Was geschah im August 2011? – Eine kurze Chronik der Ereignisse
Samstag, der 6. August 2011
Am Abend des 4. August wurde Mark Duggan in der Londoner Gegend Tottenham Hale in einem Taxi durch Polizeibeamte mit Maschinenpistolen erschossen. Dies sollte der Auslöser für einige Tage schwerer Ausschreitungen und Plünderungen werden. Aber die Reaktion auf diesen Mord war nicht unmittelbar. Zunächst warteten die Familie und die Freunde von Mark Duggan (und ein großer Teil der Bevölkerung von Tottenham) auf eine Erklärung der Polizei, die sie allerdings nie bekamen. Schließlich marschierte am Samstagnachmittag eine von der Familie angeführte Demonstration zur Tottenhamer Polizeistation, also fast zwei Tage nach den Schüssen. Nachdem sie einige Stunden vor der von Polizisten beschützten Station gewartet hatten, ohne dass es zu irgendeiner Stellungnahme seitens des Staats gekommen wäre, wurde um circa 20:20 Uhr eine junge Frau beim Versuch, die Wache zu betreten, von der Bereitschaftspolizei angegriffen. Daraufhin wurden zwei nahegelegene, verlassene Polizeiautos auf der Tottenham High Road angezündet, was die Polizei geschehen ließ, ohne einzugreifen, und so wurde auch noch ein Bus in Brand gesetzt. Wie ein Augenzeuge berichtete, bestand die Menschenansammlung, von der diese Eskalation ausging, nicht ausschließlich aus Schwarzen: „Ich kam etwa um zwölf Uhr nach Tottenham zurück, und sofort fiel mir die Menschenmenge in den Straßen auf. In Tottenham ist es sehr ungewöhnlich, wenn um zwölf Uhr noch so viele Leute unterwegs sind. Bis dahin hatte ich noch keine Ausschreitungen gesehen. Es waren einfach nur viele Menschen unterwegs. Da waren etliche türkische Jungs, eine Menge Somalier, da waren Afrikaner, Jamaikaner, Weiße, Iren, Polen … Als ob ganz Tottenham unterwegs gewesen wäre. Ich habe Omis, Opis, kleine Kinder gesehen, es war wie auf einer Party, eine Karnevalsatmosphäre. Alles ein wenig seltsam.“
Nach einigen ersten Plünderungen und Brandstiftungen griff die berittene Polizei die Menge an, wurde aber durch brennende Barrikaden und Steinwürfe zurückgeschlagen. Derselbe Augenzeuge: „Alle riefen und sangen: ‚Keine Gerechtigkeit, kein Frieden‘, ‚Ruhe in Frieden, Mark Duggan‘. Die Menge blieb bis etwa drei, vier Uhr morgens. Mir nötigt das Respekt ab. Die Leute von Tottenham haben sich erhoben, haben alle ihre internen Streitigkeiten ausgesetzt und sind zu einer Einheit geworden. Bis dahin gab es keinerlei Gewalt untereinander, etwa unter Schwarzen oder wem auch immer.“ Die Aufstandspolizei trieb die Menge nördlich die Tottenham High Road entlang, konnte sie aber nicht auflösen, eher wurden es noch mehr Menschen. Am Aldi-Supermarkt wurde die Polizei aufgehalten, nachdem die Aufrührer sich an einer Baustelle mit reichlich Munition eindecken konnten. Die Einkaufswägen wurden dazu benutzt, die berittene Polizei abzuwehren.
Während um etwa 1:30 Uhr die Polizei mit der Menge auf der High Road beschäftigt war, konnten Hunderte von Menschen in einem großen Einkaufszentrum in Tottenham Hale, ungefähr eine Meile südlich, unbehelligt wertvolle Waren aus zahlreichen Geschäften klauen. Eine Stunde später griffen die Unruhen das erste Mal über Tottenham hinaus, als im fast zwei Meilen westlich gelegenen Wood Green wieder völlig unbehelligt ein Einkaufszentrum leergeräumt werden konnte. Diese Plünderung währte drei Stunden und ging bis in die frühen Morgenstunden. Berichten zufolge stürmten Jugendliche auch eine McDonald’s-Filiale und fingen an, sich selbst Burger und Pommes zu braten.
