Erbaut das Land, verbrennt die Paläste
1. Was wir erleben ist noch nie dagewesen. Es ist nicht einfach eine weitere „soziale Bewegung“. Die „sozialen Bewegungen“ haben einen Rahmen, der alles als Ausschweifungen definiert, das über ihn hinausgeht. Nun ist das, was wir seit dem 9. März erleben, nichts anderes als eine ununterbrochene Folge von Ausbrüchen. Eine Folge von Exzessen, hinter denen die alten Formen der Politik herlaufen. Der Aufruf zum Streik am 9. März war ein Ausbruch der Youtuber aus den Gewerkschaften. Auf den Demonstrationen, die darauf folgten, sah man ständige Ausbrüche der „Jungen“ aus den Zügen: Das traditionelle Bild eines Gewerkschaftszuges, mit den Chefs der verschiedenen Zentralen an seiner Spitze, wurde durch einen Demokopf ersetzt, der sich systematisch aus einer Masse von Jungen mit Kapuzen zusammensetzte, die die Polizei herausforderte. Die Nuit-Debout-Initiative selbst überschreitet alle anerkannten politischen Rahmen. Die vom Platz der Republik ausgehenden wilden Demonstrationen brachen ihrerseits aus der Nuit Debout aus. Man muss daher den Anfang weiterführen, das heißt: weiter ausbrechen, sich weiter fortbewegen, weiter überraschen.
2. Der Versuch, das noch nie Dagewesene auf das bereits Bekannte zurückzuführen, ist Teil des Arsenals der medienwirksamen Neutralisation. So wenig die Demos gegen das sogenannte Arbeitsgesetz mit dem Anti-CPE Kampf zu tun haben, so wenig hat Nuit Debout mit den „Indignés“ vom Puerta del Sol gemein. Als die Puerta del Sol sich pazifistisch erklärte, hatte der Platz der Republik – letzten Freitag – bereits mehrere Stunden lang Konfrontationen mit der Polizei erlebt. „Die ganze Welt hasst die Polizei“ ist dort übrigens ein Schlager. Als die Puerta del Sol sich für »apolitisch« erklärte, konnten auf dem Platz der Republik die Gewerkschaftsflugblätter und Reden der Gewerkschaftler gar nicht mehr gezählt werden. Und letztendlich wurde die Puerta del Sol tatsächlich besetzt gehalten, was auf dem Platz der Republik nicht der Fall war. Dort wurde für tausende Leute gekocht, man lebte dort Tag und Nacht, man wurde nicht täglich in den Morgenstunden von der Polizei verjagt und auch nicht aufgefordert, dies und das abzubauen oder mit dem Kochen aufzuhören. Dieser letzte Unterschied zeigt einen Weg nach vorn: Wenn wir wollen, dass auf dem Platz der Republik etwas anderes zusammen kommt, als eine endlose VV, die sich jeden Tag wiederholt und den Neugierigen nichts anderes bietet als das Spektakel ihrer Machtlosigkeit und die Inkonistenz ihrer folgenlosen „Entscheidungen“, müssen wir den Platz der Republik wirklich besetzen, so daß wir wirklich Räume schaffen und sie gegen die Polizei verteidigen.
