Die Netze der Tyrannei
Es ist inzwischen so weit, dass selbst die Urheber der Katastrophen die Schädigungen beklagen, die unser Leben erlitten hat. Sie versuchen, uns ihre entscheidende Rolle bei der Plünderung vergessen zu machen, indem sie in den Chor der Klageweiber einstimmen; ja sie bieten sogar wie Schutzgelderpresser ihre Dienste an, um scheinbar wiederherzustellen, was sie tatsächlich zerstört haben. Zudem vermitteln sie den Eindruck, dass – auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung offensichtlich allen entgleitet – dennoch niemand persönlich von ihr profitiere oder ein Interesse daran habe, dass dieser Wahnsinn weitergeht. Die Verschlagensten unter ihnen – man denke etwa an das politische Personal, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es in ihrem Interesse sei, sich ihm vollkommen auszuliefern und davon auszugehen, dass seine willkürlichen Entscheidungen dem Allgemeinwohl dienen – die Verschlagensten also sind schamlos genug, sich als ergebene Staatsdiener darzustellen, die unter widrigen Umständen und zum Wohle aller ihre Pflichten erfüllen. Wohlgemerkt sind das dieselben Leute, die das Militär schicken, wenn die Gesellschaft erwägt, einen anderen Weg als den ihren einzuschlagen. Erst vernichten sie die sich neu auftuenden Perspektiven und beteuern dann, dass nichts anderes möglich ist und es unverantwortlich sei, die Unterwerfung des gesamten Lebens unter den Imperativ ihrer Geschäfte infrage zu stellen.
Die Propaganda der Verfügenden nutzt eine breite Palette von Lügen, um die TGV-Strecke durchzusetzen und die eigenen, profanen Interessen daran zu verschleiern. Sie stützt sich zum Teil auf alte Lügen, um neue zu konstruieren, und macht so sowohl die Willkür dessen deutlich, was sie voraussetzt, als auch die unglaubliche Dummheit der Schlussfolgerung, zu der sie gelangt: Wenn man nämlich glaubt, dass eine Gesellschaft ohne Wirtschaft nicht möglich ist, und wenn man weiterhin annimmt, dass die Wirtschaft ohne TGV zugrunde gehen würde, so folgt daraus zwingend der Schluss, dass eine Gesellschaft ohne TGV nicht möglich ist. Hier liegt der neuralgische Punkt des Konflikts um die Hochgeschwindigkeitsstrecke, da deren Gegner aus gutem Grund vom Gegenteil überzeugt sind: nämlich davon, dass die Gesellschaft unter den Hieben dieser Art von Raumplanung zerfällt. Im Grunde geht es in solchen Konflikten um die Frage nach der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bevölkerung, ob diese Abhängigkeit vertieft oder infrage gestellt wird. Dennoch ist es von Nutzen, genau zu untersuchen, wie sich die Scheinargumente der Pro-TGV-Propaganda in diesem Fall zusammensetzen.
Es handle sich zunächst, gemäß dem aktuellen Ökotrend, um das Transportmittel, das am wenigsten Energie verbrauche und am umweltfreundlichsten sei. Doch ist es für niemanden ein Geheimnis, dass zum Erreichen höherer Geschwindigkeiten zwangsläufig mehr Energie nötig ist – und dass der Atomstrom, den der TGV nutzt, eine Verbesserung der Umwelt darstellt, an der die Bewohner dieses Planeten noch lange zu knabbern haben werden. Wir haben es hier mit dem gängigen Verfahren zu tun, Gegebenheiten einander vergleichend gegenüberzustellen, obwohl sie sich objektiv ergänzen und miteinander verbunden sind. Es gibt keine echte Konkurrenz zwischen Straße, Schiene und Flugzeug, sondern eine gleichzeitige und koordinierte Entwicklung. Die Autobahnen sind verstopft von Warentransporten oder Urlauberkolonnen und das Flugzeug ist auf Mittelstrecken schneller – damit ist der TGV zu einer Funktion als Super-Vorortzug verurteilt, der so die Suburbanisierung des Landes vollendet. Im besten Fall profitieren einige Ballungsräume, im schlimmsten Fall nur die Pariser Region, deren Wachstumsraten – ohnehin schon höher als im Rest des Landes – durch dieses neue zentralisierte Verkehrsnetz mit Sicherheit noch weiter steigen werden.
Im Namen des stets notwendigen Wachstums – das per definitionem nie erfolgen kann, da die Konkurrenz in jeder neuen Runde des Wettbewerbs das im vorhergehenden Stadium penibel austarierte Gleichgewicht an Arbeitsplätzen etc. wieder infrage stellt – versuchen die Raumplaner immer brutaler, dem Antlitz der Erde ihren monomanischen Wahn aufzuprägen.
