Einleitung der Übersetzerinnen
Anfang der 1990er-Jahre plante die französische Eisenbahngesellschaft SNCF eine Erweiterung ihres Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes bis zum Mittelmeer, um die Reisezeit von Paris nach Marseille auf drei Stunden zu verkürzen. (1) Gegen die neue Bahnstrecke formierte sich eine Protestbewegung von Bauern, Winzern und Anwohnern. Sie verbarrikadierten Gleise und besetzten einen Eisenbahnviadukt, um die Verkehrsplaner von ihrem Projekt abzubringen. Nach einigem Hin und Her beauftragte die Regierung schließlich einen Provinzbürgermeister aus der Bretagne als »neutralen Vermittler«, der einen »Kompromissvorschlag « mit geringfügig geänderter Trassenführung präsentierte. Der Protest flaute ab und die Bahnlinie wurde gebaut.
Die damalige Gegenbewegung ist heute vergessen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang ein Text entstanden, der sich gegen die »Tyrannei der Geschwindigkeit« richtet. Er liest sich so bemerkenswert zeitlos, dass wir uns entschlossen haben, ihn in einer überarbeiteten deutschen Fassung erneut zu publizieren.
Um die Perspektive der Autoren besser zu verstehen, soll kurz die Gruppe vorgestellt werden, die die Schrift ursprünglich verfasst hat. Die Verfasser entstammten dem Umfeld der Situationistischen Internationale, eines Zusammenschlusses von Intellektuellen aus verschiedenen europäischen Ländern mit Frankreich als Zentrum. Dieser Zusammenschluss war nicht unerheblich an der untergründigen Vorbereitung der französischen Revolte des Mai ’68 beteiligt gewesen und hatte sich wenig später, 1972, aufgelöst.
Bereits in den 1950er-Jahren hatten die Situationisten damit begonnen, die alte Idee einer Gesellschaft ohne jede Herrschaft und Ausbeutung erneut auf die Tagesordnung zu setzen, nachdem die revolutionäre Arbeiterbewegung, die einst für die Verwirklichung dieser Idee gekämpft hatte, in Faschismus, Weltkrieg und Stalinismus untergegangen war. Unter den Bedingungen des Massenkonsums der Nachkriegsgesellschaft rückte dabei der Schwerpunkt weg von der Kritik an materiellem Elend und ungleicher Verteilung. »Das Problem ist nicht, dass Menschen mehr oder weniger arm leben, sondern, dass sie das Leben auf eine Weise leben, die sich immer ihrer Kontrolle entzieht«, formulierte Guy Debord (1931–1994), der als führender Kopf der Gruppe galt. Die daraus abgeleitete Forderung, sich kollektiv den freien Gebrauch des Lebens anzueignen, richtete sich gleichermaßen gegen die bürokratische Herrschaft des sozialistischen oder kommunistischen Ostens wie auch gegen die verselbstständigte Ökonomie des kapitalistischen Westens, die der bewussten Planung des einzelnen Individuums entzogen ist.
Mit der 1984 entstandenen Encyclopédie des Nuisances knüpften deren Herausgeber an die situationistischen Ideen an, stellten dabei jedoch einen Aspekt in den Mittelpunkt, der bei den Situationisten nur angelegt war: die Kritik an den modernen Produktivkräften. Für die alte Arbeiterbewegung hatte die soziale Revolution noch wesentlich darin bestanden, den existierenden Produktionsapparat der Kontrolle der Kapitalisten zu entreißen und ihn fortan unter eigener Regie und zum Wohle der ganzen Gesellschaft zu nutzen. Diese Sichtweise lässt sich für die Enzyklopädisten Ende des 20. Jahrhunderts nicht aufrechterhalten: »Die Warenproduktion hat sich, weltweit und unwiderruflich, von der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und von der Möglichkeit ihrer Nutzung für emanzipatorische Zwecke abgekoppelt.« Mit anderen Worten: Für den Großteil des heutzutage hergestellten Plunders hätte eine freie Menschheit schlicht keine Verwendung. Es zeige sich daher die »Unmöglichkeit, die Form der Aneignung [des gesellschaftlichen Reichtums] zu verändern, ohne zugleich alle Produktivkräfte umzugestalten. […] Die Unermesslichkeit dieser Aufgabe der Umgestaltung ist zweifellos der allgemeinste und wahrhaftigste Grund für die Niedergeschlagenheit unserer Zeitgenossen.« (2)
Als ersten, vorbereitenden Schritt zur Wiederaufnahme eines revolutionären Projekts nahmen sich die Enzyklopädisten vor, ein »Lexikon der Schädigungen« zusammenzustellen (dies ist in etwa die Übersetzung von »encyclopédie des nuisances«), das alle Übel der modernen Gesellschaft, von der Verarmung des Alltagslebens über den Qualitätsverlust des Essens bis zu den ökologischen Katastrophen, benennen und erklären sollte. Nach dem Vorbild der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls eine »Enzyklopädie« herausgegeben hatten, wählten sie die Form des Wörterbuchs, um frei über alle Aspekte schreiben zu können, die ihnen in den Sinn kamen. Es ging ihnen dabei nicht um eine abstrakte Zivilisationskritik, die alle technischen und wissenschaftlichen Neuerungen in Bausch und Bogen verdammt. Vielmehr beanspruchten sie, »die Irrationalität in den Wissenschaften, den Künsten und Berufszweigen« kenntlich zu machen als das »auf den Kopf gestellte und zwanghafte Bild der Freiheit, die in unserer Zeit möglich wäre«. (3)
Letztlich kapitulierten freilich auch die Enzyklopädisten vor der Unermesslichkeit ihrer Aufgabe: Das Wörterbuch- Projekt wurde 1992 eingestellt, es kam über den Buchstaben A nie hinaus.
Neben ihrer Enzyklopädie veröffentlichte die Gruppe von Zeit zu Zeit Flugblätter und Broschüren, um direkt zu aktuellen Auseinandersetzungen Stellung zu beziehen; so publizierte sie 1991 als »Alliance pour l’opposition à toutes les nuisances« auch den hier übersetzten Text.
Zu guter Letzt noch eine Anmerkung zur Übersetzung: Der Originaltext verwendet einige Begriffe und feststehende Wendungen, die dem situationistischen Sprachgebrauch und dem Denken der damaligen Zeit entstammen. Dazu gehören Formulierungen wie »décideurs « (übersetzt als »die Verfügenden«), »emploi de la vie« (»Gebrauch des Lebens«), »nuisances« (»Schädigungen «) oder »richesse confisquée« (»beschlagnahmter Reichtum«). Bei ihrer Übersetzung blieben unweigerlich gewisse Facetten der französischen Originalbegriffe auf der Strecke, da diese Begriffe keine allgemein geläufigen Entsprechungen im Deutschen haben.
Im März 2015
(1) Die Strecken des französischen Hochgeschwindigkeitszugs TGV führten bis dahin durch dünn besiedelte Ebenen. Die geplante TGV-Strecke Richtung Marseille und Nizza war die erste, die durch hügeliges und dicht bevölkertes Gebiet führen sollte.
(2) »Ab ovo«, in: Encyclopédie des Nuisances Nr. 14 (1989), S. 3–13.
(3) »Vorrede«, in: Encyclopédie des Nuisances Nr. 1 (1984), S. 3–10.