Spekulatives zum G20-Protest
(Hegel, Kant, die Romantik sowie Lukács)
Hegel schreibt, dass es zwei verschiedene Arten philosophischen Umgangs mit Gottes Existenz gibt. Die erste, die er der Romantik zuschreibt, glaubt, Gott im Gefühl bewiesen zu haben. Keiner der offiziellen Beweise ist der Romantik so gut wie die Unmittelbarkeit im Inneren des Gläubigen. Denn was wäre es für ein Gott, den man beweisen kann? Durch die rationale Ableitung müsste der Gegenstand des Beweises, Gott, Wirkung zu einer Ursache sein. Wer Gott beweist, zieht ihn also auf die Erde herab: Entweder Gott wird aus einem ihm Vorgängigen geschlussfolgert, dann ist Gott keine Transzendenz, oder aber es gibt keinen Beweis für sein Dasein. Letzteres glaubt die zweite Art, die Hegel dem Kritizismus zuweist. So wie die kantische Philosophie das Ding an sich niemals erreichen will, so verfehlt sie auch den Gegenstand, um den es der Metaphysik letztlich geht, Gott, aus Prinzip. Allenfalls schafft sie es die Bedingungen der Unmöglichkeit zu untersuchen, unter denen menschliche Erkenntnis stattfindet. Insofern Erkenntnis aber an das Sinnliche gebunden ist, Gott jedoch übersinnlich ist, bedeutet das, Erkenntnis reicht niemals an das Transzendente heran. Der kantischen Philosophie gibt es deshalb keinen Gott der Vernunft.
Es gibt zwei Arten politischen Umgangs mit den Ereignissen von Hamburg. Die romantische Position der Affirmation und die kritizistische Position der Skepsis. Die erste, vertreten von der IL, heißt nicht so, weil sie brennende Barrikaden schön findet (das ist ein vulgärer Begriff von Revolutionsromantik), sondern weil „Hamburg“ für sie vor allen Dingen subjektiv war: Eine Masse Menschen allen Alters, die im kreativen Protest einen Riss in den bestehenden Verhältnissen erzwungen und diese dadurch transzendiert haben. Transzendenz ist dieser letzten Endes anarchistischen Position das Erzeugnis eines Subjekts. Die kritische Position, die – Achtung! – nicht so heißt, weil sie besonders kritisch ist, kann diese Transzendenz nicht erkennen. Statt vom Übertritt spricht sie von einer „Politik des Als-ob“ (Lars Quadfasel): „An die Stelle des Widerstands treten Bilder vom Widerstand“. Die Sache selbst, die „Rebellion der Hoffnung“ (IL) war das nicht, nur die Imitation davon.
Der romantischen Reaktion auf Hamburg fällt es leicht, kritische Elemente in sich aufzunehmen, leichter zumindest, als es der kritischen Position gelingt, die Romantik zu akzeptieren bzw. Transzendenz zu erzeugen. So wie der gesellschaftliche Trend zur Kritik geht (kein Grundschulreferat kommt ohne die obligatorische Kritik aus), ist die Kritik am Ereignis „Hamburg“ verbreitet, Affirmation kaum zu finden, die Mehrheit, wenn nicht die Gesamtheit der offiziellen Stellungnahmen übt irgendeine wie auch immer verklausulierte Distanzierung von dem, was im Schanzenviertel passiert ist. Am äußersten Rand des kritischen Pols verwandelt sich die Kritik in eine Art abstrakte Negation: In den zersplitterten Scheiben, den Flaschenwürfen und den brennenden Barrikaden sieht man dort eine Gewalt, die inhaltlich und/oder formal mit dem rechten oder islamistischem Terror in Verbindung zu bringen sei. Uli Schuster vom Roten Salon in Leibzig bringt das auf die griffige Formel, der riot sei der „Vorschein des Schlimmeren“.
Der Komparativ ist entlarvend, denn der kritischen Philosophie darf es Transzendenz eigentlich nicht geben. Deshalb sollen sich die vom geplünderten Schampus berauschten Gewalttouristen schließlich nicht von den eventorientierten Partytouristen auf Mallorca unterscheiden, ihr Gewaltfetisch nicht von den Hooligans in der sächsischen Schweiz. Auch ideologisch sehen linke Kritiker am G20-Protest deshalb bei diesem Überschneidungen zu rechten Verschwörungstheorien oder dem antiamerikanischen Standortnationalismus der Deutschen. Trotzdem die Kritizisten also im Protest nur eine Wiederkehr des Immergleichen – der immergleichen Gipfelhoppingroutine, der immergleichen Parolen usw. – sehen, bestätigen sie doch den Unterschied, von dem die Romantiker zu leichtfertig ausgehen, nur dass die kritizistische Transzendenz eine negative ist, ein „Mad-Max-Szenario“ (Quadfasel). Aus den Ereignissen spreche die weit verbreitete, „tiefe Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand“: „Ist man erst einmal auf den Geschmack gebracht, (wird man) sich bei nächster Gelegenheit wohl kaum mit drei ausgebrannten Geschäften abspeisen lassen“ (ebd.). Solange die Transzendenz eine in die falsche Richtung der Geschichte ist, darf es den Überschuss also geben, war Hamburg ein Ereignis.
Auch die Mitte der Gesellschaft weiß, dass es sich bei den Plünderungen nicht um normale Straftaten handelt, muss ansonsten aber leugnen, dass es sich um überschreitende Akte handelt, schließlich muss sie ausblenden, dass auch ihre Ordnung auf einer transzendenten Staatsgewalt basiert. Sie versucht also die „neue Qualität der Gewalt“ in Quantität zurückzuübersetzen, zum Beispiel indem sie Flaschenwerfer zu 2 ½ Jahren Haft verurteilt. Einige Romantiker schreien deshalb laut „Faschismus“, wie sie stets die Polizei angreifen sehen, ohne die sie auf Demos nichts zu tun hätten und gegen die sie sich am liebsten nur verteidigen würden, weil sie keine Argumente für den Angriff parat haben. Die Kritizisten weisen das zurecht als lächerlich zurück. Wie kommt es aber, dass dieselben, die im Faschismusvorwurf an die Hamburger Polizei eine Relativierung des realen Faschismus sehen, selbst gerne bereit sind, solche Parallelen zu ziehen, wenn es um den riot geht? Warum wird die eingeforderte Differenzierung nicht eingehalten, wenn es darum geht, den black block zu denunzieren, indem man ihn dem IS, der SA, der Tscheka gleichsetzt?
Der philosophische Fortschritt, den die kantische Philosophie bedeutet, besteht darin, die Welt von überzähligen Entitäten (Gott) zu befreien, ohne diese dabei auf die bloße Empirie zu reduzieren. Positivismus und Transzendenz versuchen, sich die Waage zu halten. Der Nachteil ist, dass das inkonsequent ist. Kants Philosophie hält den Widerspruch zwischen Empirismus und Metaphysik nicht aus und bricht an allen Ecken auseinander. Dialektische Spekulation hingegen bedeutet, aus Vernunftgründen das Unwahrscheinliche annehmen. Gott, obwohl der Kantianismus dessen empirische Unmöglichkeit bewiesen hat, muss dennoch aus Vernunftgründen sein, weil der Kantianismus aus Vernunftgründen keine Option ist. Trotz alledem sozusagen.
Was bedeutet das politisch? Hamburg hat auf der symbolischen Ebene die Gewaltfrage gestellt, an der sich die Geister scheinbar streiten wie die Philosophen an Gott. Wer die Frage nach der Gewalt als alten Hut abtun möchte, sollte sich an die eigene Sozialisation erinnern: der Punkt, an dem man bereit ist, zu behaupten, die Verhältnisse seien so gewaltsam, dass sie notfalls mit Gewalt beendet werden müssten, ist eine Wegmarke. Für die Phänomenologie des linken Geistes ist sie entscheidend. Dennoch will niemand, der im Prinzip von der Notwendigkeit der Gewalt überzeugt ist, mit dem selben Argument die Inszenierung von Hamburg verteidigen. Selbst die Romantik der IL neigt, wo es um die Ausschreitungen geht, in Richtung der kritischen Position und äußert leise Zweifel. Uli Schuster wiederum fordert offensiv „die Verteidigung der Restbestände der bürgerlichen Gesellschaft“, wobei die Prämisse zu dieser Forderung ist, dass es ansonsten nur Barbarei gibt. Falls das stimmt, ist der Schluss zweifellos korrekt und muss der status quo verteidigt werden, notfalls – welcher Militante würde das bezweifeln? – auch mit Waffengewalt.
Die Unhintergehbarkeit der Gewalt, zeigt sich vielleicht an dem Problem, das sich Schuster stellt: Wer wie er gegen die Plünderer Ordnung einfordert, ist nicht zu unterscheiden von der Position Lenins, der schließlich die neue Ordnung mit Staatsmitteln aufrechterhält und trotzdem von Schuster attackiert wird. In dem von Schuster bemühten Zitat geht es wörtlich gegen Rowdies. Wie ist Lenin, den Schuster als die Inkarnation des linken Terrors kritisiert, nicht auf seiner Seite, geht es ihm doch um nichts anders als um die Stabilisierung der Staatsmacht? Nach der Revolution verwandelt sich Lenin in De Maiziere und verteidigt den status quo gegen die Rowdies. Das ist der Sinn des Begriffs „Diktatur des Proletariats“. Auf der gegnerischen Seite: Ein Demokrat muss Buddes Polizeistrategie zum G20-Gipfel in concreto nicht gutheißen, strukturell ist er auf die Ordnung eingeschworen, die Budde ihm verteidigt. Man kann den ästhetischen Wert einer brennenden Barrikade in Zweifel ziehen ebenso wie den politischen Zweck eines Flaschenwurfs, aber wer die Revolution will, wird kaum das Flaschenwerfen und Barrikadenanzünden an sich kritisieren können. Karl Heinz Dellwo formuliert die einzig dialektische Position: „Ist der Riot auch das, womit man sich nicht identifizieren kann, so ist es doch falsch, sich von ihm zu distanzieren“ .