Sonntag, der 7. August 2011
Am nächsten Abend kam es in Tottenham selbst kaum zu irgendwelchen Vorkommnissen. Die Plünderungen verlagerten sich in andere Viertel der englischen Hauptstadt. So sammelten sich am frühen Abend in Enfield, viele Meilen nördlich von Tottenham (in den Außenbezirken der Stadt) 200 meist vermummte Menschen an einem vorher abgesprochenen Ort. Ein anwesender Journalist bemerkte: „Wie schon letzte Nacht in Tottenham, spiegelte die Zusammensetzung der Menge die örtliche Demographie wieder. Junge Männer waren in der Mehrheit, aber es gab auch Frauen und ebenso einige ältere Menschen. Im Gegensatz zu einigen von mir gehörten Radioberichten waren das keine ‚schwarzen Jugendlichen‘: In Enfield waren es hauptsächlich Weiße.“ Das Viertel wurde von Polizeibeamten überflutet, dennoch kam es aufgrund der genaueren Ortskenntnis des Mobs zu sporadischen Plünderungen. Anders als in Tottenham wurden direkte Konfrontationen mit den anwesenden Territorial Support Groups (TSG) der Londoner Polizei vermieden. Stattdessen spielten kleine Gruppen ein agiles „Katz-und-Maus“-Spiel mit ihnen und plünderten dabei lohnende Ziele, sobald diese unbeaufsichtigt waren. Als immer mehr Polizisten nach Enfield gezogen wurden, änderten die Plünderer ihren Plan. Derselbe Journalist: „Die Polizei schien eine genaue Kenntnis der Lage zu besitzen und wartete am nächsten ausgemachten Ziel. Teenager sagten mir, sie würden Richtung Ponder’s End gehen und dann ab Mitternacht in Edmonton sein.“ Die Menge ließ so die große Polizeiansammlung in Enfield zurück, wich in andere Viertel aus und plünderte auf dem Weg dorthin einige größere Geschäfte. Noch einmal der Journalist: „Die anvisierten Läden schienen entweder etwas Wertvolles zu enthalten – Mobiltelefone, Videospiele – oder hatten einfach eine einschlagbare Glasfassade. Die Ketten in der Hauptstraße scheinen das bevorzugte Ziel gewesen zu sein, aber es wurde auch in kleine Familienbetriebe eingebrochen.“ An den Ausschreitungen in Enfield beteiligte sich auch Chelsea Ives, eine achtzehnjährige bekannte Leichtathletin und offizielle Botschafterin der Olympischen Spiele in London 2012. Sie wurde von ihrer eigenen Mutter angezeigt, nachdem diese in den Fernsehnachrichten gesehen hatte, wie Chelsea ein Polizeiauto mit einem Straßenabsperrungspfosten angriff. Sie bezeichnete die Riots als „den besten Tag aller Zeiten“. Chelsea Ives wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
An vielen Orten in Nord-London kam es zu einzelnen Plünderungen und Angriffen auf die Polizei (Islington, Waltham Cross, Chingford Mount, Walthamstow). Währenddessen sammelte sich am Oxford Circus im West End ein Flashmob und begann, Schaufenster einzuschlagen. Nach einem Festival in Brixton sammelte sich eine zweihundertköpfige Menge und beging Massenplünderungen in größeren Geschäften. Es gab auch erste Vorkommnisse in Hackney. In den Worten eines Augenzeugen: „In der frühen Nacht kam es zu Plünderungen, wenn auch in geringerem Umfang als anderswo. Nun sind die Straßen voll mit zahlreichen Polizeibeamten, die junge Männer und Frauen gegen die Wand drücken. Systematisch wurde jeder, der sich in der Gegend aufhielt, kontrolliert. Ich hörte einen Beamten sagen: ‚Reg’ dich nicht auf. Das ist eine Routinekontrolle.‘“
Montag, der 8. August 2011
Am dritten Tag griffen die Unruhen auf andere große Städte über. Montagnachmittag führten von den Polizisten aggressiv vorgenommene Kontrollen und Durchsuchungen in der Mare Street, Hackney, zu einer Konfrontation von Pendlern und Passanten mit der Polizei. Zurückgelassene, den Verkehr blockierende Polizeiautos wurden zerstört, die Unruhen entwickelten sich rasch zu einer allgemeinen Konfrontation, und es kam hier und da zu Plünderungen ausgewählter Ziele. Nördlich von den Vorfällen in der Mare Street sammelten sich in der Nähe des Pembury-Wohnkomplexes weitere Menschenmengen, bauten Barrikaden in den Seitenstraßen und stellten sich teilweise in direkten Kämpfen der anmarschierenden Aufstandspolizei entgegen. Diese Auseinandersetzungen gingen bis in die frühen Morgenstunden.