3. Das, was den Platz der Republik ausmacht, ist ein öffentlicher Gegenraum. Da der tatsächlich bestehende öffentliche Raum, der politische und und durch die Medien bestimmte Raum, zu einer uneingeschränkten Lüge geworden ist, hat man keine andere Wahl, als ihn aufzugeben, aber nicht, indem man ihn einfach still verlässt, sondern im Gegenteil bejahend, indem man einen anderen schafft. Und mit der Rede ist es wie mit der Freiheit: Wenn man sie das erste Mal ergreift, dann oft nur, um Dummheiten zu sagen oder zu machen, aber das ist nicht so wichtig. Man sollte nur nicht bei der ersten Dummheit bleiben. Man muß sagen, dass wir einen weiten Weg vor uns haben: Erst seit einigen Wochen holen wir neuen Atem. Schon seit Jahren hingegen streben miteinander verbündete Kräfte danach, die Lage unerträglich zu machen – zwischen der „Bedrohung durch den Front National“, dem „Krieg gegen den Terror“, allerlei „Krisen“, dem Ausnahmezustand, der klimatischen Apokalypse und der permanenten Kampagne für die nächste Präsidentschaftswahl. Was den vorherrschenden öffentlichen Raum ausmacht, ist, dass er sich für nichts eignet als für die Kontemplation: Das, was wir dort bezeugen, was wir dort hören, was wir dort erfahren, führt nie zu mehr als einer Geste, birgt nie eine Konsequenz, da wir dort ganz allein sind. Was man also exemplarisch am Abend des Aperitif bei Valls sehen konnte war, dass es dort auf den Gegen-Plätzen des Platz der Republik Lebendige und Fürchterliche gibt, dass die Geste dem Wort folgen kann. Das Bewusstsein und die Macht zu agieren sind dort nicht mehr getrennt. Auf diese Weise entmachtet der Gegen-Platz den bestehenden öffentlichen Raum auf positive Weise. Daher die große Neugier und die große Eifersucht der Medien auf ihn.
4. Der Konflikt rund um das Gesetz El Khomri ist eigentlich kein Konflikt um das Gesetz El Khomri, es ist ein Konflikt darüber, ob es möglich ist, zu regieren oder nicht, das heißt ein im wirklichen Sinne des Wortes politischer Konflikt. Niemand erträgt es mehr, durch die Kasper der Regierung und der Nationalversammlung regiert zu werden, und aus diesem Grund darf das Gesetz aus unserer Sicht nicht verabschiedet werden. Die Regierung ihrerseits kann es nicht akzeptieren, dieses Gesetz nicht zu verabschieden, da dies faktisch den Abschied von der Fähigkeit zu regieren bedeuten würde. Diese Weigerung äußert sich übrigens bis in eine Gewerkschaft wie die CGT hinein, deren Basis es auch nicht mehr ertragen kann, regiert zu werden wie sie es immer durch die Leitung wurde. Die Frage, die sich in Frankreich seit mehr als einem Monat stellt, ist daher die Absetzung der Regierung in allen ihren Formen. Wenn man den Redebeiträgen folgt, die sich auf dem Platz der Republik ablösen, kann man sagen, dass sich die Meisten der Wortmeldungen auf zwei entgegengesetzte Positionen über die Frage der Entmachtung verteilen: die einen möchten, dass auf den Moment der Entmachtung eine Phase der Verfassungsgebung folgt, in der es möglich wäre, eine neue Verfassung zu schreiben, um eine neue Gesellschaft zu gründen. Die anderen denken, dass die Entmachtung ohne Ende sein muss, weil sie vor allem ein Aufbauprozess ist, der die Fiktion der einen Gesellschaft durch die Wirklichkeit einer Vielzahl von Welten ersetzen muss, in denen sich für alle eine anständige Idee des Lebens und des Glücks ausdrückt und verkörpert. Wir, die dies schreiben, hängen dieser letzten Position an.
5. Seien wir pragmatisch: Es ist niemandem gegeben, eine Verfassung zu schreiben, als unter der Bedingung, dass zuvor das Regime gestürzt wurde. Und wir haben gesehen, das ein demokratisches System sich nicht demokratisch stürzen lässt, das heißt, es wird sich gegen jede grundsätzliche Verschiebung bis zum letzten Polizisten der CRS verteidigen. Der einzige Weg, eine neue Verfassung zu schreiben, ist der aufständische Weg. Dennoch, um einen Aufstand siegreich zu führen, wie zum Beispiel auf dem Maidan, braucht es eine wirkliche Besetzung, Verbarrikadierung und Bewachung des Platzes der Republik. Alle dem Aufstand günstigen politischen und existentiellen Empfindsamkeiten müssen sich sich dort wiederfinden können. Dafür muss die verzweifelte Suche nach einen Konsens, der im Zentrum von Paris nie zustande kommen wird, außer als Konsens der mehr oder weniger ängstlichen städtischen Kleinbürger, durch die materielle Existenz einer Vielzahl von Räumen ersetzt werden, durch „Häuser“, in denen alle Empfindsamkeiten des kommenden Aufstands sich sammeln und vereinigen können. Jene, die leidenschaftlich eine Verfassung schreiben, sind willkommen, ein Haus zu schaffen, in dem sie so viele Entwürfe schreiben können, wie sie wollen. Und was deren Umsetzung in die Tat angeht, nun gut, wir werden darüber diskutieren, wenn Valls und Hollande ihre Jets genommen haben, um in den Vereinigten Staaten, in Afrika oder in Algerien Zuflucht zu suchen.
