf waren, die Revolte zu töten, indem sie ein Spektakel daraus machten. Und während die meisten griechischen Anarchisten, die ich kenne, dazu neigen, die Kritik der Aufständischen an der Linken zu teilen oder, genauer, sie schlicht als selbsterklärend verstehen, wären viele Aufständische aus dem Westen schockiert, die weitverbreitete Ansicht zu hören, daß „die aufständische Tendenz des Anarchismus [gemeint ist die italienische Schule] hier nur sehr wenig Einfluß hatte“. Dies widerspricht allerdings nicht der Tatsache, daß illegalistische und individualistische Tendenzen in den ’90ern von vielen Teilen des anarchistischen Raums leidenschaftlich übernommen worden sind; jedoch hat sich dies als ein völlig anderes Phänomen manifestiert als in den vielen Blogs und Zeitungen auf Englisch, die „Notizen aus dem globalen Bürgerkrieg“ herauskotzen, kleine Neuigkeitsfetzen über gewaltsame Aktionen hier und da, die völlig ihres gesellschaftlichen Kontexts entkleidet sind und damit auch ihres politischen. Ich verstehe das Bedürfnis, in einer befriedeten Umgebung gewaltsamen Widerstand an sich zu glorifizieren, aber ich befürchte, diese Genossen vergraben sich in einem Loch, das genauso tief ist wie jenes, das mittels der Idealisierung einer Klasse entstanden ist, die vor sechzig Jahren willentlich alle Eigenschaften ihres Feindes annahm und sich selbst auflöste.
Was in Griechenland passierte, erwuchs aus einer bestimmten Kultur und Geschichte des Kampfes. Es ist weder ein ideologisches Handwerkszeug, das von irgendeiner Fraktion verwendet werden könnte, noch eine Blaupause, die man auf ein anderes Land oder einen anderen Kontext übertragen könnte. Es wäre eine Schande, wenn Anarchisten die griechische Rebellion in ein Dogma verwandeln oder sie ignorieren würden, weil sie nicht ihre vorher ausgedachte Ideologie bestätigt. Und, so gern ich dies tun würde, es wäre falsch, wenn ich Griechenland als ein Instrument verwenden würde, um auf stärkere Kooperation und Solidarität zwischen den verschiedenen anti-autoritären Strömungen zu drängen, weil die ganzen internen Kämpfe, die heftige Kritik bei wichtigen Fragen ein Teil der Geschichte dieses Aufstands sind und eben der Anspruch erhoben wurde, die Rebellion würde die Idee der Leute von einer Revolution bestätigen oder widerlegen.
In Wahrheit haben all diese sich gegenseitig widersprechenden Strömungen die Revolte ausgemacht, und eine Schlüsseleigenschaft der Revolte, die der Staat und die Medien so hartnäckig zu dementieren versuchten, besteht darin, daß die vielen Menschen, die angeblich so verschieden und getrennt waren, zuweilen in den Straßen ununterscheidbar wurden. Ohne irgendeines der Elemente, die beteiligt waren, zu verleugnen, können und sollten wir auf die Rolle schauen, die jedes einzelne spielte, darauf, was es schwächer, und darauf, was es stärker machte.
Wir sind Geschichtenerzähler, keine Historiker. Unsere Aufgabe ist es, euch von diesen Geschehnissen zu berichten und nicht diese lebendigen Geschichten aufzusplittern, zu verdinglichen, zu begraben und sie jeder Verbindung zum jetzigen Moment zu berauben. Genauso wie die Solidaritätsaktionen in anderen Ländern das Feuer des Aufstands in Griechenland anheizten, hat sich auch der erregende Geruch des Rauchs über Athen erhoben und auf der ganzen Welt verbreitet. Ich kann es nicht als außerhalb des Zusammenhangs betrachten, daß es auch in Sofia, Malmö, Oakland und Guadeloupe einen heißen Winter gab, und ebensowenig, daß Anarchisten auf der ganzen Welt ihren Kampf verschärften, als sie mitbekommen hatten, was in Griechenland passierte.
