Inhaltslose Gewalt und berechtigter Protest
Die Bundesrepublik scheint sich auf ein neues Feindbild geeinigt zu haben. Von den Identitären über die CDU, SPD und Grüne, bis zur Linkspartei und der Interventionistischen Linken – alle schimpfen sie seit dem G20-Wochenende wutschnaubend über linksextreme Steineschmeißer. Die einen fordern jetzt Law and Order und harte Strafen, den anderen ist die Sache etwas peinlich und sie beeilen sich, in der Öffentlichkeit klar zu machen, dass Krawallmacher ganz bestimmt nichts mit der linken Sache zu tun haben. Der G20-Gipfel ist vorüber und es gibt ein Thema, das die Öffentlichkeit ganz und gar bestimmt: linke Gewalt. Insbesondere die Ereignisse im Schanzenviertel am Abend des 7. Juli haben dafür gesorgt, dass in der Öffentlichkeit kaum noch über ein anderes Thema gesprochen wird. Dabei scheint es, als ob sich beim G20-Gipfel das Vortor zur Hölle ein Stück weit geöffnet hätte. In einer solchen Atmosphäre lohnt es sich vielleicht, etwas zurückzutreten, und sich genauer anzuschauen, wie in der Öffentlichkeit über dieses Thema gesprochen wird.
Tonangebend für eine bestimmte Sichtweise war hier sicherlich Vizekanzler Sigmar Gabriel. Der äußerte sich via Bildzeitung am Sonntag danach folgendermaßen: „Alle angeblichen politischen Motive für diese Orgie an Brutalität sind verlogen und sollen nur das Deckmäntelchen dafür sein, worum es den Tätern aus allen Teilen Europas ging: um Gewalt an sich. Die Täter unterscheiden sich überhaupt nicht von Neonazis und deren Brandanschlägen. Mit angeblich ‚linken Motiven‘ hat das alles nichts zu tun.“
Es ist ein interessanter Vorwurf, der hier gemacht wird. Das Problem ist für Gabriel weniger, dass in Hamburg Gewalt als Mittel für einen bestimmten Zweck eingesetzt wurde – er erhebt den Vorwurf, dass es sich um „Gewalt an sich“ gehandelt habe. Gerade die inhaltslose, nicht durch einen Zweck bestimmte Gewalt sei ein Merkmal, das autonome Krawallmacher mit gewalttätigen Neonazis gleichstellt. Das verrät eine interessante Sicht, die der Vizekanzler offensichtlich auf Neonazis hat: Die greifen also nicht deswegen Menschen an und werfen Brandsätze, weil sie ein Problem mit Migranten haben, weil sie eine rassisch homogene Gesellschaft durchsetzen wollen – sondern weil sie der Gewalt an sich fröhnen. Bei derlei Zufälligkeit, ob es sich beim Ziel der Gewalt entweder um Schaufensterscheiben, gut gepanzerte Polizisten und Autos – oder eben um Migranten handelt, ist es aber interessant, wie unterschiedlich trotzdem die Reaktionen in beiden Angelegenheiten ausfallen. Als im Sommer des letzten Jahres beinahe wöchentlich mehrere Flüchtlingsheime brannten, da war der Tenor: Wir müssen die Sorgen der Leute ernst nehmen. Wir müssen die Nähe der Leute suchen und müssen ihnen die Politik besser erklären. Natürlich wurde auch hier die Gewalt einhellig verurteilt. Aber die Gesetzesänderungen die dem folgten, haben dem Inhalt der Gewalt, den es sehr wohl gab, letztlich Recht gegeben. In zwei Runden wurde die Asylgesetzgebung erheblich verschärft. Und das war das Signal: Dem Problem, das ihr mit den Einwanderern