6. Vor einigen Jahren warb ein Plakat der Pariser Metro mit dem Slogan: „Herr über einen Ort ist, wer ihn organisiert“. Es war mit einem majestätischen Löwen verziert, der vermutlich die Gebietshoheit der RATP (Staatlicher Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs) repräsentierte. Was ist die Macht auf dem Platz der Republik? Nun gut, die Macht auf dem Platz der Republik sind die Einrichtung des Platzes selbst und die Ordnungskräfte, die dort Respekt einflößen. Die Macht hier sind mithin dieser leere Vorplatz, der Fluss der Autos und ihr Getöse und die Mannschaftswagen der CRS, die an jeder Ecke positioniert sind. Wie kann eine Versammlung ernsthaft Souveränität vorgeben und sich zugleich dazu erniedrigen, in allen Punkten die reale Souveränität zu akzeptieren? Das ist nicht ernsthaft. Wir werden uns allerdings nicht wieder treffen und weder wirklich zahlreich sein, noch eine dichte und entschlossene Menge, außer unter der Bedingung, dass wir ernsthaft sind. Hier ernsthaft zu sein bedeutet, uns selbst für die Einrichtung des Platzes zu entscheiden, fest zu bauen, um unsere Intention zu Bleiben auszudrücken und unsere Weigerung, nur in der Menge der medialen Begleiterscheinungen aufgeführt zu werden, bis wir beim ersten kommenden Attentat weggefegt werden. Wir müssen daher, um die von überall herkommenden Genossen aufzunehmen, zuerst aus der Ungewissheit entkommen, die uns durch die vorgeschriebene Anlage des Platzes aufgezwungen wird, um ihn dann unsererseits einzurichten – irgendwie konstruktiv sein.
7. Hier sind wir in der Mitte der Furt, mitten im Herzen der Gefahr: Wir sind zu viele, um einfach nach Hause zu gehen und nicht genug, um uns in einen aufständischen Angriff zu werfen. Wir müssen dringend „in den zweiten Gang schalten“, wie einige sagen. Den April zu überstehen wäre schonmal nicht schlecht. Wir können dabei nicht auf die Gewerkschaftszentralen zählen, da selbst, wenn es hier und da zu einer Verlängerung der Streiks käme, das gegen ihren Willen wäre. Jedoch kennen wir alle Gefahren, die uns bedrohen, falls die Situation sich verschärft, die Gefahr gegen die wir uns schon längst im Kampf befinden. Diese Gefahr, das ist die des Wahlsystems. In einem Jahr finden wir uns dann der demokratischen Erpressung gegenüber, zwischen Pest und Cholera entscheiden zu müssen, zwischen Alain Juppé und Marine Le Pen. Diejenigen die möglicherweise imstande sind, nochmal mit uns zusammenzukommen, sind genau all jene, die diese Perspektive anwidert; die Menge derjenigen, die es nicht mehr unterstützen, dass die Politik auf ein unbedeutsames Abstimmungsverfahren reduziert ist. Die Politik liegt in dem, was wir ausarbeiten, was wir aufbauen, und in dem, was wir angreifen, was wir zerstören. In den zweiten Gang schalten heißt daher: Erbaut das Land, verbrennt die Paläste.
Aufbauausschuss (Commission Construction)
Quelle: https://lundi.am/construire-l-hacienda-bruler-les-palais