Mehrere Monate nach dem Dezember war ich bei einer kleinen Protestaktion in einem dieser nördlichen sozialdemokratischen Länder, wo angeblich solche Dinge wie Unruhen nicht mehr stattfinden sollen. Aber als die Polizei angriff, begann der Krawall, obwohl bei der Demo nur hundert Leute waren, und als die Polizei den Krawall niederschlug, verteilten sich die Leute über die ganze Stadt, um Rache zu nehmen, indem sie Symbole des Reichtums, des Eigentums und der Herrschaft in Brand steckten. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihrer Situation und der in Griechenland war, daß an beiden Orten die Menschen das Selbstvertrauen hatten, zurückzuschlagen. Und dieses Element kann einem von keinen materiellen Bedingungen und keinem historischen Prozeß gegeben werden. Vielleicht kann es in manchen Kulturen leichter erreicht werden als in anderen, aber es hängt alleine von dir ab, es zu ergreifen oder nicht.
Selbstvertrauen hat in der Praxis der griechischen Anarchisten in all den Jahren vor dem Dezember eine wichtige Rolle gespielt. Die Anarchisten hatten genügend Vertrauen in ihre Ideen, daß sie diese der Gesellschaft mitteilen konnten, und genügend Vertrauen in die Richtigkeit ihres Kampfs, daß sie ihre Angriffe auf den Staat fortsetzten und kühn eine Ethik der Solidarität mit allen Unterdrückten hochhielten und sich auf keinen Kompromiss mit der Herrschaft einließen, auch wenn sie die einzigen waren, die dies so hielten.
Und auf diese Weise gelang es ihnen, in ihrer Gesellschaft präsent zu sein, und jeder, auch wenn er andere Ansichten hatte, wußte, wer die Anarchisten waren – diejenigen, die gegen jede Herrschaft kämpften, die auf der Seite der am stärksten marginalisierten Mitglieder der Gesellschaft standen, diejenigen, die sich selbst organisierten, und diejenigen, die sich nie wie Politiker verhielten. Diese Verbindung zur Gesellschaft war vielleicht das wichtigste Fundament des Aufstands. Viele Anarchisten bestanden darauf, die Gesellschaft als vom Staat getrennt zu betrachten. Sie beteiligten sich an allen gesellschaftlichen Kämpfen, boten eine andere Analyse als die Parteien und weigerten sich, ihre radikalen Ideen schönzufärben oder zu verbergen, auch wenn dies auf kurze Sicht die Kommunikation erschwerte. Und immer, wenn es ein gesellschaftliches Problem, ein wichtiges Ereignis oder eine Tragödie gab, trafen sie sich und ergriffen die Initiative, um darauf zu reagieren, so daß die Regierung kein Diskursmonopol hatte, während sie das Problem zu steuern suchte. Die Anarchisten lieferten Beispiele kompromisslosen Kampfs und vertrauten darauf, daß die Menschen, sobald sie soweit sind, diese Beispiele als ihre eigenen übernehmen würden.
Im anarchistischen Raum gibt es auch viele anti-soziale Elemente, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, weil es, auch wenn die Gesellschaft unser wichtigster Verbündeter ist, zahlreiche Gründe gibt, sie in ihrer gegenwärtigen Form zu hassen. Und viele Menschen wollen aus ihr aussteigen oder außerhalb von ihr stehen. Während die meisten Anarchisten, die ich kenne, aussehen wie irgendwelche anderen Griechen – sie unterscheiden sich nicht als Anarchisten in der Art, sich zu kleiden –, gibt es auch die anarchistischen Punker und Hippies und Junkies und Metalheads und Gothics. Mit anderen Worten, Anarchismus ist keine Subkultur, aber er findet sich in fast allen Subkulturen und ebenso in der Mainstream-Kultur. Der Anarchismus muß für diejenigen da sein, die die Gesellschaft dafür hassen, was sie nicht ist, und für diejenigen, die sie dafür lieben, was sie sein könnte.
Die anti-soziale Flanke im anarchistischen Raum hat den Anarchisten auch geholfen, unpopuläre und schockierende Aktionen auszuführen, ohne davor zurückzuschrecken. Die Gesellschaft ist häufig konservativ, und unter dem Kapitalismus sind ihre Mitglieder mit ihrer eigenen Unterdrückung verknüpft. Anarchisten müssen oft mit der herrschenden Ordnung zusammenstoßen, und dieser Zusammenstoß verursacht Unannehmlichkeiten für alle diejenigen, die von dieser Ordnung abhängig sind, um durch ihr elendes Leben zu kommen. Soziale Anarchisten, die allzu populistisch sind, werden dazu nicht in der Lage sein.
