Nachwort der Herausgeberin
Bis heute rufen technische Großprojekte Widerstände bei Teilen der direkt betroffenen Bevölkerung hervor. Vordergründig geht es dabei nur um das konkrete Vorhaben, andere Bereiche des Lebens werden nicht infrage gestellt. Bei vielen Beteiligten schwingt jedoch die Ahnung mit, dass mit der modernen Welt mehr im Argen liegt als nur dieser eine Stein des Anstoßes. Die Emotionalität, mit der zum Beispiel die Menschen angesichts des Stuttgart- 21-Projektes plötzlich einen alten Bahnhof verteidigten, von dem vorher nie bekannt geworden wäre, dass sie an ihm besonders hingen, lässt ein Unbehagen erkennen, dessen Ursachen sich längst nicht auf die Zerstörung eines Bauwerks beschränken.
Solange dieses Unbehagen jedoch über die Form eines vagen Gefühls nicht hinauskommt und sich seiner selbst nicht bewusst wird, bleibt es ohnmächtig und kann von der Herrschaft, den décideurs, strategisch eingebunden und dadurch neutralisiert werden.
Auf diese Weise hatten auch in Stuttgart die Politstrategen – und zwar aufseiten der Projektbetreiber wie auch aufseiten der Kritiker – ein leichtes Spiel, als sie beanspruchten, die gefühlsmäßige Ablehnung der Bevölkerung in »sachliche Argumente« zu überführen und damit politikfähig zu machen. Mit den von Heiner Geißler, CDU-Politiker und Attac-Mitglied, moderierten sogenannten Schlichtungsrunden wurde der Protest von der Straße in Expertengremien verlagert. Dort wetteiferten professionelle Stuttgart-21-kritische Fachleute – vermeintlich »auf Augenhöhe« – mit jenen der Bahn, um zu beweisen, dass Leistungsfähigkeit, Energieeffizienz, Kosten-Nutzen- Relation und dergleichen des geplanten Tiefbahnhofs bei Weitem nicht so positiv ausfallen wie von den Projektbetreibern behauptet.
Das Eintrittsticket in solche rein faktenorientierten Debatten besteht freilich darin, die Voraussetzungen nicht anzutasten, auf denen die Argumentation der Projektbetreiber in Politik, Wirtschaft und Medien beruht: Es muss Wirtschaftswachstum geben, »unsere Region« muss wettbewerbsfähig bleiben, es müssen Arbeitsplätze geschaffen werden. So ist sichergestellt, dass, egal wie die Verhandlungen ausgehen, in dieser Hinsicht alles beim Alten bleibt und der Bevölkerung einmal mehr nur die Zuschauerrolle bleibt.
Der vorliegende Text über die »Tyrannei der Geschwindigkeit « ist im Grunde nichts anderes als eine Selbstaufklärung des erwähnten Unbehagens in der modernen Zivilisation. Fast alle Argumente, die er gegen den TGV vorbringt, lassen sich genauso gut gegen Stuttgart 21 und andere aufgezwungene Großprojekte einwenden. Er setzt die Unvernunft des konkreten Vorhabens mit der allgemeinen Unvernunft einer Gesellschaft in Beziehung, deren ökonomisches Bewegungsgesetz den immer schnelleren Umschlag von Waren, Dienstleistungen, Informationen und nicht zuletzt Menschen zwingend erfordert. Damit gehen die Autoren weit über die Position derjenigen hinaus, die zwar den in Stuttgart geplanten Tiefbahnhof ablehnen, in ihrer herrschaftskonformen Detailkritik aber alle anderen Begleiterscheinungen des modernen Lebens nicht infrage stellen.
Die »vorläufige Aufstellung« bestärkt all jene, die gegen Stuttgart 21 Widerstand leisten – oder gegen eines der zahllosen anderen unsinnigen Projekte, die den gesellschaftlichen Reichtum verzehren und unser aller Leben enteignen. Sie ermuntert dazu, das Bewusstsein für gesellschaftliche Zusammenhänge und die eigene Rolle in der Gesellschaft weiter zu schärfen. Und vielleicht kann sie auch dazu beitragen, dass immer mehr Zuschauer endlich auch praktisch damit beginnen, »sich die Gegenwart wieder anzueignen«.
Redaktion Tunnelblick, im März 2015