Ein Interview
Hongkong: Anarchisten im Widerstand gegen das Auslieferungsgesetz
Zu einer Note des Übersetzers zum Krawall in Hongkong und dem unten dokumentierten Interview
Seit 1997 ist Hongkong ein Teil Chinas, da es aufhörte, der letzte wichtige koloniale Besitz Großbritanniens zu sein. Es unterhält aber gleichzeitig ein eigenes politisches und rechtliches System. Im Februar wurde ein unbeliebtes Gesetz eingeführt, das es ermöglichen würde, Flüchtige an Länder auszuliefern, mit denen Hongkong keine bestehenden Auslieferungsverträge hat – einschließlich Festlandchina. Am 9. Juni nahmen über eine Million Leute die Straßen, um zu protestieren. Am 12. Juni ließen sich Protestierer auf eine offene Konfrontation mit der Polizei ein und am 16. Juni nahmen 2 Millionen Menschen an einem der größten Märsche der Stadtgeschichte teil. Das folgende Interview mit einem anarchistischen Kollektiv aus Hongkong untersucht den Rahmen dieser Unruhewelle. Unsere Berichterstatter können in ihrem Bemühen, die treibenden Motivationen der Teilnehmer und die neuen Formen von Organisation und Subjektivierung auf den Begriff zu bringen, auf zehn Jahre Erfahrung in vorhergehenden sozialen Bewegungen zurückgreifen. In den Vereinigten Staaten hingen die jüngsten Massenkämpfe mit dem Widerstand gegen Donald Trump und der extremen Rechten zusammen. In Frankreich zog die Bewegung der gelben Westen Anarchisten, Linke und Nationalisten der äußersten Rechten auf die Straße, gegen Macrons zentristische Regierung und gegen einander. In Hongkong sehen wir eine soziale Bewegung, die gegen einen von der autoritären Linken regierten Staat gerichtet ist. Welche Herausforderungen stellen sich Gegnern des Kapitalismus und des Staates in diesem Zusammenhang? Wie können wir Nationalisten, Neoliberale und Pazifisten überlisten, die versuchen, unsere Bewegungen zu kontrollieren und auszunutzen?
Da China seinen Wirkungsbereich ausdehnt und mit den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union um weltweite Vorherrschaft kämpft, ist es wichtig, mit Formen des Widerstandes gegen das von ihm vertretene politische Modell zu experimentieren, wobei man darauf achten muss, Neoliberale und Reaktionäre daran zu hindern, Kapital aus der gängigen Gegnerschaft zur autoritären Linken zu ziehen. Anarchisten aus Hongkong sind für eine diesbezügliche Stellungnahme in einer einzigartigen Lage.
Die mit Eidottern übersäte Vorderfront des Hongkonger Polizeihauptquartiers in Wan Chai am Abend des 21. Juni. Hunderte Protestierer versiegelten den Eingang und forderten die bedingungslose Freilassung aller Personen, die bis dahin im Zusammenhang mit dem Kampf verhaftet wurden. Auf dem Banner unten steht „Niemals ergeben“.
„Die Linke“ von Hongkong ist institutionalisiert und belanglos. Im Allgemeinen haben die Liberalen von „Scholarist“ [1] und die „staatsbürgerlichen“ Rechten die Erzählung fest im Griff, wann immer Proteste ausbrechen und insbesondere wenn Festlandchina beteiligt ist.
Hat die im Kampf gegen das Auslieferungsgesetz erfolgte Eskalation der Taktik es für diese Fraktionen schwierig gemacht, „die Bewegung“ zu vertreten oder zu verwalten? Hat die Revolte ihr Vermögen, den Diskurs zu formen, überschritten oder untergraben? Kündigen die Ereignisse des vergangenen Monats ähnliche Entwicklungen in der Zukunft an, oder war dies bereits ein unterirdisch verbreitetes Thema in den volkstümlichen Unruhen in Hongkong?