Obwohl die griechischen Anarchisten untereinander streiten und kämpfen, gibt es noch einen anderen Aspekt, der von außen schwerer zu sehen ist. Sie haben auch die Gewohnheit, diejenigen zu ignorieren, mit denen sie nicht übereinstimmen, und das macht Sinn, weil sie nicht genügend gemeinsam haben, um zusammenzuarbeiten, und kein Bedürfnis, zu versuchen, sich gegenseitig zu ändern. Sie sind unterschiedliche Menschen, die ihr je eigenes Ding machen, und dieser Unterschied bringt keinen Widerspruch mit sich, da Anarchisten ohnehin nicht alle dem selben Takt folgen.
Viele Anarchisten, vor allem aus protestantischen Ländern, setzen sich als vorrangige Aufgabe, den anarchistischen Bereich zu perfektionieren und zu säubern. So beschäftigen sie sich damit, ideologische Gegner, unbedeutende Feinde und Menschen, die sich schlecht benehmen, mit der ganzen Rechtschaffenheit von Kreuzfahrern zu massakrieren. Das Private ist politisch; aber genau weil es keine klare Trennungslinie zwischen innerhalb und außerhalb der Bewegung gibt, sollten wir nicht versuchen, eine solche Linie zu errichten, indem wir unsere Makel und die unserer Verbündeten mit größerem Eifer als den Staat bekämpfen.
Die Rebellion in Griechenland hat wieder einmal gezeigt, daß die Menschen keine Avantgarde und keine Parteien brauchen, daß Selbstorganisierung, direkte Aktion und Selbstverteidigung bei allen quasi naturgegeben sind. Die Menschen, die mit hitzigen Aktionen, die viel extremer sind als das, was die Mehrheit gutheißen würde, ihre Wut äußern oder die Ziele in Brand setzen, handeln nicht als eine Avantgarde, weil zum gegebenen Zeitpunkt all die ausgebeuteten und unzufriedenen Mitglieder der Gesellschaft diese Taktiken aufgreifen und sogar noch weiter gehen können als die Extremisten von Gestern.
Aber zum jetzigen Zeitpunkt kommt den Anarchisten weiterhin eine kritische Rolle zu und wir müssen sie mit genügend Selbstvertrauen erfüllen. Wir müssen lernen, mit der Gesellschaft auf einem höheren Niveau zu kommunizieren und zu kooperieren, sobald wir auf der Straße zusammenkommen. Wir müssen die institutionalisierte Linke davon abhalten, den Kampf zu vereinnahmen, ohne Spaltungen herbeizuführen, indem wir die Menschen in den Straßen nach der Farbe ihrer Fahne beurteilen. Wir müssen auf neue und schwierigere Ziele hinweisen, sobald unsere Angriffskraft steigt, andernfalls wird sich die Revolte im Zerstören von Banken und Polizeistationen erschöpfen, ohne jemals eine Revolution gegen den Kapitalismus und den Staat zu werden. Wir müssen den Medien widersprechen und sie schließlich zum Schweigen bringen, wenn sie versuchen, Pseudoerklärungen für den Aufstand zu verbreiten und Angst auszulösen. Wir müssen unserer Vorstellungskraft vertrauen, um auf die gesellschaftlichen Probleme auf lange Sicht Antworten anbieten zu können, und anfangen, diese Antworten auf eine Weise hervorzubringen, als ob wir wirklich gewinnen könnten.
Ein Teil der Kommunikation mit der Gesellschaft umfaßt das Auffinden von Traditionen und Symbolen in einer bestimmten Gesellschaft, von denen die Ideen, die wir vermitteln wollen, gefördert werden. Man kann nicht einfach die griechische Praxis nehmen und sie in Großbritannien anwenden. Jede Gesellschaft hat ihre Archetypen berechtigter Gewalt und heroischen Widerstands, aber welche das genau sind, unterscheidet sich von einer Gesellschaft zur anderen. In einem Land wie Großbritannien, das auf die Stabilität und Dauerhaftigkeit seiner Regierungsform seit Jahrhunderten stolz ist, oder in den Niederlanden, die ihre politische Kultur des Dialogs und Kompromiss preisen, ist dies eine schwierige Aufgabe. In den USA gibt es eine tiefe und lebendige Tradition des Hasses auf die Regierung, aber die findet sich meist außerhalb der Linken. In Deutschland gibt es im Gegenteil eine breite Tradition des Widerstands, die aus der Linken stammt, aber diese muß gegen das Verlangen der Bevölkerung nach öffentlicher Ordnung anrennen.