konstatiert, können wir – und nur wir – als legitime Staatsgewalt abhelfen. Anders im Falle der Schanzenviertelkrawalle. Hier wird nun gefordert: Durchsuchung und Räumung linker Zentren in ganz Deutschland, die Einrichtung einer internationalen Extremistenkartei, lebenslanges Demoverbot, Fußfesseln und längere Haftstrafen für Steineschmeißer. In dieser Reaktion wird deutlich, dass der Staat auch die Gewalt letztlich nach einem Inhalt interpretiert. Die gewaltsame Störung des G20-Treffens symbolisiert die Missachtung und Ablehnung der Staatsgewalt selbst. Unabhängig davon, was aus solchen Handlungen tatsächlich folgt – der Staat reagiert auf sie, als würden sie die Staatsgewalt ganz faktisch gefährden. Dass Gabriel nun von inhaltsloser Gewalt, von Gewalt an sich spricht, mag dabei seine Gründe haben. Würde er die Gewalt der Autonomen nach ihrem Inhalt befragen, müsste er auch den Inhalt der staatlichen Gewalt offen legen und erklären. Die staatliche Gewalt muss aber unausgesprochen als die Gewalt erscheinen, die ganz selbstverständlich als einzige durch einen legitimen Zweck begründet ist. Sie darf nicht erscheinen als eine Gewalt, die sich erklären muss – jenseits der staatlichen Gewalt gibt es nur „Gewalt an sich“.
Anders reagiert hingegen die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt. Die mag durchaus eine inhaltliche Stoßrichtung der autonomen Gewalt erkennen, wenn sie diese in einen Kontext mit den Protesten gegen den G20-Gipfel stellt: „Diese Gewalt schadet dem berechtigten Protest. Schadet der Demokratie. Ist nicht zu rechtfertigen.“
Hier wird durchaus eine Konstellation von Zweck und Mittel aufgemacht: Es gibt einen berechtigten Protest – das Mittel der Gewalt schadet aber diesem legitimen Anliegen. Interessanter als die Frage, ob das Mittel der Gewalt dem Zweck des Protests tatsächlich schadet, scheint mir hier zunächst die Frage, was sich hinter der Rede vom „berechtigten Protest“ verbirgt. Protest ist der Sache nach ein Einspruch – Protest ist, wenn ich sage, das und das passt mir nicht. Es wäre seltsam, wenn man solchen Einspruch auf eine Berechtigung festlegen wollte. Wenn der Protest ein Einspruch gegen eine Regierung ist – sollte er sich dann erst von einem Regierungspersonal wie Katrin Göring-Eckart berechtigen lassen? Es würde der Sache selbst widersprechen. Wenn eine Politikerin wie Göring-Eckart von berechtigtem Protest spricht, dann ist der Titel der Berechtigung eine Festlegung auf die herrschenden Spielregeln. Protest geht nur dann, wenn ein Politiker ihn zum Auftrag nimmt, ihn in die Bahnen des Bestehenden zu lenken – ein grundlegender Einspruch ist so von Vornherein ausgeschlossen. Die Berechtigung des Protests bedeutet so: Die Recht setzende Gewalt bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen ein Einspruch möglich ist. Praktisch bestimmt hat diesen Rahmen in der Woche vom 3. bis zum 9. Juli die Polizei als die exekutive Gewalt. Jeder, der in diesem Zeitraum das Handeln der Polizei beobachten konnte, kann sich fragen, ob es eine gute Idee ist, den Rahmen der Berechtigung als letztes Wort hinzunehmen.
