Vorwort zur deutschen Ausgabe
Was ist seit dem Dezember 2008 und danach überhaupt in Griechenland los?« – In der Perspektive des Bewegungsaktivismus und überhaupt des sozialen Antagonismus lässt sich diese einfache Frage nur schwer beantworten. Grund dafür ist nicht, dass wir ZeugInnen und TeilnehmerInnen eines Ereignisses mit longue durée sind, dessen Wirkungsmächtigkeit sich noch nicht entfaltet hat, sondern vielmehr, dass wir noch nicht über Werkzeuge für diese neue Dynamik verfügen. Um eine einfache Rezeptionsanalyse oder eine objektivierende Interpretation der Ereignisse zu vermeiden, plädieren wir dafür, dem Dezember und den zwei darauf folgenden Jahren mit einer Haltung der staunenden Verlegenheit zu begegnen.
Die Bilder und Erfahrungen dieser zwei Jahre, die von der explosionsartigen Eleganz des Neuen und der stummen Intensität eines im Alltag gelebten und knapp aufgeschobenen Umbruchs zeugen, machen das Ausbuchstabieren des Dezembers zu einem sehr prekären Unternehmen des Verstehens. Mit den spektakulären Momenten des Dezembers 2008, dem fünften Mai 2010 und denen, die noch folgen, kann man dennoch versuchen, einigen singulären Charakteristika nachzuspüren: der Tragweite, der Intensität und dem Radius.
Man muss sich nicht besonders anstrengen, um sich die planetarischen Echos der Ereignisse in Erinnerung zu rufen. Die Botschaft des Economist, der direkt nach dem Generalstreik am fünften Mai 2010 mit einem Foto der Demonstrierenden titelte – darunter der weltweit bekannteste Aktivisten-Hund Kanelos der Zweite –, war unmissverständlich: »Coming to a city near you?« Diese Besorgnis korrespondiert mit der Ansteckungsgefahr, die Nicolas Sarkozy im Winter 2008-2009 witterte und mit der Zurücknahme eines Gesetzes zur Deregulierung der Bildungspolitik beantwortete, die in direktem Bezug auf die Aktivitäten der Jugendlichen und Studierenden in Athen stand. Sowohl das Interesse als auch die implizite oder explizite Nähe, die AnalystInnen, AktivistInnen, aber auch manche Regierende spürten (Sprüche wie »From New York to Greece fuck the Police« und »Grèce générale« oder »G-Riots« sind dafür exemplarisch), machen aus dem Dezember ein wahrlich globales Ereignis. Seine Globalität besteht allerdings nicht in der simplen medialen Aufmerksamkeit, sondern in der buchstäblichen Mühelosigkeit seiner transversalen Einschreibungen. Plötzlich war Athen überall. Die Solidaritätsformen, die von Barcelona oder Berlin bis nach Seoul und Buenos Aires reichten, rekurrierten auf die universalen Entsprechungen eines metropolitanen Streiks. Ihre Aktualität ist der weltweite Zorn angesichts staatlicher Repressionen. Die Bewohner von Paris, Hamburg, Moskau und San Francisco sahen mit eigenen Augen und Erfahrungen, wie die Straßen von Exarcheia zu Orten der Wunschproduktion wurden und wie die materialisierten Insignien der Athener Macht, Polizeistationen, Ministerien, Ratshäuser, Banken, Shoppingmalls und Schulen taumelten und fielen.
Ein weiteres überraschendes Charakteristikum ist die rhizomatische Beharrlichkeit einer Menge kollektiver Aktionsformen. Als am 9. Januar 2009 die große Athener Demonstration mit dem Jubiläumsdatum der Ermordung des Genossen Temponera durch Mitglieder der regierungsnahen rechten Jugendorganisation zusammen fiel, dachten wir alle leise, dass dies der Abspann einer einmaligen Party sei, die im Namen des metropolitanen Zorns und der Wunschproduktion in Zeiten der Prekarität mehr als einen Monat lang andauerte. Die Rückkehr der Normalität schien unwiderruflich, aber sie ging mit der Gewissheit einher, dass nichts so bleiben würde wie es war.
Seitdem blühen bei jedem noch so geringen Anlass überall die Blumen des Bösen, die mit größerer oder kleinerer Erfolgsaussicht jeden Restaurationsversuch der Regierenden verschlingen. Als der Athener Bürgermeister z.B. versuchte, mit dem Bau eines privaten Parkhauses einen kleinen Park in Kypseli, in einer der dichtest bevölkerten Ecke der Welt, zu „rationalisieren“, begegnete ihm nicht nur die Menge der Körper der Bewohner, sondern diese brachten den gegen sie eingesetzten himmlischen Augenreiz des Tränengases ins Ratshaus zurück, und zwar während der Sitzung des Stadtparlaments. Dem gleichen Geiste entsprungen war das Projekt, einen betonierten Parkplatz in Exarcheia in einen befreiten Park zu verwandeln.