Eine der mächtigsten Einzelstrategien der Aufstandsbekämpfung, die der Staat verwendet und die die Anarchisten in Griechenland und überall sonst, wo wir den Aufstand wagen, bezwingen müssen, stellt der Rassismus dar. Die Einheimischen und die Einwanderer, die Weißen und die Schwarzen, diese Spaltungen gehören zu den wirksamsten, um die Gesellschaft zu lähmen, weil es wirkliche kulturelle Unterschiede und dank des Imperialismus auch eine Geschichte des Antagonismus gibt. Menschen von beiden Seiten der Frontlinie müssen zusammenkommen und lernen, zusammenzuarbeiten, um mit anderen kommunizieren zu können, damit sie nicht von der Gesellschaft abgetrennt und als Sündenbock für die gesellschaftlichen Probleme präsentiert oder zu einem Teil der nationalen Gemeinschaft erklärt und gegen ihre Absicht ins Lager ihrer Todfeinde gestellt werden können.
Ich befürchte, daß der entscheidende Moment im griechischen Aufstand, falls dieser nicht stärker werden, falls er besiegt werden sollte, im Versagen zu finden sein wird, wirksame Solidarität auf die Einwanderer auszuweiten, als der Staat und die Faschisten ihre Großoperation zur ethnischen Säuberung im letzten Sommer durchgeführt hatten. Und dieses Versagen lag vermutlich nicht an einer mangelnden Reaktion auf das Ereignis – auch wenn viele Anarchisten die Gelegenheit, sich an den Krawallen der Einwanderer zu beteiligen, verpaßten –, sondern an der Tatsache, daß sie sich vorher nicht ausreichend vorbereitet hatten, ihre mangelnde Verbindung zu den Einwanderern nicht als eine zentrale strategische Schwäche erkannt hatten und diese zu verbessern suchten, daß sie nicht mehr gegen den Rassismus getan haben, der von oben angewandt wurde, etwa indem sie ihre anti-rassistische Analyse in der Gesellschaft verbreitet hätten, und daß sie nicht mehr persönliche Kontakte geschlossen hatten, so daß sie, als die Proteste und Krawalle begannen, sofort über die Ereignisse benachrichtigt werden hätten können wie beim Tod von Alexis. Ohne diese engen Kontakte konnte sich die große und unmittelbare Mobilisierung, die nach Alexis’ Tod gelang, bei der Solidarisierung mit den Einwanderern schlicht und einfach nicht ereignen. Und tatsächlich erfuhren die meisten Athener Anarchisten von den Ausschreitungen der Einwanderer im Juni durch die Medien oder weil sie zufällig Feuer brennen sahen. Obwohl sie im Dezember in den Straßen und bei den Besetzungen nah zueinander gekommen waren, haben sie diese Kontakte nicht so aufrechterhalten, daß die Einwanderer im Notfall ihre Freunde, die Anarchisten, hinzurufen hätten können.
Es muß auch erwähnt werden, daß die Einwanderer keine passiven Opfer waren und im Ganzen eher nach einer anderen Qualität des Lebens suchten, als für eine bessere Wirklichkeit zu kämpfen. Indem sie den Kapitalismus als Realität akzeptierten und nur versuchten, in ihm ihre Lage zu verbessern, hat die Mehrheit der Einwanderer auch die Marotten, Machenschaften und die Gewalt des Kapitalismus akzeptiert, die sich immer gegen sie richten wird, egal, in welchem Teil der Welt sie leben oder wie viel Geld sie verdienen.
