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Zwischenzeiten

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I.

Anicus Manlius Torquatus Severinus Boethius stand auf der Grenze zwischen den Zeitaltern. Er wußte, daß die Welt, in der er aufwuchs, dem Untergang geweiht war und daß die heraufziehende neue Welt nicht die seine sein würde. Aus dem Hause der Anicier, einer altehrwürdigen römischen Senatorenfamilie, war er einer der letzten in der langen Reihe derer, die ihre Bildung in der platonischen Akademie zu Athen empfingen, bevor diese im Jahre 529 vom christlichen Kaiser Justinian geschlossen wurde. In Ravenna regierte der Gote Theoderich, einer jener germanischen Heerführer in römischem Dienst, die in der Spätantike immer mächtiger und unabhängiger geworden waren. Offiziell war er vom Kaiser zu Byzanz zum Statthalter über Italien berufen, de facto herrschte er aus eigener Machtvollkommenheit. Theoderichs Königtum war von merkwürdiger Zwittergestalt; das Heer wurde von gotischen Kriegern gestellt, aber die zivile Verwaltung war nach wie vor römisch.
Boethius, jeder Romantik abhold, versucht sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und als Vermittler zu wirken. Seine erste mittlerische Tätigkeit war die des Übersetzers. Angesichts des Zerfalls des römischen Universalreichs, der den regelmäßigen Austausch zwischen dem griechischsprachigen Osten und dem lateinischen Westen nicht länger gesichert erscheinen ließ, war dies eine notwendige Arbeit, um den Zentralbestand der griechischen Philosophie für das Abendland zu erhalten. "Ich werde jedes Buch des Aristoteles, das mir nur in die Hände kommt, und sämtliche Dialoge Platons ins Lateinische übertragen", so sein ehrgeiziges Projekt, das, wenngleich unvollendet, Epoche machen sollte. Wenn wir heute "Subjekt" sagen, oder auch "Spekulation", "definieren" oder "Prinzip", gebrauchen wir Worte, die von Boethius geprägt wurden. Er verknüpfte diese alten lateinischen Begriffe mit einem griechisch-philosophischen Sinn und gab ihnen so eine neue Bedeutung.
Der zweite Vermittlungsversuch des Boethius fand in der Sphäre der Politik statt. Als Berater am Hofe bemühte er sich, das fragile Gleichgewicht zwischen den widersprüchlichen Elementen zu erhalten, auf denen die Herrschaft Theoderichs beruhte, die dem gebeutelten Italien inmitten der Wirren für einige Jahrzehnte Frieden gebracht hatte. Ein Geschäft, das auf die Länge schwer gut gehen konnte: Goten und Römer brauchten einander zwar, aber sie mißtrauten sich zutiefst. So war es absehbar, daß die Situation sich über kurz oder lang nach einer Seite hin auflösen würde: entweder Restauration der römischen Herrschaft oder Germanentum sans phrase. Nicht schwer auszudenken, mit welcher Lösung Boethius sympathisierte. Im Jahre 523 wurde gegen ihn der keineswegs unplausible Vorwurf der Konspiration mit Byzanz gegen Theoderich erhoben. Nachdem ihn seine Senatskollegen und mutmaßlichen Mitverschwörer in Rom im Stich gelassen hatten, verurteilte ihn der König zum Tode.
Im Kerker auf seine Hinrichtung wartend, schrieb er das Buch Consolatio Philosophiae - Trost der Philosophie. In diesem erscheint Philosophia in Gestalt einer schönen Dame in der Zelle des Verdammten, um seine Tränen zu trocknen und seinem aufgewühlten Geist Frieden zu schenken. Nicht klagen solle er über den Verlust weltlicher Güter wie Reichtum, Ehre und Macht, denn diese seien unbeständig und gewährten doch nur einen scheinhaften Genuß. Nicht nach Äußerem solle der Mensch streben, um Befriedigung zu finden, sondern besinnen müsse er sich auf sich selbst. Im eigenen Inneren, im Wissen um ihre einzigartige Fähigkeit zur Reflexion, finde die menschliche Seele ihren wahren Schatz und wirklichen Schmuck, der sie der Gottheit selbst ähnlich mache. Gerade in der Fähigkeit, von allem Konkreten, Materiellen zu abstrahieren und sich in andere Sphären aufzuschwingen, erkennt Boethius angesichts des verworfenen Weltzustands die Freiheit des menschlichen Geistes. In dieser Untergangsepoche, als der reale Handlungsspielraum des Individuums zusammenschrumpfte, fand dieses, durch Wendung der Reflexion auf sich selbst, zu einem deutlichen Bewußtsein seines Wesens und seiner potentiellen Macht. In Boethius' Werk findet sich die erste Definition von "Person" in der philosophischen Literatur: "Person ist die individuelle Substanz einer vernunftbegabten Natur".
Während Boethius nichts blieb, als seinen Untergang zu verklären, ging Cassiodor, sein Amtskollege an Theoderichs Hof, einen Schritt weiter. Zunächst zeichnete er sich durch mehr diplomatisches Geschick aus: Nachdem Boethius hingerichtet worden war, hielt er eine offizielle Lobrede auf dessen Ankläger. Trotzdem blieb er dem gemeinsam begonnenen Werk treu. Sein Beitrag zur Vermittlung des Alten mit dem Neuen blieb jedoch nicht mehr auf dem Boden der Antike, es war ein wirklicher Neubeginn. Cassiodor verließ Ravenna und den Königshof, kehrte Welt und Politik den Rücken, um sich in die Abgeschiedenheit Süditaliens zurückzuziehen, wo er das Kloster Vivarium gründete. Mit im Gepäck befand sich seine umfangreiche Privatbibliothek. Und er war es, der in seinem Ordenshaus den mönchischen Brauch des Übersetzens und Abschreibens klassischer Texte begründete. Er erfand so eine organisatorische Form, dank der der Geist in ihm zunehmend feindlichen Zeitläufen überleben konnte - als verschworene Gemeinschaft, die mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitztum der Wahrheit zu hüten hat. War Boethius der letzte Römer, so war Cassiodor der erste Mann des Mittelalters.