Es ist wichtig zu verstehen, dass das bis jetzt Geschehene nicht eigentlich als „eine Bewegung“ verstanden werden kann. Dafür ist sie viel zu rudimentär. Die sogenannten Regenschirmbewegung ist sehr frühzeitig der Kontrolle ihrer Gründungsarchitekten entkommen, den Intellektuellen, die ein Jahr voraus „Occupy Central With Love and Peace“ ankündigten. Ihr größter Teil hielt aber weiter am Rahmen der pazifistischen, staatsbürgerlichen Prinzipien fest. Im Gegensatz dazu gibt es bei den jetzigen Ereignissen noch keine wirkliche Leiterzählung, die sie vereinigen könnte. Es gibt keine grundlegende Überzeugung, die bestimmte Aktionsformen autorisieren oder rechtfertigen würde, während sie andere ächtet, je mit dem Ziel, ein Spektakel zu kultivieren, eine exemplarische Fassade, die man fotografieren und auf die Bildschirme der ganzen Welt übertragen kann.
Die kurze Antwort auf deine Frage ist daher… Ja, bislang ist niemand befugt, im Auftrag der ganzen Bewegung zu sprechen. Alle ringen damit, eine aufkeimende und vor uns Gestalt annehmende Form der Subjektivität auf den Begriff zu bringen, jetzt da die formellen Aushängeschilder der Strömungen auf die du dich bezogen hast gebrochen und weitgehend an den Rand gedrängt wurden. Das beinhaltet die „scholaristische“ Fraktion der Studenten, die heute als „Demosisto“ bekannt ist und die rechtsgerichteten „Nativisten“, die beide von der Teilnahme an der gesetzgebenden Versammlung ausgeschlossen wurden, nachdem man sie hinein gewählt hatte.
Im Verlauf dieses Gesprächs werden wir versuchen, unsere eigenen Einsichten darüber zu beschreiben, wie diese embryonale Form der Subjektivität aussieht und welchen Umständen sie entstammt. Aber die sind nur vorläufig. Was auch immer das momentane Geschehen ist, wir können darüber sagen, dass es innerhalb eines Feldes entsteht, auf dem alle sichtbaren und bekannten Akteure der vorherigen Abläufe besiegt oder verrufen sind. Darunter auch die politischen Parteien, die Körperschaften der Studenten und die rechtsgerichteten und populistischen Gruppen. Es ist ein von Schatten bevölkertes Feld, heimgesucht von Zwischentönen, Echos und Gemurmel. Bislang blieb die Hauptbühne leer.
Daher werden weit verbreitete Standardformen des Verständnisses beschworen, um die Lücken zu schließen. Es erscheint oft so, als seien wir auf eine unglückliche Wiederholung der Ereignisabfolge festgelegt, die sich in der Regenschirmbewegung abgespielt hatte:
Das ist natürlich nur eine oberflächliche Beschreibung der Regenschirmbewegung vor fünf Jahren – und auch so gab es da eine beachtliche Menge von „Ausschweifungen“: neuartige und emanzipatorische Praktiken und Zusammenstöße, für die sich die offizielle Erzählung nicht verantworten kann. Diese Erfahrungen sollte herausgeholt und zurückgewonnen werden, wenn auch hier nicht die Zeit und der Platz dafür ist. Jetzt sehen wir uns einer weiteren Betätigung der Mystifikation gegenüber: Verfahren, die immer dann zum Einsatz kommen, wenn das gesellschaftliche Gefüge die Krise kommt, dürften die sich eröffnenden Möglichkeiten verhindern. Aber es wäre noch verfrüht, anzudeuten, dass das bald passieren wird.
Bei unserer kursorischen und oft äußerst unerfreulichen Durchsichten der westlichen, weit links stehenden sozialen Medien haben wir bemerkt, dass das Auffassungsvermögen zu oft unserem Hang zum Opfer fällt, diese oder jene Kämpfe sofort zu beurteilen. So vieles vom dem, was als „Kommentar“ durchgeht, tendiert dazu, auf einen der beiden Pole zu fallen – leidenschaftliche Akklamation der Macht der proletarischen Intelligenz oder zynische Verurteilung seiner populistischen Rückgewinnung (Rekuperation). Keiner von uns kann die ungewisse Spannung ertragen, unser Urteil über etwas zu suspendieren, das sich außerhalb unseres geistigen Horizonts befindet. Und so beeilen wir uns, jemanden zu finden, der diese sperrige Masse an Informationen in eine Rubrik formalisiert, die wir verstehen und verdauen können, damit wir so unsere Unterstützung und Auffassung ausdrücken können.