Das zweite große Manko war meiner Meinung nach die Desillusionierung, die viele Jugendliche verspürten, als der Sturm des Dezembers vorüber war, und die Rückkehr der Herrschaft der kapitalistischen Erpressungen über ihr Leben. Menschen, die vorher schon ein tiefes Verständnis für den Anarchismus und Erfahrung im Kampf hatten, waren theoretisch und emotional gerüstet, um mit der Talsohle umzugehen. Sie wußten, daß der Weg zur Revolution voller Reaktion und Repression ist und konnten durch den Dezember Kraft sammeln, ohne zu meinen, der Kampf wäre schon in einem Monat siegreich vorüber. Aber die unpolitischen Menschen, viele davon sehr jung, hatten sich vorher einen Aufstand nicht einmal vorgestellt, und dann änderte er ihr Leben. Aber nachdem er vorüber war, erfuhren sie eine tiefe Depression, weil ihr ohnehin hoffnungsloses Leben noch elender wurde, nachdem sie gesehen hatten, daß eine andere Welt möglich war, die ihnen dann aus den Fingern glitt und sich unvorstellbar weit zurückzog. Die erfahrenen Anarchisten hätten sich einiges ihrer Begeisterung bewahren können, wenn sie ihr auf lange Sicht angelegtes Verständnis des Kampfes mit der neuen Generation geteilt und größere Anstrengungen unternommen hätten, die Neulinge in die autonomen Orte einzuladen, wo die Flammen des Aufstands etwas heller brannten.
Die meisten meiner griechischen Genossen widersprechen an dieser Stelle, und sie verstehen die Situation deutlich besser. Sie weisen darauf hin, daß sie selbst alle durch diese ekstatische Welle der Revolte und die darauffolgende Desillusionierung gingen und zwar in den Studentenbewegungen in jeder Generation, ’91, ’99 und so weiter. Die Intensität des Kampfes zeigte ihnen, was möglich ist, und die sich anschließende Flaute lehrte sie, daß der Kampf lang und hart ist. Und während ich zustimme, daß es wesentlich für einen Revolutionär ist, zu lernen, tiefe Desillusionierung zu überstehen, glaube ich, daß viel mehr junge Menschen ihren Mut bewahren könnten, wären sie nicht so alleine, wenn Radikale mit mehr Erfahrung sie unter ihre Fittiche nehmen und sie aktiv einladen würden, sich an bestehenden Initiativen und Strukturen zu beteiligen, genau um aus diesem endlosen Kreislauf zwischen Widerstand und Unterdrückung ausbrechen zu können; sie müßten dieses ekstatische Moment der Revolte ergreifen und der neuen Generation helfen, zu erkennen, daß die Dinge nicht wieder in den Normalzustand zurückfallen müssen, wenn sie dies verhindern. Ohnehin war dies der Schluß, den viele griechische Anarchisten nach Dezember zogen, daß es nicht bei den Menschen an Bewußtsein fehlte, sondern an mehr Möglichkeiten für neue Leute, sich zu beteiligen, und an mehr Gelegenheiten, daß die Anarchisten und die anderen Menschen weiterhin in den Straßen zusammenkommen könnten.
Die Notwendigkeit, die Isolation zu überwinden, die der Staat permanent durchzusetzen versucht, stellt auf Dauer die Herkulesaufgabe, mit der Gesellschaft und all ihren potentiell rebellischen Teilen zu kommunizieren. Diese Kommunikation kann eine Unzahl von Formen annehmen, von Flyern über Proteste bis hin zu exemplarischen und gewaltsamen Angriffen. All die unterschiedlichen Typen von Anti-Autoritären können ihren eigenen Beitrag liefern. Die Revolte in Griechenland, die bis heute fortdauert, wurde aufgebaut von Studenten, Einwanderern, Theoretikern, Kämpfern, Terroristen, Aussteigern, Aktivisten, Jugendlichen, Großeltern, Künstlern, Asketen, Journalisten, Ladenbesitzern, Akademikern, Feministen, Machos, Trinkern, Straight-Edge-Leuten, Soldaten und Gewerkschaftern. Die Revolte wurde angegriffen von Politikern, Faschisten, Bullen, linken Parteiaktivisten, Journalisten, Medien, Ladenbesitzern, Akademikern, Kapitalisten, Bürokraten, dem Militär und den Gewerkschaften.