Gleichzeitig brachen auch in den Vierteln Peckham, Lewisham, Catford und Clapham im Süden von London Unruhen aus. Immer wieder konnte die Polizei abgedrängt oder ausmanövriert werden, und es kam zu gezielten Plünderungen. Ein Augenzeuge beschreibt das Geschehen in Clapham: „Die nächtliche Gewalt fing um etwa neun Uhr an, als einige Dutzend Jugendliche ein Currys-Elektronikgeschäft in der Northcote Road plünderten. Die kleine Anzahl Aufstandspolizisten verließ die Szenerie, nachdem sie mit allerlei Gegenständen bombardiert worden waren. Eine halbe Stunde später schlossen sich Dutzende weiterer Plünderer an, viele mit schwarzen Kapuzen und Halstüchern. Schaulustige und Einheimische identifizierten viele der Anwesenden als ‚Blaue, Gelbe und Rote‘, Mitglieder örtlicher Gangs, die, wie man sagte, für diesen Abend einen Waffenstillstand geschlossen hatten. Die Northcote Road entlang wurden die Fenster anderer Läden, unter anderem von Starbucks, eingeschlagen. Die Gangs rannten die Straße entlang, und plötzlich wiesen ein Mann mittleren Alters und seine Frau sie auf einen Juwelier etwas weiter die Straße hoch und auch auf andere Ziele hin. Weniger als dreißig Meter entfernt standen Dutzende Nachtschwärmer außerhalb eines Pubs, tranken Bier und guckten zu. Als nach zwanzig Minuten der Plünderung klar wurde, dass die Polizei nicht zurückkam, schlossen sich viele den Plünderern an.“
Eines der ungewöhnlichsten Ereignisse der Nacht war der gezielte Angriff auf das wohlhabende Viertel Ealing in West-London. Als es dunkel wurde, nutzten etwa 200 Jugendliche aus den Nachbarvierteln den Umstand, dass die örtliche Bereitschaftspolizei bereits zu anderen Vorfällen in London beordert worden war, und liefen mehrere Stunden Amok. Einige Geschäfte an der Uxbridge Road und am Ealing Broadway wurden geplündert. Es kam zu einer großangelegten Zerstörung von Geschäften und Autos, besonders in der „sehr respektablen“ Gegend Haven Green. Dort wurden die Ziele viel beliebiger gesucht, und es ging sicherlich nicht nur um die Aneignung von Waren. Ein Journalist beschrieb die Szene im Vergleich zu anderen von ihm beobachteten Vorfällen in London: „Es gab Teile von Ealing City, in denen jedes einzelne Geschäft angegriffen und jedes Auto verbrannt war.“ Um der Gewalt Herr zu werden, beorderte die Polizei Einheiten und gepanzerte Fahrzeuge in diese Gegend zurück. Allerdings waren die Auseinandersetzungen im nahegelegenen Viertel Acton um 4:30 Uhr morgens immer noch in Gange. Ähnliche Präzisionsschläge geschahen dieselbe Nacht in weiteren wohlhabenden Gegenden West-Londons, etwa Notting Hill, Sloane Square und Pimlico. Obwohl sie durch die Polizei vorgewarnt waren, sollte man den Schock der Bewohner dieser Stadtteile nicht unterschätzen. Viele befanden sich in dem Glauben, ihre Gegend sei immun gegen die Gewalt – allein, weil sie wohlhabender sei.
Während sich die Ausschreitungen und Plünderungen über London ausbreiteten, begannen auch in anderen Städten Unruhen. In Birmingham sammelten sich Hunderte im Stadtzentrum um das Bull-Ring-Einkaufszentrum und plünderten trotz der stattlichen Polizeipräsenz einige Filialen großer Ketten. Im Viertel Handsworth wurde eine unbesetzte Polizeistation niedergebrannt. In Toxteth, Liverpool und Chapeltown, Leeds, kam es immer wieder zu angespannten Situationen, als die Polizei und die Menge aneinandergerieten, in Nottingham verhinderte die Polizei einen Versuch, in ein großes Einkaufszentrum einzudringen. Später wurde eine Polizeistation in St. Ann mit Benzinbomben angegriffen. In Bristol spielten 150 Jugendliche in den Stadtteilen Stokes Croft und St. Pauls rund um das Primärziel, dem Cabot Circus mit der zentralen Shopping Mall, einige Stunden „Katz und Maus“ mit der Aufstandspolizei. Obwohl die Polizei das Einkaufszentrum bewachte, wurde ein Juwelier ausgeraubt. Dabei wurden keine ernsthaften Versuche unternommen, die zahlreichen ‚kleinen‘ Läden der Nachbarviertel zu plündern, wohin die Polizei die Menge zurückdrängte.