II.

Im Jahre 432 unserer Zeitrechnung, als das römische Empire seinem Ende entgegenging, begab Bischof Patrick sich an Bord eines Schiffes, das ihn nach Irland brachte. Die Insel am Rande Europas, so entlegen, daß die Römer es nicht der Mühe wert befunden hatten, sie zu erobern, wurde von einem wilden Volk bewohnt, das von Viehzucht und Sklavenhandel lebte. Der heilige Patrick brachte ihm die Frohe Botschaft des Jesus von Nazareth. Er nahm den Keltenkriegern die Furcht vor den Geistern des Waldes und erläuterte ihnen mit Hilfe eines Kleeblatts die dialektische Figur der Dreieinigkeit. Unterdessen löste sich die Zivilisation in Rauch und Chaos auf. In manchen Grenzregionen begrüßten die von den kaiserlichen Steuereintreibern ausgeplünderten Bauern die Barbaren als Befreier und begleiteten sie auf ihren Raubzügen ins römische Kernland. Aber mit dem Imperialismus der Caesaren - von Hippolytos als das teuflische Inversbild der christlichen Einheitsidee auf den Begriff gebracht - endete auch die geistige Welt, die ein Jahrtausend früher in der griechischen Polis ihren Anfang genommen hatte. "Die Bibliotheken, wie Gräber, wurden geschlossen für immer." (Amminianus Marcellinus)
Während ganz Europa von den germanischen Invasoren heimgesucht wurde, boten die neu gegründeten irischen Klöster eine Zufluchtsstätte für Mönche aus aller Welt. Aus fernen Provinzen des ehemaligen Reichs kamen sie, Schiffbrüchige einer untergegangenen Zivilisation. So wurde Irland "die Insel der Heiligen und Gelehrten". In den Scriptorien der Klöster schrieben die keltischen Mönche ab, was die dem Untergang Entkommenen an Zeugnissen der Vergangenheit hatten retten können. Ihrem unermüdlichen Eifer allein ist es zu verdanken, daß die lateinische Literatur kommenden Generationen überliefert wurde.
Natürlich konnten die Kopisten selbst mit dem, was sie bewahrten, wenig anfangen. Nachdem die Welt verschwunden war, deren geistigen Ausdruck die Buchstaben festhielten, verwandelten sich diese in Hieroglyphen. Wenig von dem, was ein Cicero oder Augustinus verhandelte, war auf der entlegenen Insel, die keine Städte kannte, von irgendeiner praktischen Bedeutung. Wie borniert und starrköpfig der Weltgeist wurde, als er für eine Zeitlang gezwungen war, bei den Kelten Quartier zu nehmen, mag die Synode von Whitby im Jahre 664 verdeutlichen, auf der es die Iren um ein Haar zu einem großen Schisma mit den englischen Christen hätten kommen lassen, weil diese - das Osterfest ein paar Tage später feierten.
Aber das schmälert nicht ihren Heroismus. Wenige Generationen später, als sich auf dem Kontinent die Wogen etwas geglättet hatten, sandten die irischen Klöster ihre Emissäre aus, um über das germanisierte Europa den Geist des Christentums zu verbreiten. Überall pflanzten sie ihre Stützpunkte in die Wildnis - Lumièges, Auxerre, Reichenau, St. Gallen, Salzburg, Wien, Bobbio, Fiesole, Lucca, um nur einige der Wichtigsten zu nennen -, aus denen einmal eine neue Zivilisation hervorgehen sollte.