Auch wenn jeder Beitrag zur Revolte seinen Wert hat, sind doch nicht alle gleich. Indem wir die Versuche analysieren, die Revolte zu vereinnahmen und sie in eine harmlose Sache zu verwandeln, können wir die einzelnen Elemente verstehen. SYRIZA, die einzige Partei, die sich an den Straßenprotesten im Dezember beteiligte, wurde kurz vor den Wahlen aufgefordert, ihre Aktionen zu verurteilen. Wie vorauszusehen war, sagten sie, daß die Studenten in der Sache recht hatten. Was sie verurteilten, war die Gewalt. Sie beschuldigten 150 Extremisten, den Dezember ausgeschlachtet und aus ihm etwas Subversives gemacht zu haben.
In der Geschichtsversion der Linken ging es bei der Revolte nur um Wut auf die Schüsse der Polizei und um die Verzweiflung der Jugend, deren Zukunft durch die Wirtschaftskrise bedroht sei. Die Geschichte des Kampfs und das Ausmaß der Negation werden zensiert. Die Weigerung, Forderungen zu stellen, wird absichtsvoll, aber fälschlicherweise als Mangel an politischer Analyse ausgelegt. Die Gewalt sei die häßliche Seite gewesen, doch habe es auch eine positive Seite gegeben, die von vielen Teilen der radikalen Linken gepriesen wird, vor allem von SYRIZA. Dazu gehörten die Schaffung von Parks, die friedlichen Proteste, Aktionen und Besetzungen durch Künstler, sogar die Gründung neuer sozialer Zentren. Diese politisch korrekte Version des Dezembers versucht, die zentrale Bedeutung der Besetzung des Polytechnikums und alles, wofür es steht, auszulöschen: die Fortsetzung des Bürgerkriegs trotz des Übergangs zur Demokratie, kompromisslose Rebellion gegen das gesamte System, ständiger Kampf mit der Polizei und die vollständige Zerstörung der großen Kaufhäuser, die Mischung aus Jungen und Alten, Einwanderern und Griechen, Anarchisten und unpolitischen Menschen. Falls es gute und böse Aufständische gibt, waren unbestreitbar diejenigen, die mit dem Polytechnikum als Symbol verbunden waren, egal, ob sie dort waren oder woanders, die bösen Aufständischen, und genau deswegen stellen sie für mich das wichtigste Element der Revolte dar, weil sie das einzige Element sind, das der Staat sich nicht einverleiben kann.
Die Aktionen der Künstler, die sozialen Zentren, die friedlichen Proteste: All diese Elemente sollten nicht zensiert oder als die schwache und reformistische Seite des Aufstands belächelt werden, da sie die Erweiterung des Kampfs an den Punkt darstellen, an dem er alle aufnehmen konnte, die sich entschieden, auf die Straße zu gehen. Aber es sind die kompromisslosen und gewalttätigen Elemente, die den weicheren Elementen ihre Bedeutung geben, ihre Fähigkeit, einen Angriff auf das System darzustellen. Das eine vom anderen zu trennen ist genau das, was der Staat zu tun versucht hat, um den fortgesetzten Aufstand zu besiegen.
Der Aufstand ist die Versammlung der Gesellschaft an den Barrikaden, die aus den zerstörten Resten von allem, was uns isoliert, gebaut wurden. Für mich ist dies ein wesentliches Konzept in einer anarchistischen Revolutionsvorstellung. Und dafür müssen wir in jedem Moment den Boden bereiten und pflegen, auch und besonders, wenn es der falsche Moment zu sein scheint. Genauso wie die Anarchisten in Spanien niemals in der Lage gewesen wären, gegen Francos Staatsstreich Widerstand zu leisten und damit der Revolution Raum zu geben, wenn nicht die pistoleros ein Jahrzehnt früher den Kurs des bewaffneten Kampfs eingeschlagen hätten, haben die Anarchisten in Griechenland, wie ich glaube, einen gesellschaftlichen Aufstand ermöglicht, als sie in den Jahren vor 2008 ihre kompromisslosen und illegalen Methoden damit verbunden haben, die Wichtigkeit der Kommunikation mit der Gesellschaft anzuerkennen. Die Fähigkeit, anti-sozial zu sein, erlaubte ihnen, einen Kurs einzuschlagen, für den die griechische Gesellschaft nicht bereit war, und die Notwendigkeit, sozial zu sein, brachte sie zurück zu den Menschen, die schließlich den Aufstand machen sollten, weil der Aufstand eine Funktion der Gesellschaft ist und keine politische Bewegung, egal, wie wichtig solche Bewegungen für die Entwicklung von notwendigen Eigenschaften der Gesellschaft sein mögen.