Wir können Interessierten nicht wirklich sagen, ob sie sich darum kümmern sollen, was in Hongkong abgeht, im Gegensatz etwa zu Frankreich, Algerien, Sudan. Aber wir bitten dringend, dass diejenigen, die an einem Verständnis des Geschehens interessiert sind, sich die Zeit zu nehmen, ein Verständnis unserer Stadt zu entwickeln. Trotzdem wir ihre Politik nicht vollständig teilen und einige Kritteleien an den in ihnen vorgestellten Tatsachen haben, billigen wir jegliche Berichterstattung, die Ultra, Nao und Chuang in den letzten Jahren der englischsprachigen Welt geboten haben. Ultras Stück über die Regenschirmbewegung ist wahrscheinlich die beste momentan verfügbare Darstellung der Ereignisse.
Unser Banner in den Märschen. Man konnte es normalerweise vor unserer Trommelgruppe finden. Darauf steht: „Es gibt keine ‚guten Staatsbürger‘, nur potentielle Verbrecher“. Dieses Transparent war eine Antwort auf die von politischen Pro-Beijing-Gruppen des Establishments in Umlauf gebrachte Propaganda, die versicherte, dass die Auslieferungsmaßnahmen niemanden bedrohten, der sich guten Gewissens und ruhig um seine eigenen Angelegenheiten kümmere.
Wenn wir „die Linke“ als politisches Subjekt verstehen, die die Frage des Klassenkampfs und der Arbeit ins Zentrum ihrer Politik stellt, dann ist es nicht einmal völlig sicher, ob so etwas in Hongkong überhaupt eigentlich existiert. Natürlich betreiben Freunde von uns ausgezeichnete Blogs und es gibt kleine Grüppchen und Artverwandtes. Natürlich reden alle über die Wohlstandskluft, ungezügelte Armut, die Klasse der Kapitalisten und den Umstand, dass wir alle „打工仔“ (Gelegenheitsarbeiter und Arbeitsvolk) sind, die um ihr Überleben kämpfen. Aber wie fast überall sonst besteht die primäre und von allen unterschriebene Form der Subjektivität und Identifikation in der Idee der Staatsbürgerschaft in einer nationalen Gemeinschaft. Daraus folgt, dass dieser eingebildete Besitz auf der Verneinung und Ausschließung des Festlandes gründet, auf Abgrenzung vom Festland. Man kann sich die Qual kaum vorstellen, all die ermüdenden „Ich bin Hongkonger, nicht Chinese!“-T-Shirts in der U-Bahn zu sehen, oder „Hongkonger gebt Gas!“ zu hören, bis zum Erbrechen gesungen während der jüngsten Märsche.