Beharrlichkeit und Geschwindigkeit lässt sich auch dort beobachten, wo soziale Rechte, die die Arbeit, den öffentlichen Raum oder die Meinungsfreiheit betreffen, angegriffen werden. Verwunderlich ist dabei nicht so sehr die Massivität der Reaktion, gab es die doch irgendwie immer, sondern die Unmittelbarkeit und die Unvermitteltheit der Aktionen und ihrer Formen. Während z. B. die Reaktionen der offiziellen Massengewerkschaft (GSEE) im Falle des mörderischen Überfalls auf die Arbeitsmigrantin und Gewerkschafterin Konstantina Kouneva träge und bürokratisch waren, besetzten die prekär Beschäftigten und ihre Basissyndikate (Basisversammlung der mobilen Arbeitnehmer SBEOD), etwa jenes der „deliberadon“ (so heißen die ambulanten Auslieferer), die Büros der Metro-Gesellschaft, für die Kouneva arbeitete, und demolierten die Reinigungsfirma OIKOMET, die für den faschistischen Säure-Anschlag auf ihr Gesicht verantwortlich gemacht worden ist.
Ein wichtiges Moment, welches in der Konjunktur der zwei Folgejahre des Dezembers deutlich wurde, ist die Nicht-Vorhersehbarkeit. Es gibt nicht nur eine Schwierigkeit, was die Konzeptualisierung des Dezembers und der Meta-Dezember-Ära anbelangt, es gibt offensichtlich auch ein Unvermögen, die Richtung und Perspektive der kommenden Ereignisse zu prognostizieren. Der von den Massengewerkschaften organisierte erste Mai des Jahres 2010 wurde – obwohl er mit dem Moment eines hemmungslosen Angriffs gegen die Arbeitsrechte zusammenfiel – eher harmlos und mit wenig Beteiligung gefeiert. Vier Tage danach und atmosphärisch inmitten einer einmaligen Spekulation gegen die Zahlungsunfähigkeit des Staates von Athen, fanden in der Hauptstadt die massivsten und entschiedensten Demonstrationen der Welten der Arbeit der letzten zehn Jahre statt – mit dem einmaligen Versuch, das Parlament zu stürmen und der Tragödie bei der Marfin Bank, wo drei Angestellte erstickten.
Beides, das Unvorhersehbare und das organisatorisch Unbestimmte, welches sich mit der Bereitschaft der metropolitanen Menge zur rhizomatisch-militanten Konfrontation mit der Macht verbinden, sind die Elemente, welche die Regierenden nachhaltig beunruhigen. In diesem Sinne wundert es kaum, dass viele von der Eventualität ernster Riots in der nächsten Zeit sprechen oder solche Aufstände befürchten oder herbeisehnen, die genau wie im Dezember nicht kontrollierbar sein werden.
Die finanzpolitische Krise kann auch zu einer sozialen Krise werden. Dieses Mal aber ist die Prekarität des Sozialen in Griechenland jener Prekarität, die in Europa herrscht, nicht einfach tendenziell ähnlich, sondern die griechische Prekarität des Sozialen entspricht ihrer Europäisierung oder einem bitteren Vorgeschmack darauf.
»Der Spiegel der Zukunft ist gebrochen, wir leben schon im Spiegel.«
Die Delegitimation aller Instanzen der Repräsentation und die Pandemie qualitativ neuer Organisations- und Widerstandsformen, die ihre Epiphanie mit dem Dezember feierten, aber auch die Widerstandsnester, die in seinem Anschluss entstanden, sind Gegenstand dieses Buches. Sie bieten vielleicht nicht unbedingt eine Garantie für die Überzeugungskraft und das Ansteckungsvermögen der metropolitanen Kinder des Zornes, doch mit Sicherheit sind sie es, die dieses einzigartige Laboratorium des sozialen Wandels in Zeiten der Krise unheimlich interessant machen. Denn es gibt keinen zwingenden Grund, anzunehmen, dass sich die Viren des Zornes nicht auch in anderen Nachbarschaften, in anderen geographischen Kontexten ausbreiten. Es lässt sich sogar eine fröhliche Hypothese aufstellen: Die Tatsache, dass wir – erstaunlicherweise im Einvernehmen mit dem neoliberal-monetaristischen Credo der europäischen PropagandistInnen – über unsere Verhältnisse gelebt haben, kann zu einem gesellschaftlichen Reichtum führen, der diese PropagandistInnen bald erleben lassen wird, was es wirklich heisst, über seine Verhältnisse zu handeln.
Vassilis Tsianos & Dimitris Parsanoglou, September 2010