Die anarchistische Beteiligung an diesen Bewegungen, indem sie sowohl kritisch als auch begeistert war, hat den Anarchisten und ihren Ideen eine größere Sichtbarkeit verliehen. Gleichzeitig scheint die Tatsache, daß es den Anarchisten nie gelungen ist, eine eigene Bewegung zu bilden, ihnen immens geholfen zu haben, auszuschwärmen, sich zu verbreiten und größere Teile der Gesellschaft zu erfassen. Und im Dezember hat das Fehlen eines gemeinsamen Programms und die Vielzahl von Strategien die Unterdrückung durch die Polizei unmöglich gemacht.
Die Rebellion in Griechenland hat, genauso wie die Rebellionen in Kabylia, Oaxaca und China, gezeigt, daß ein Aufstand die Menschen nicht spontan mit all dem ausstattet, was nötig ist, um vom Aufstand zur Revolution zu gelangen, selbst wenn allen der Aufstand zur zweiten Natur wird und eine Avantgarde nur hinderlich wäre. Wir müssen auf bestimmte Fragen immer noch Antworten finden, und diejenigen von uns, die nie wieder in die Normalität zurückkehren, diejenigen von uns, die weiter von Freiheit träumen, müssen diese Antworten vorschlagen und anwenden, wenn der Moment dafür kommt. Wie legen wir, nachdem wir alles niedergebrannt haben, die gesellschaftlichen Beziehungen offen, die den Kapitalismus und den Staat stützen, und wie greifen wir sie an? Welche Strukturen und Infrastrukturen können wir anvisieren, damit die Aufstandsbekämpfung geschwächt wird, ohne die Gesellschaft in einen passiven Katastrophenmodus zu versetzen, in dem sie nur darauf wartet, gerettet zu werden? Wir helfen wir anderen Menschen, an eine andere Welt zu glauben, für die sie kämpfen wollen, und wie verbreiten wir Visionen von Kommune-Gesellschaften ohne Staat, die jetzt schon beginnen? Wie schaffen wir die Eskalation hin zum revolutionären Bürgerkrieg – das heißt, einen Krieg zwischen zwei Seiten anstelle des permanent geführten einseitigen Kriegs gegen uns –, ohne die Unterstützung und Beteiligung der Gesellschaft zu verlieren?
Diese Fragen sind in Griechenland nicht beantwortet worden, und aus diesem Grund ist der Aufstand hier noch ein Aufstand und keine Revolution. Spontaneität ist ein entscheidendes Element, ohne das es keinen Aufstand gäbe, aber Spontaneität ist kein Gott, der uns aus Ägypten führen wird, wenn wir nur lang genug durch diese Wüste gehen. Indem sie das tun, was sie immer tun, verpassen die Anarchisten strategische Gelegenheiten, die vorher noch nie möglich gewesen sind. Die apolitischen Menschen, die ihre geheimen Wünsche ausleben, werden in eine tiefe Niedergeschlagenheit verfallen, wenn eine kurzzeitige Rückkehr der Ordnung sie davon abhält, wirklich diejenigen zu sein, die sie gerade entdeckt haben, und mit Hilfe dieser Demoralisierung wird die kurzzeitige Rückkehr der Ordnung den Anschein bekommen, von Dauer zu sein.
Aber Ordnung ist nie von Dauer. Selbst wenn wir nie die Welt erreichen sollten, die wir wollen, garantieren allein schon die Dynamiken von Kontrolle und Rebellion, daß wir nie verlieren und der Staat nie gewinnen wird. Entweder zerstören wir ihn oder wir setzen den Kampf gegen ihn fort und stören seine krankhaften Träume auf ewig. Die Natur selbst ist chaotisch und macht völlige Kontrolle unmöglich. Vielleicht werden wir keine endgültigen Niederlagen erleiden und der Staat keine endgültigen Siege erreichen, aber es gibt Schritte nach vorne und Schritte zurück. Es muß sich erst noch zeigen, ob die griechische Gesellschaft das im Dezember gewonnene Gelände halten kann, aber ganz sicher haben sich die Anarchisten in Griechenland für die kommenden Kämpfe gestärkt. Indem wir von ihren Erfahrungen lernen, kann uns das auch gelingen.
A.G. Schwarz