Es sollte ausländische Leser interessieren, dass das Wort „links“ in Hongkong zwei Assoziationen hat. Für die Generation unserer Eltern und deren Eltern davor bedeutet „links“ offensichtlich kommunistisch. Daher kann „links“ auf einen Geschäftsmann verweisen, der ein Parteimitglied ist oder auf einen notorisch prochinesischen Politiker aus dem Establishment. Für jüngere Leute ist das Wort „links“ ein Schandmal (oft verbunden mit „Plastik“, ein kantonesisches Wort, das nach „Schwachkopf“ klingt). Es ist mit einer vorhergehenden Aktivistengeneration verbunden, die in den früheren Abfolgen gesellschaftlicher Kämpfe beteiligt war – darunter der Kampf zur Verhinderung des Abrisses des Victoria-Kais im Finanz- und Geschäftszentrum, der Kampf gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke, die durch den Nordosten von Hongkong nach China gehen sollte, und der Kampf gegen die Zerstörung gewaltiger landwirtschaftlicher Gebiete in den Nordostgebieten. Alle endeten in einer demoralisierenden Niederlage. Diese Bewegungen wurden oft von sprachgewandten Sprechern angeführt – Künstler oder NGO-Vertreter, die taktische Bündnisse mit Progressiven der pandemokratischen Bewegung schmiedeten. Das Debakel dieser Bewegungen ist auf ihre Angst zurückzuführen, direkte Aktionen zu billigen und auf ihre Appelle an die Geduld und für Verhandlungen mit der Autorität. Das wird dieser Generation von Aktivisten nun vorgeworfen. Der ganze Zorn und all die Frustration der damals erwachsen gewordenen jungen Leute, achtete die Leitung dieser Repräsentationsfiguren, die ihnen im Angesicht einer weiteren Niederlage befahl, sich zu zerstreuen. Eine weitere Zurschaustellung orchestrierter Passivität, die stufenweise einen rechtsgerichteten Dreh nahm. Sogar die Körperschaften der weiterführenden Schulen und Universitätsstudenten, die bisher zuverlässig Mitte-Links und fortschrittlich waren, sind explizit nationalistisch geworden.
Ein entscheidender Grundsatz dieser aus einer Woge der Enttäuschungen und Fehlschläge entstandenen Generation, ist ihr negativer Fokus auf direkte Aktion und ihre konsequente Ablehnung von „Kleingruppendiskussionen“, „Konsens“ und dergleichen. Das war ein Motiv, das zuerst in der Regenschirmbewegung aufgetaucht ist – am herausragendsten im Lager Mong Kok, wo die Möglichkeiten am reichsten waren, aber wo es andererseits und unglücklicherweise der Rechten gelang, einen stabilen Halt zu finden. Der Argwohn gegen die vorherigen Generation bleibt verbreitet. Zum Beispiel ermächtigten sich am Nachmittag des 12. Juni einige Mitglieder der alten sozialdemokratischen Partei selbst, inmitten der Straßenkämpfe zwischen Polizei und Protestierern über das Mikrophon Informationen an die Leute der Frontlinie zu übermitteln. Sie teilten ihnen mit, wohin sie sich, sollten sie fliehen müssen, zurückziehen könnten, welche Löcher in der Front gestopft werden müssen und ähnliche Informationen. Wegen ihres Mißtrauens gegenüber Parteien, Politikern und professionelle Aktivisten und ihre Programme, ignorierten viele diese Anweisungen und verließen sich stattdessen auf die Mund-zu-Mund-Informationen oder auf Informationen, die online in Nachrichtengruppen kursierten. [2]
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass der Gründungsmythos dieser Stadt darin besteht, dass Flüchtlinge und Regimekritiker kommunistischer Verfolgung flohen, um eine Oase des Wohlstandes und der Freiheit zu errichten, eine Festung der bürgerlichen Freiheiten, geschützt durch den Rechtsstaat. In Anbetracht dessen könnte man sagen, dass viele Hongkonger sich auf einer alltäglichen Ebene bereits als revoltierend verstehen – durch ihre Lebensart und durch die sie erfreuenden Freiheiten. Sie betrachten diese Identität, so geistlos und prekär sie auch sein mag, als einen Besitz, den sie um jeden Preis verteidigen müssen. Es sollte hier nicht nötig sein, viel über den Umstand zu sagen, dass der diese Stadt ausmachenden, langfristige „Reichtum“ – seine interessantesten (und oft ärmsten) Viertel, eine ganze Heerschar informeller Klubs, Studios und in Fabrikgebäuden befindlicher Wohnorte, das Ackerland in den Nordostgebieten, die historischen Mauerdörfer und die ländliche Gebiete – vielfach vom Staat und privaten Bauunternehmern gebrandschatzt und Stück für Stück zerstört werden. Dabei hallt die Gleichgültigkeit dieser ungehaltenen Staatsbürger wider.