In Enfield, London, wurde in der Nacht ein 20.000 Quadratmeter großes Lagerhaus von Sony von einer organisiert vorgehenden Gruppe überfallen, das Wachpersonal wurde überwältigt und der Sicherheitszaun durchbrochen. An der anschließenden Plünderung beteiligten sich zahlreiche weitere hinzukommende Gruppen von Menschen. Am Ende wurde das gesamte Gebäude zusammen mit mehr als drei Millionen DVDs und mehreren Zehntausend CDs verbrannt.
Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen in London an diesem Tag wird später der 22-jährige Schauspieler Jamie Waylett – bekannt aus den Harry Potter-Filmen – festgenommen. Die Polizei wirft ihm Plünderung sowie den Besitz eines Molotowcocktails vor, mit dem er fremdes Eigentum habe zerstören wollen.
Dienstag, der 9. August 2011
Am folgenden Tag befahl die Metropolitan Police 16.000 Beamte in die Straßen Londons. Es wurden gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, die wiederholt in die Menge fuhren. Die Beamten waren mit Gummigeschossen bewaffnet, um die erwarteten Plünderungen und Ausschreitungen zu unterdrücken. In der ganzen Hauptstadt und in anderen Großstädten wurde den Geschäften und Malls von der Polizei empfohlen, früher zu schließen. In verschiedenen Vierteln gründeten sich Bürgerwehren, angeblich, um die kleinen Geschäfte zu schützen.
Jedoch kamen die ersten Anzeichen von Unruhe an diesem Tag nicht aus London, sondern aus Salfort, Greater Manchester. Dort sammelten sich am späten Nachmittag Menschenmengen in der Gegend der zentralen Fußgängerzone. Verschiedene Geschäfte wurden geplündert, ein BBC-Fahrzeug und ein Regierungsgebäude wurden in Brand gesetzt. Die Aufstandspolizei rückte an, und es kam zu anhaltenden Kämpfen. Währenddessen fanden sich in Manchester Hunderte Plünderer in der Nähe des Arndale-Einkaufszentrums und banden die Polizei stundenlang in „Katz-und-Maus“-Manövern. Dabei konnten einige Filialen großer Ketten ausgeraubt werden. Eine Filiale der Modekette Miss Selfridge wurde in Flammen gesetzt.
In den West Midlands griff ein Haufen erneut das Zentrum Birminghams an, um es zu plündern, aber die gestiegene Polizeipräsenz verminderte die Beute. In West Bromwich sammelten sich Hunderte auf der High Street, bauten Barrikaden aus brennenden Fahrzeugen und plünderten ausgewählte Geschäfte. Im Stadtzentrum von Wolverhampton kam es zu ganz ähnlichen Szenen, als 300 Menschen Kleider klauten, Elektronikgeschäfte ausraubten und sich Prügeleien mit Einheiten der Aufstandspolizei lieferten. In Nottingham wurden fünf Polizeistationen mit Benzinbomben angegriffen, und in Liverpool kam es zu einer zweiten Unruhenacht, mit lange andauernden Straßenschlachten und gelegentlichen Plünderungen in Toxteth, Sefton Park und in Mersey, Birkenhead. Bei einem Vorfall in Bootle versuchte eine Gang von siebzig Personen mit einem Schlagbohrer in ein Postamt einzubrechen. Gewalt flackerte außerdem in Gloucester, Leicester und Bristol auf.
In dieser Nacht wurden sowohl ein Restaurant des bekannten Fernsehkochs Jamie Oliver als auch eine Boutique des Modelabels Pretty Green, einem Unternehmen des Ex-Sängers von Oasis, angegriffen. Es kam außerdem zum Tod dreier Einwohner von Winson Green, Birmingham, die von einem Auto angefahren wurden, während sie sich an der Verteidigung der örtlichen Geschäfte vor Plünderungen beteiligten. Insgesamt wurden über 2.000 Personen festgenommen, die Polizei wertet bis heute 40.000 Minuten Kameraaufzeichungen aus, die Gerichte arbeiteten rund um die Uhr und verhängten zahllose Haftstrafen.
Die meisten Informationen dieser exemplarischen Zusammenschau entstammen dem Beitrag „Communities, commodities and class in the August 2011 riots“, entstanden im Zusammenhang der englischen Zeitschrift Aufheben.