III.

Im Ausgang des 18. Jahrhunderts kursierten in Deutschland zahlreiche mehr oder weniger aufklärerische Magazine. Es gab u.a. Wielands Teutschen Merkur, später Neuer Teutscher Merkur, Schillers Musenalmanach und Thalia, Biesters und Gedikes Berlinische Monatsschrift, später Berlinische Blätter, dann Neue Berlinische Monatsschrift, Hissmanns Magazin für die Philosophie und ihre Geschichte, Lichtenbergs Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, Reichhards revolutionär- demokratische Frankreich und Deutschland, Rebmans Geißel, die revolutionsfeindliche Eudömonia und Hennings Genius der Zeit. Gerade hatten die Franzosen durch ihre Revolution das Gerede von der Humanität des kommenden Zeitalters praktisch widerlegt. Die Deutschen - für eine Revolution meistens untauglich - verlegten sich daher von vornherein auf die Publizistik. Inhaltlich wurde die Szene damals von der Auseinandersetzung zwischen Illuminaten und Rosenkreuzern, bzw. Klassik und Romantik beherrscht. Allerdings traten diese beiden Seiten selten rein für sich auf und die meisten Köpfe waren konfus und innerlich zwischen den beiden nicht besonders bewussten Polen gespalten. Der Konflikt verlief daher meistens quer durch die verschiedenen, durch persönliche Bande zusammengehaltenen Zirkel und es war durchaus möglich, daß der Romantiker Schlegel im Hause Goethes ein- und ausging, oder daß einzelne Personen auch schlicht die Fronten wechselten: Fichte mutierte - nachdem er von der weimarer Illuminatenfraction geschaßt worden war - vom glühenden Vertreter der Vernunft zu einem frühen Vertreter der später sogenannten Hitlerpartei. Auch Herder durchlief solche Schwankungen. Man kann daher nicht sagen, daß diese Zeit für die gegenwärtigen Literaturforscher sehr einfach zu begreifen ist. Dies um so mehr, als der an der Oberfläche erscheinende Konflikt von Revolutionsbefürwortern und Revolutionsablehnern nicht den wirklichen Konflikt zwischen Aufklärung und Aberglauben spiegelt und sich in beiden Parteien jeweils beide Meinungen zu diesem Gegenstand finden.
Selbstverständlich versuchten die bewußten Vertreter der Aufklärung das konfundierte Publikum in ihrer Hinsicht zu vereinen. Den zahlreichen, heterogenen Journalen sollte mit den Horen ein Zentralorgan entgegengesetzt werden. Dies war umso wichtiger, als mit dem Untergang der Illuminaten die Aufklärer ihrer politischen Organisation beraubt waren. Der neuerlichen Dissoziation sollte wieder die Assoziation entgegentreten - und was eignet hierfür besser als zunächst ein Journal. Ziel war es, die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in einem Organ zu sammeln, um so auch das vorher geteilt gewesene Publikum zu vereinen. Insbesondere war der Plan Schillers - welcher das neue Magazin herausgab - "alle Journale, die das Unglück haben, von ähnlichem Inhalt mir den ‚Horen' zu sein", zu Fall bringen. Insbesondere Wielands Merkur - zwar einst ein großartiges Organ der Aufklärung, aber inzwischen etwas fade geworden - sollte verschwinden. Tatsächlich gelang es, zahlreiche Figuren des deutschen Geisteslebens zu sammeln; darunter Herder, Jacobi, Schiller selbst, Goethe, Hölderlin, Wilhelm von Humboldt, Schlegel und Fichte. Indem die Werbung für dieses Organ das bislang auf dem Zeitschriftenmarkt Übliche weit übertraf, gelang es auch, eine ungewöhnlich hohe Auflage von 2300 Exemplaren pro Heft des ersten Jahrgangs unter das Publikum zu bringen. Die Horen vermochten es aber nicht, sich langfristig auf dem Markt zu bewähren. Insbesondere Schillers und Fichtes Stil erschien den Zeitgenossen unleserlich und spekulativ. Wenn auch Schiller versuchte, allein Fichte dem Nimbus des Unverständlichen anzuhängen, um so den Verdacht von sich selbst abzulenken, sank doch die Auflage schnell auf 1000 Exemplare. Die Zeitung wurde schließlich sang und klanglos eingestellt. Da sie selbst nicht als Schauplatz von Entgegnungen auf die zumeist negative Rezeption dienen sollte, veröffentlichten Schiller und Goethe daraufhin im Musenalmanach für das Jahr 1797 zahlreiche Zweizeiler gegen das Publikum, welches dadurch nicht leidlicher wurde; die beiden späteren Säulenheiligen der deutschen Aufklärung galten daher damals recht allgemein als "Sudelköche von Jena und Weimar". Selbst der alte Illuminat Wieland konnte sich seinen Ärger über die von den beiden Freunden forcierte Spaltung der Gelehrtenrepublik nicht verkneifen.
Allerdings war der Untergang der klassischen Horen kein Sieg der romantischen Gegenseite. Der Gebrüder Schlegels Athenäum währte auch nur drei Jahre. Vielmehr setzte sich in Deutschland die Lethargie des Publikums durch.

In der Gegenwart haben alle Magazine das wahrscheinliche Schicksal, ignoriert zu werden. Den jeweiligen Herausgebern bleibt daher nichts anderes übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, daß ihr Produkt zunächst nichts ist als ein aufwendig gemachtes Tagebuch, welches immerhin einem kleinen Kreis zur Verfügung steht. Insbesondere befreundete Menschen werden sich im Zweifel spröde zeigen. Zwar ist es möglich mit Werbung bis zu 2000 Exemplare in Hochglanz zu verbreiten, aber die Erfahrung zeigt, daß diese Publikationen nicht gelesen und noch weniger diskutiert werden. Verbreitet sich eine Schrift nicht von selbst - spricht man über sie also nicht am Küchentisch - so muß sie eingehen. Auf Werbung sollte man daher weitgehend verzichten, wie auf den Glanzdruck und statt dessen besser darauf vertrauen, daß eine Publikation ihre Leserinnen schon von selbst finden wird, wenn sie nur taugt. In seltenen Fällen entpuppt sich eine von den unmittelbaren Zeitgenossen ignorierte Zeitschrift immerhin als nützlich für die Nachgeborenen. Normalerweise liegt die Ignoranz aber an ihrer mangelnden Qualität. Trotzdem muß man darauf achten, daß vernünftige Gedanken von den Zeitgenossen auch deshalb abgelehnt werden, weil sie vernünftig sind.