Sie sprechen von positiven wirtschaftlichen Effekten, auch wenn Beispiele wie Creusot-Montchanin an der TGV-Linie Paris–Lyon, dessen Reichtum in einem einsamen, neo-vorstädtischen Parkplatz besteht, eine andere Sprache sprechen. Sie zwingen jahrhundertealte Kulturlandschaften unter den ballistischen Imperativ des Schnellverkehrs und »begradigen« Regionen, indem sie diese auf die Erfüllung weniger Funktionen reduzieren. Als Krönung wollen sie uns alle die lächerliche Wunschvorstellung von einem Frankreich glauben machen, das dank TGV die Organisation eines europaweiten Transportsystems übernimmt, auf dass die positiven wirtschaftlichen Effekte, ebenso üppig wie illusorisch, auch das Leben der Anrainer Frankreichs verschönern mögen.
Was Bauvorhaben der öffentlichen Hand betrifft, so hat die sogenannte Staatsmacht in der Tat aber sowohl ihr Monopol als auch die Entscheidungshoheit verloren: In immer engerer Symbiose mit der Hoch- und Tiefbaumafia besteht ihre Aufgabe nur noch darin, von der Betonlobby konzipierte, pharaonenhaft anmutende Projekte aller Art der öffentlichen Meinung so zu verkaufen, als handle es sich dabei um Antworten auf tatsächlich vorhandene gesellschaftliche Bedürfnisse. Aus diesem abgekarteten Spiel zwischen »Privatwirtschaft« und »öffentlicher Hand« entsteht jene Verkehrung, welche die Bedürfnisse der Gesellschaft verändert und verfälscht, indem sie diese ständig neuen, aufgezwungenen Maßnahmen unterzieht. Die mächtigen Interessengruppen der Bau- und Betonbranche, der Zementindustrie und des Schwerverkehrs sind zu Finanzmonstern geworden, die von Jahr zu Jahr nach höheren Auftragsvolumen verlangen. Daher müssen sie die Verfügenden – die ihrerseits danach gieren, sich durch irgendeine architektonische Großtat oder einen grandiosen Technologiepark hervorzutun – immer dringender und zwingender mit neuen, größenwahnsinnigen Projekten versorgen. Und es ist unbestreitbar, dass sich das professionelle Know-how im Hoch- und Tiefbauwesen zumindest in einem Bereich beträchtlich vergrößert hat: in der Kunst der Überredung. Die Branche hat es geschafft, sich den politischen Entscheidungsträgern, den Verfügenden, unentbehrlich zu machen, vor allem, indem sie ihnen verlässlich ihre Dienste anbietet, gleichgültig, ob diese nun sinnvoll oder unsinnig sind.
Die Art, wie diese Menschen beeinflusst werden und ihr Tun gelenkt wird, hat etwas von einer Schmierenkomödie und könnte Anlass zum Schmunzeln geben. Es gibt sogar Abgeordnete, die sich im Parlament gegenseitig vorwerfen, ihre Stimmen mit dem Versprechen von Umgehungsstraßen erkauft zu haben (vgl. Le Monde, 21. Juni 1991). Doch es erwächst eine dramatisch unumkehrbare Situation aus dieser Posse um die Macht, in der Ränkespiel und raffgierige Lüge miteinander wetteifern.
Um hier nur einmal die Bedrohung durch eine katastrophale Erwärmung des Planeten infolge des Treibhauseffekts zu nennen, zu dem der Energieverbrauch der Verkehrsmittel aller Art und der Industrien, die sie produzieren, wesentlich beiträgt. Alle offiziell anerkannten Experten sehen in seltener Einmütigkeit eine drastische Veränderung der Produktionsmethoden als einzige Möglichkeit, um die Klimaveränderung – hoffentlich – um die Mitte des 21. Jahrhunderts stabilisieren zu können. Und gleichzeitig halten andere, auf ihre Weise »kompetente « Spezialisten an ihrem einzigen Ziel fest: aufgrund anderer Erfordernisse (Einzelinteressen in der Industrie, nationale Interessen einzelner Staaten, persönliche Karriereinteressen der Politiker) den Energieverbrauch ungebrochen weiter ansteigen zu lassen. Wenn die Raumplaner vom Allgemeininteresse sprechen, dann ist dies die Gelegenheit, dem verheerend allmächtigen Netzwerk aus abgehalfterten Lokalpolitikern, bornierten Vertretern von Einzelinteressen und vollautomatisierten Technokraten den öffentlichen Diskurs darüber zu entreißen – insbesondere den über den Transportbedarf.
Das einzige Allgemeininteresse, das am Ende dieses Jahrhunderts eines öffentlichen Diskurses wert ist, ist der Versuch, die Verwüstung unserer Lebenswelt zu stoppen, und nicht die Ersparnis einiger Minuten Reisezeit durch das Rhonetal. Und das einzige Wachstum, das unserer Aufmerksamkeit wert ist, ist das qualitative Wachstum des menschlichen Daseins, das allein einen Ausweg aus dieser finsteren ökonomischen Vorgeschichte ermöglicht.