Vielleicht ein paar Worte zur Sache selbst. Als am Freitag Abend im Schanzenviertel die ersten Barrikaden zu brennen begannen, da waren einige Rufe auf französisch, italienisch, spanisch und griechisch zu vernehmen. Nicht nur, aber doch auch, waren es Autonome aus Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland, die sich hier an den Krawallen beteiligten. Deren Beteiligung ist sicherlich nicht ganz unerheblich gewesen, denn es sind militante Protestformen, die diese Leute in den letzten Jahren erprobten, als sie gegen diverse Sparprogramme und Arbeitsrechtsreformen protestierten. Es ist Deutschlands export-orientierte Ökonomie, die gerade jene der südlicheren europäischen Länder in den letzten Jahren ruiniert und abhängig gemacht hat. Es ist Deutschland, das in seiner europäischen Hegemonie versucht, überall die Spielregeln der Konkurrenz festzulegen. Spielregeln, die eine sozialpolitische Strukturierung nach dem Modell der Agenda 2010 erfordern. Unabhängig davon, wie man die Schanzenkrawalle sonst beurteilt – vielleicht sollte man sich genau diese Umstände vor Augen führen.
Nun braucht man sich aber auch nicht vormachen, dass die Gewalt im Schanzenviertel einzig von den „angereisten Krawallmachern“ ausgegangen ist – als ob es in Deutschland selbst keine Gründe gäbe, wütend zu sein. Ein demütigendes Kontrollsystem, das den Namen Hartz IV trägt, das die Armut eines Teils der Bevölkerung garantiert und den Rest der Bevölkerung vor dieser Perspektive schwitzen lässt; die Zurichtung der großen Städte zu Anlagemöglichkeiten für überschüssiges Kapital, die dort den Wohnraum schlicht kaum bezahlbar macht und die dortige Lebensqualität erheblich einschränkt; die unfassliche Gewalt, die dieser Staat den Geflüchteten antut, die jeder sehen kann, der es sehen will; die Unterstützung und den Spielraum, den der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden dem NSU-Netzwerk gewährt haben; Rechtsterroristen, die sich in der Bundeswehr und der Polizei organisieren – angesichts dieser Umstände ist es allein aus einer soziologischen Sicht eher erklärungsbedürftig, dass es so selten knallt, als dass es mal bei einem solchen Gipfeltreffen zu einigen Scharmützeln kommt, bei dem auch mal ein paar Barrikaden und Autos brennen.
Wenn nun aber die Schanzenkrawalle bei Indymedia als Etappensieg im Widerstand gegen den Kapitalismus gefeiert werden, dann ist dies nichts als Selbstüberschätzung. Das Bild der brennenden Barrikade mag ein radikales Bild sein – aber es bleibt letztlich ein Bild. Nach dem Wochenende in Hamburg wird der Kapitalismus weiter gehen wie bisher – vielleicht folgt noch der ein oder andere Face-Change bei einem Einsatzleiter oder Politiker (auch wenn es gerade nicht danach aussieht) – aber der Kapitalismus wird weiter gehen wie bisher, gerade in Deutschland sitzt er nach wie vor fest im Sattel. Dass der deutsche Staat nun reagiert, als wäre in Hamburg tatsächlich der Bürgerkrieg ausgebrochen, bestätigt nur einmal mehr, dass in Deutschland seit jeher präventive Konterrevolution angesagt ist. Deshalb rückte am Abend des 7. Juli das SEK mit Maschinenpistolen vor, um einige Vermummte von einem Baugerüst zu holen, denen letztlich nichts weiter nachgewiesen werden konnte. Die nun vermutlich folgenden Gesetzesverschärfungen werden sich dadurch rechtfertigen, dass in Hamburg ein SEK-Einsatz notwendig gewesen ist. Und diese Gesetzesverschärfungen werden sich einreihen in eine kontinuierliche Verschärfung. Verschärfung des Widerstandsparagraphen, Verschärfung des Verfahrensrechts, das künftig Zeugen zu Aussagen zwingen kann. Und das zeigt letztlich: Dafür hätte es der Krawalle gar nicht bedurft. Trotzdem: „Die Eskalationsspirale, an der die Polizeiführung in einem selbst erklärten Ausnahmezustand so munter tagelang gedreht hat, ist ihr mit Karacho um die Ohren geflogen.“
Quextrott Feeper