IV.

Im 18. Jahrhundert war England von einer großen Zahl protestantischer Sekten bevölkert. Sie bildeten eine buntscheckige Untergrund-Szenerie jenseits der offiziellen Anglikanischen Kirche, mit geheimen Treffen, gewissenhafter Schriftlektüre, fieberhafter Suche nach der reinen Lehre, kollektiven Ekstasen und Erweckungserlebnissen, charismatischen Wanderpredigern, aufrüttelnden Pamphleten, internen Querelen, Ausschlüssen, Spaltungen, Neugründungen, Konversionen, Versuchen zu Wiedervereinigung und dergleichen mehr. Diese Strömungen gingen auf die letzte große Welle gesellschaftlicher Kämpfe zurück, die das Land in der Zeit der Bürgerkriege im 17. Jahrhundert erschüttert hatten. Die Akteure der damaligen Auseinandersetzungen hatten sich ihre sozialen Gegensätze in einer religiösen Sprache bewußt gemacht, wie es in ihrer kaum dem Mittelalter entwachsenen Zeit nicht anders denkbar war. Nach dem Abflauen der Stürme blieben die Sekten zurück, die jedoch, von den Bewegungen getrennt, deren adäquater ideologischer Ausdruck sie einmal gewesen waren, eine merkwürdig sterile, unwirkliche Existenz führten. Dennoch hielten sie sich während der langen Zeit der Flaute recht hartnäckig, bis dann die Anfänge der großen Industrie und das externe Fanal der französischen Umwälzung ein neues Zeitalter der Klassenkämpfe einläuteten, welche nunmehr in rein weltlichen Begriffen geführt wurden und die religiösen Sektierer von der historischen Bühne verbannten. Trotz ihrer Unzeitgemäßheit dürfen diese jedoch für sich beanspruchen, an der Vorbereitung der neuerlichen Unruhen nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. So abwegig ihre Lehren, so nichtig die Gründe ihrer Fraktionsstreitigkeiten, so fehlgeleitet ihr Eifer auch war, so lernten in diesen Gemeinschaften doch Angehörige der arbeitenden Klassen zum ersten Mal zu lesen, zu schreiben, dem Schnaps zu entsagen, zu debattieren, vor Versammlungen zu sprechen, Kontakte mit anderen Städten zu knüpfen, unabhängig von äußeren Autoritäten Brüderschaften zu bilden. Auch wurden in den Mythen von Old Corruption, der Hure Babylon und dem Neuen Jerusalem ein rudimentäres Bewußtsein von der Wünschbarkeit einer vernünftigeren Welt aufrecht erhalten.

Ganz ähnlich sieht das Verhältnis der Überbleibsel der proletarischen Erhebungen des 20. Jahrhunderts zur Revolution der Zukunft aus. Jedes der Grüppchen, die heute ihr museales Wesen führen, beruft sich auf eine bestimmte Fraktion oder Episode längst vergangener Kämpfe, deren damals essentiellen Frontstellungen und Positionierungen heute ohne jeden praktischen Belang sind. Der nächste Anlauf wird sie beiseite schieben; er wird die Erfahrungen aller vergangenen Versuche in sich aufnehmen und völlig verwandeln, statt sich auf eine bestimmte, partikulare Tradition zu beziehen, welche die Sekten immerhin aufbewahren.

V.

