Wer schweigt, stimmt zu
Zuweilen wird behauptet, jede Gesellschaft basiere auf einem gemeinsam begangenen Verbrechen. Sicher ist, dass jede »ehrenwerte Gesellschaft« – jede Mafia – ihr Gesetz des Schweigens durchsetzt, indem sie so viele Menschen wie möglich in ihre Machenschaften verwickelt. Nicht anders gehen die Mafias des Fortschritts vor: Sie versuchen, uns auf die eine oder andere Art zu verwickeln und uns durch einen kleinen Vorteil, der uns zu Komplizen macht, in die Hand zu bekommen. Nach dem Muster der EDF-Werbung( 5), die behauptet, Atomkraftwerke seien in unser aller Interesse, da wir gelegentlich Kartoffelgratin zubereiten oder Bachs Musik hören wollen. Es geht darum, uns im Namen des Cui-prodest-Prinzips (6) zum Schweigen zu bringen: Wir ziehen offenkundig Nutzen aus dem Verbrechen, und so bleibt uns nur zu schweigen, da wir es nicht verhindert haben.
Die gesamte Propaganda für den TGV kann folglich auf zwei Trugschlüsse zurückgeführt werden – oder vielmehr auf einen einzigen, der nach Belieben umkehrbar ist: Was allen schadet, bringt trotzdem jedem persönlich einen Nutzen – aus allgemeinem Übel entspringt individuelles Wohl. Landschaften werden verwüstet, Dörfer und Kleinstädte werden unbewohnbar oder verschwinden; Güter wie die Stille oder die Schönheit, die niemandem gehören, werden uns genommen. Und erst im Nachhinein erkennen wir, wie sehr sie Gemeingut waren. Andererseits möchte jeder Einzelne zwei, drei Mal im Jahr Frankreich in ein paar Stunden durchqueren, sozusagen als »Kleinprofiteur des Fortschritts«. Er hängt also mit drin, lässt sich bestechen und nimmt sich damit die Möglichkeit, dazu Stellung zu beziehen, ebenso wie zur Lohnarbeit oder zur Ware, auf die er, wie sich täglich zeigt, nicht verzichten kann.
Auch in seiner Umkehrung bleibt dieser Trugschluss unwahr. Er lautet dann: Was einigen schadet, ist doch für alle von Nutzen – aus individuellem Übel entspringt allgemeines Wohl. Diese Variante wird immer dann benutzt, wenn irgendwo bestimmte real existierende Menschen – keine »Verkehrsteilnehmer« im Allgemeinen, diese Phantome der SNCF-Statistiken – sich dem Diktat der Raumplaner widersetzen. Welch ein unfassbarer Egoismus, beispiellos in einer Gesellschaft, die so einmütig dem universellen Interesse der Menschheit verpflichtet ist!
Diesen kläglichen Lügen zugrunde liegt das vorgebliche Interesse des »Beförderten« an immer höherer Geschwindigkeit. Doch wer hat denn – solange das Bedürfnis nach dem TGV noch nicht allen aufgezwungen worden ist – heute wirklich ein Interesse daran, schneller zu reisen? Just diejenigen, die mit allen Mitteln die Trostlosigkeit vorantreiben, jene Klientel, welche die SNCF dem Flugzeug abspenstig zu machen versucht. Für dieses standardisierte und konditionierte menschliche Frachtgut, diese »Turbo-Kader«, wie sie sich selbst nennen, soll der Großteil der französischen Städte wie Pariser Vororte behandelt werden.
Nur wer seine eigene Zeit auf dem Arbeitsmarkt teuer genug verkauft, hat auch ein Interesse daran, den vom TGV angebotenen Zeitgewinn zu kaufen. Obwohl hier einmal mehr die alte Klassengesellschaft abgewandelt aufscheint, gibt es einen großen Unterschied zur einstigen gesellschaftlichen Hierarchie: Die Inhaber dieser eher aufgenötigten als gewährten Privilegien der Mobilität erscheinen heutzutage kaum beneidenswert. Zumindest nicht jenen, die sich einen Rest Sensibilität bewahrt haben. Denn keine Fahrgeschwindigkeit wird je den Verlust der Zeit wettmachen, die zu Geld gemacht, als Arbeitszeit verkauft oder als Freizeit zurückgekauft worden ist. Ein Grund mehr, solche »Vorteile« abzulehnen, welche die einen ins Unglück stürzen, nur um den anderen ein trostloses Scheinglück zu ermöglichen.
(5) EDF (Électricité de France SA): die staatlich dominierte französische Elektrizitätsgesellschaft.
(6) »cui prodest«, auch »cui bono« (lateinisch): »Wem nützt es?« – die Frage nach dem Nutznießer eines Verbrechens.