Mobilis in mobili (7)
Auch wenn Mobilität noch immer etwas von ihrem früheren Prestige bewahrt hat, so versetzt sie doch niemanden mehr in die Lage, der Mobilisierung durch die moderne Ökonomie zu entkommen. Das, was die Bewegungsfreiheit versprach, wurde in der Tat zugleich mit der Möglichkeit zerstört, diese nicht zu nutzen: Die gleichermaßen zur Lohnarbeit, zur Suche nach einem Auskommen und zur organisierten Freizeit gezwungenen Menschen haben in diesem ökonomischen Wettlauf allesamt jeden Beweggrund verloren, einen Ort zu verlassen oder an ihm zu verweilen.
Die Bewegungsfreiheit war als Freizügigkeit einer der wichtigsten Gründe für den Umsturz despotischer Regimes. Doch am Ende sind es nun die Waren, die Bewegungsfreiheit genießen, während die Menschen, zu zahlenden Handelsgütern degradiert, von einer Ausbeutungsstätte zur anderen transportiert werden. Das Befreiungsversprechen, das aus der Tatsache erwuchs, sein Dasein nicht mehr gezwungenermaßen an einem einzigen Ort verbringen zu müssen, hat sich am Ende dieser Entwicklung in die bedauerliche Gewissheit verkehrt, nirgends mehr zu Hause zu sein und sich ständig woanders auf die Suche nach sich selbst machen zu müssen. Der TGV entspricht diesem letzten Stadium. Es liegt tatsächlich eine gewisse Logik darin, eine Landschaft so schnell wie möglich zu durchqueren, wenn daraus beinahe alles verschwunden ist, was es wert war, dort zu verweilen, und wenn deren parodistische Nachbildung jederzeit im Euro- Dysneyland [sic!] konsumiert werden kann, das zweckmäßig an einem Hauptknotenpunkt des Streckennetzes platziert wurde.
Die Menschen haben immer versucht, sich aus jener Abhängigkeit zu befreien, in der sie von den Mächtigen durch die Einschränkung der Freizügigkeit gehalten wurden. Schon die antiken Gesellschaften waren so weit zerfallen, dass Menschen den Reiz, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, den einengenden, wenn auch geregelten Lebensweisen vorzogen. Allerdings konnte das Bedürfnis, ein eigenes Leben zu erfinden und eigene Werte zu entwickeln, noch lange von der wirtschaftlichen Entwicklung absorbiert werden – einer Entwicklung, die technische Innovationen und eine größere soziale Mobilität mit sich brachte und bewirkte, dass die jüngeren Generationen überlieferte Traditionen infrage stellten. Erst als die Hindernisse in Gestalt verschiedener historischer Relikte aus dem Weg geräumt waren, zeigte sich, dass die immer schnellere wirtschaftliche Entwicklung einzig zu einem rasenden Verharren in der Selbstzerstörung der Gesellschaft führt.
Und erst dann entwickelte sich das starke Bedürfnis, anderswo nicht mehr Neues zu suchen, sondern gewissermaßen das Alte, nämlich das, dessen Verwüstung man zuvor am eigenen Wohn- und Lebensort erlebt hatte. So ist es kein Zufall, dass das Wort Flucht, welches das Entkommen von Sklaven, den Ausbruch aus dem Knast oder das freiwillige Exil osteuropäischer Dissidenten beschreibt, heutzutage auch gebraucht wird, um den allsommerlichen Run der Zivilisierten gen Süden zu beschreiben, raus aus den Städten und weg vom erschöpfenden Rhythmus der Lohnarbeit.
Auch wenn die individuellen Wege unter Umständen variieren mögen – von immergleichen Bahnen bis hin zu heimlichen Fluchten –, so sind die Bestimmungsorte dieser Gesellschaft, zu denen all diese Wege hinführen, doch überall auf der Welt austauschbar, und jeder Einzelne bleibt dem unterworfen. So betrachtet stellt die Geschwindigkeit nur einen zusätzlichen Zwang dar, eine schwachsinnige Illusion.
(7) Mobilis in mobili, lateinisches Motto der »Nautilus« von Jules Vernes Kapitän Nemo, deutsch ungefähr zu übersetzen mit »Beweglich im beweglichen Element«.