In den Jahren ab 1830 stellte sich heraus, daß die bürgerliche Klasse zum Herrschen nicht taugt. Hatte sie es 1789ff. noch vermocht, im Namen eines dritten Standes zu operieren, dem alle angehörten, die nicht gerade dem Adel oder Klerus zugehörten, erwies es sich doch, daß die wirkliche Spaltung der Neuzeit sich innerhalb dieses Standes selbst vollzieht. Die französische Revolution hatte Ideen hervorgetrieben, welche über die Idee des ganzen alten Weltzustandes hinausführen. Die revolutionäre Bewegung, welche 1789 im Cercle social begann, in der Mitte ihrer Bahn Leclerc und Roux zu ihren Hauptrepräsentanten hatte und endlich mit Babeufs Verschwörung unterlag, hatte die kommunistische Idee hervorgetrieben, welche Babeufs Freund, Bounarotti, nach der Revolution von 1830 wieder in Frankreich einführte. Diese Idee begann sich außerdem einen Körper zu geben. In England gab es die Chartisten und ihre Idee des zur Revolution führenden Grand National Holiday. In Lyon mußten 1831 und 1834 Arbeiteraufstände der Seidenweber blutig niedergeschlagen werden, wenn diese sich auch noch im Namen der kleinen Meister gegen das von einigen Handelskapitalisten beherrschte Verlagssystem richteten. Auch in Deutschland gab es einen Aufstand der schlesischen Weber und einige Hungerkrawalle in Berlin, 1847.
Das Gespenst des Kommunismus ging also durch Europa, so daß die Bourgeoisie es 1848 nicht mehr wagte, das Volk gegen die feudalen Mächte zu mobilisieren. Dort, wo die Arbeiter trotzdem aufstanden - wie in Paris -, wurden sie niedergemetzelt. Die politische Machtübernahme der Bourgeoisie mußte so ohne Truppen auskommen und mißlang vollständig. Statt dessen kristallisierte sich der moderne Staat heraus, welcher sich über den Klassengegensatz erhaben wähnt, wiewohl er das Eigentum durch das Recht gewährt und durch die Polizei schützt. Die politischen Führer der Revolution von 1848/49 fanden sich - ihrer effektiven Ungefährlichkeit zum Trotz - schnell im Exil wieder. In London tummelten sich damals insbesondere zahlreiche Deutsche, die um die Führerschaft der "Armee der Zukunft" stritten, welche - aus dem Nichts erscheinend - die europäischen Verhältnisse ihren abstrakten Ideen gemäß revolutionieren sollte. Währenddessen kümmerte sich die wirkliche Welt immer weniger um solche verfaulten Produkte der Aufklärung.
Die beiden Freunde Karl Marx und Friedrich Engels gefielen sich eine Weile lang darin, den radikal-demokratischen Flügel der Bourgeoisie zu bilden, spotteten dann aber über ihre scheinbaren Bundesgenossen und publizierten eine kleine Abrechnung (Die großen Männer des Exils), welche illegal vertrieben wurde. Das Buch stieß auf keinerlei nennenswerte Reaktion der 48er, die sich so als absolut identisch mit ihrem im Buch gezeichneten Begriff erwiesen und heute folgerecht vergessen sind. Andererseits war das Proletariat dieser Zeit nicht viel mehr als ein Gespenst: Zwar gefürchtet, aber doch noch sehr imaginär. Dergestalt isoliert hatten die beiden schon 1847 dem Bund der Kommunisten ein kleines Programm geschrieben. Witzigerweise wird in diesem Programm eines Geheimbundes das Ende der Geheimbünde ausgesprochen: Diese Partei bildete sich niemals ein, sie sei imstande, jene Revolution, die ihre Ideen verwirklichen sollte, zu jedem beliebigen Zeitpunkt nach Willkür hervorzurufen Nach 1848 erforschten Marx und Engels stattdessen die Ursachen, welche die jüngste revolutionäre Erschütterung hervorgerufen hatten, sowie die Ursachen, die ihrem Mißerfolg zugrunde lagen. Die zukünftige Entwicklung wurde dabei den sich organisierenden unmittelbaren Produzenten zugeschrieben, welche in den kommenden 100 Sonnenumläufen tatsächlich einige Revolten versuchen sollten.

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