Das gleiche Argument anders formuliert: Der Basissatz der linksradikalen Gesellschaftskritik der Gegenwart lautet, dass der Kapitalismus keine Verschwörung mächtiger Männer ist. Abgesehen von seiner empirischen Falschheit, hat der Satz zwar an spekulativer Kraft verloren, seit man keine Zeitung mehr aufschlagen kann, ohne eine Kritik der Verschwörungstheorie geliefert zu bekommen. Und dennoch ist er wahr, wenn er manchen Romantiker entlarvt: Das Problem ist noch viel größer als IWF und Amerika. Gegen die Verschwörungstheorie auf die kapitalistische Struktur hinzuweisen, ist ein korrekter Zug. Gibt es auch eine strukturelle Gewalt der Revolution? Während es ein Sakrileg wäre, von korrupten Politikern oder kriminellen Bankern zu sprechen, scheint die Kriminalisierung und moralische Delegitimierung des schwarzen Blocks vollständig vertretbar. Warum aber zwischen den Verschwörungen, die sich nur im Umfang ihrer Reichweite unterscheiden, ein Unterschied gemacht? Entweder Banker und Antifas werden auf eine Stufe gestellt, was die unangenehme Konsequenz hätte, dass die Linke einen Paradigmenwechsel vornehmen muss und Verschwörungstheorie für salonfähig erklären. Oder man bleibt bei der abstrakten Gewalt der bestehenden Verhältnisse. Dann aber muss es auch eine abstrakte Gewalt der Revolution geben, die in dem Maße affirmiert wird, wie man die abstrakte Gewalt des Bestehenden negiert.
Lukács schreibt, Totalitätsvergessenheit ist Trennungssucht. Wer die schlechten Seiten des Kapitalismus (Krise) von seinen guten Seiten (Akkumulation) trennen will, denkt totalitätsvergessen, denn in der kapitalistischen Totalität herrscht zwischen der Akkumulation des Kapitals und der Krise gerade kein Widerspruch. Lukács zeigt sich hier als perfekter Hegelianer: Die Vernunft ist das Vermögen der Einheit, der kantische Verstand hingegen das Instrument der Trennung. Interessant ist nun, warum Lucacs die kantische Trennungssucht mit der Sozialdemokratie gleichsetzt. Politisch resultiert für ihn die verstandesmäßige, abstrakte Unterscheidung des Nichtgetrennten für ihn nämlich in der Formulierung einer Ethik: Das, was angeblich getrennt ist, soll wieder zusammengeführt werden, und im Zusammenbringen besteht die unendliche politische Arbeit. Politik „als bloße Forderung, als bloßes Sollen“ (Lukács) sieht so aus: Die Kapitalisten sollen ein bisschen mehr geben, die Arbeiter sollen sich weiter zurückhalten.
Finden wir nicht in der Debatte um das Ereignis von Hamburg eine ähnliche Trennungssucht? Was bekanntermaßen zusammengehört, Revolution und Gewalt, soll getrennt werden, Polizisten und Demonstranten werden mit ethischen Forderungen adressiert. Handelt es sich bei solcher ethischen Behandlung von Hamburg nun um einen bloßen Fehler, vielleicht um falsches Bewusstsein? Keineswegs. Lukács betont: „Auch die (Politik der) Forderung hat hier ihre Wirklichkeit“, d.h. Wahrheit. Sie richtet sich aber nicht (wie bei der Sozialdemokratie) an die Kapitalisten, sondern an die „spontane Wesensart der revolutionären Massenaktionen“ (Lukács). Die Wirklichkeit des moralischen Appells, seine wahre Seite besteht darin, die Massenaktionen und ihre Spontanität kritisch zu begleiten. „Diese Gestalt des proletarischen Klassenbewußtseins ist die Partei“. Die Partei ist die „Trägerin der Ethik des kämpfenden Proletariats“. Wenn die Kritik an Hamburg eine moralische Kritik an der Spontanität der Massen ist und dennoch ihr Wahrheitsmoment haben will (ohne bloße Affirmation des status quo zu sein), kann der Schluss nur lauten, dass sie wohlverstanden die Forderung aufstellt: Die ansonsten ziellose Spontanität der Kämpfenden möge sich als Partei organisieren.