Die beste aller möglichen Welten
Obgleich die moderne Welt alles andere als glücklich ist (man denke nur an ihr umfangreiches pharmazeutisches Arsenal), kann sie doch einen unbestrittenen Erfolg namens »Konsensus« vorweisen. Denn es scheint gelungen zu sein, Mächtige, die bestimmen, was das Leben sein soll, und Arme, denen die Vorstellung dessen verloren gegangen ist, was das Leben sein könnte, in Gleichklang zu bringen in einer Art von bislang nur wenig gestörter Harmonie: etwa zwischen der Nahrungsmittelindustrie oder den Erzeugern von gepanschten Lebensmitteln und deren Konsumenten, die nichts anderes mehr zu schätzen wissen; zwischen Raumplanern, die bei der Zerstörung von Stadt und Land vor nichts zurückschrecken, und Bewohnern, die dort, wo sie leben, meist nichts hält außer ihrer Fesselung an irgendeine Arbeit; zwischen Technokraten, für die Länder und Landschaften nur dazu da sind, immer schneller durchfahren zu werden, und Verkehrsmittelbenutzern, die es immer eiliger haben, unerträglich gewordene Städte zu verlassen und dem Gedränge zu entkommen, indem sie sich massenweise in Bahnhöfe und Flughäfen und auf die Autobahnen stürzen … Kurz gesagt: Alles steht zum Besten in der »besten aller möglichen Welten«, solange man diese moderne Welt als die einzig mögliche betrachtet und sie ebenso wenig infrage stellt wie all ihre technischen Fortschritte; mit anderen Worten, solange niemand die schlichte Frage nach dem Gebrauch des Lebens stellt: Warum, zum Teufel, muss die Reisezeit permanent und um jeden Preis verkürzt werden, obwohl die Reise gerade durch ihre Umwandlung in reinen Transit umso länger erscheint und so eigentlich erst zu einer Quälerei wird? Derart, dass man heute in den TGV-Zügen – wie demnächst auch im Auto, in dem die Franzosen durchschnittlich drei Stunden pro Tag verbringen – das Fernsehen einführen muss im Bemühen, eben jene Langeweile zu zerstreuen? Die Entwirklichung der Reise wird vollends perfekt, wenn auf diesen Fernsehschirmen die Reize der durchfahrenen Regionen in Form touristischer Videoclips bewundert werden können…
Die lokalen Widerstandsgruppen gegen den geplanten Verlauf der TGV-Strecke, die sich im Südwesten Frankreichs gebildet haben, behaupten gewiss nicht, die Welt auf diese Weise wieder »auf die Füße stellen zu können«. Dazu werden mit Sicherheit andere Kräfte nötig sein. Doch gerade solche Gelegenheiten können dazu beitragen, diese Kräfte zu vereinen. Tatsächlich ist es das Verdienst dieser Gruppen, durch ihr bloßes Vorhandensein zu zeigen, dass Menschen – und zwar in größerer Zahl, als man es uns glauben machen will – nicht bereit sind, für einen schattenhaften »Fortschritt« Aspekte ihres Lebens aufzugeben, die ihnen keine technische Entwicklung je wieder zurückgeben kann. Und genau hier gerät die scheinbare Selbstverständlichkeit jenes sonderbaren »Gemeinwohls« ins Wanken, das aus dem Leid so vieler einzelner Menschen besteht. Damit sie zusammenbricht – zunächst an dieser Stelle und dann vielleicht auch an anderen –‚ darf sie nicht nur halb erschüttert werden. Denn wer als potenzieller Nutzer den »Argumenten« für den TGV zustimmt, ist natürlich in keiner guten Position, ihn als benachteiligter Anwohner abzulehnen. Im Gegenteil: Dadurch, dass man an anderer Stelle den famosen »Notwendigkeiten des modernen Lebens« insgesamt zustimmt, beraubt man sich selbst aller guten Argumente, den TGV abzulehnen – jedenfalls aller Argumente, die irgendjemanden interessieren könnten, der nicht unmittelbar an einer der geplanten Strecken wohnt.
Im 18. Jahrhundert sagte man: »Wenn Ihr es nicht versteht, frei zu sein, so versteht es zumindest, unglücklich zu sein!« (4) Die Entgegnung darauf muss ganz klar lauten: »Wenn wir nicht lernen wollen, unglücklich zu sein, sollten wir uns darauf verstehen, frei zu sein!« Hier wie anderswo auch besteht die vorrangig zu ergreifende Freiheit darin, all das zu verurteilen und zu entlarven, was einen Zwang in sein Gegenteil verkleidet und scheinbar liebenswert macht.
(4) «Peuples lâches, peuples stupides, puisque la continuité de l’oppression ne vous rend aucune énergie, puisque vous vous en tenez à d’inutiles gémissements lorsque vous pourriez rugir, puisque vous êtes des millions et que vous souffrez qu’une douzaine d’enfants armés de petits bâtons vous mènent à leur gré, obéissez! Marchez sans nous importuner de vos plaintes, et sachez au moins être malheureux, si vous ne savez pas être libres.» Guillaume-Thomas Raynal (1713–1796).