Wenn die Liberalen jedenfalls erfolgreich ihre Kalte-Kriegs-Sprache einsetzen können und über die Notwendigkeit reden, die bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte gegen die eindringende Rote Flut zu verteidigen und wenn rechtspopulistische Aufrufe zur Verteidigung unserer unversehrten Identität Zugkraft bekommen, dann aus diesen tiefverwurzelten und eher banalen geschichtlichen Gründen. Schaut man sich den Zeitablauf dieses Kampfes an, wie er explodierte, als Bilder viral gingen, auf denen die Polizei junge Studenten zusammenschlägt und festnimmt – eine perfekte Wiederholung des Vorspiels der Regenschirmbewegung. Das passierte während einer Woche der jährlichen Mahnwache mit Kerzenlicht, zur Erinnerung an die am 4. Juni 1989 im Tiananmem-Massaker Getöteten. Man erinnert sich in Hongkong dieses Tages als einen, an dem Panzer gerufen wurden, um Studenten niederzuwalzen, die sich friedlich zu einem Appell für bürgerliche Freiheiten versammelt hatten. Man kann die Tiefe dieser Wunde, dieses Trauma in der Ausbildung der Volksseele, unmöglich übertreiben. Es kehrte wieder, als tausende Mütter sich in der Öffentlichkeit sammelten, um öffentlich um die verloren gegangene Zukunft ihrer Kinder zu trauern, die nun vom Schatten des kommunistischen Monoliths verfinstert wurde. Es war eine annähernd perfekte Widerspiegelung der Tiananmen-Mütter und die bloße Vorstellung, die Polizei könnte – nicht dereinst, sondern ein zweites Mal – das größte aller Tabus brechen und das Feuer auf die Jungen eröffnen, betäubt den Verstand.
In Anbetracht dessen wäre es naiv zu behaupten, dass schon Bedeutendes geschehen wäre, das darauf hinwiese, sie würden bereits dem „Würgegriff“ entkommen, den du so beschreibst, als würden die Liberalen von „Scholarist“ und rechtsgerichteten „Staatsbürger“ ihre Erzählung aufrechterhalten. Beide diese Fraktionen sind einfach Symptome einer zugrundeliegenden Bedingung, Aspekte einer Ideologie, die praktisch angegriffen und auseinander genommen werden muss. Vielleicht müssen wir uns dem aktuellen Geschehen als eine Art öffentlicher Psychoanalyse nähern, bei der die Psychopathologie unserer Stadt der vollen Sicht ausgesetzt ist und sollten die Aktionen, in die wir uns kollektiv einbringen, als eine Chance sehen, diese Traumata, Manien und Zwangskomplexe gemeinsam durchzuarbeiten. Es ist zweifellos bestürzend, dass die Dynamik und Moral dieses Kampfes über das ganze soziale Spektrum hinweg durch die ständige Anrufung des „Hongkonger Volk“ aufrechterhalten wird, das dazu angeregt werden soll, seine Heimat um jeden Preis zu schützen. Doch auch wenn diese zutiefst beunruhigende Einstimmigkeit viele Probleme verdeckt [3], akzeptieren wir doch die Turbulenzen und die Misere unserer Zeit und die Notwendigkeit in Umstände einzugreifen, die wir niemals selbst gewählt haben. Wie trostlos die Sache auch erscheinen mag, dieser Kampf bietet eine Chance für neue Begegnungen, für die Ausarbeitung neuer Grammatiken.
Bei der Straßenbesetzung in der Admiralität, nahe des Regierungsviertels gesehenes Graffiti, lautend: „Nimm eine Dose Farbe mit, es ist ein Mittel gegen Tollwut bei Hunden.“ Bullen werden hier im Volksmund als „Hunde“ bezeichnet.
Was ist aus dem Diskurs des guten Benehmens im Zwischenspiel zwischen der Regenschirmbewegung und jetzt geworden? Ist er geschrumpft, expandiert, zerfallen, hat er sich gewandelt?
Das ist eine interessante Frage. Das Wichtigste, das wir über die momentanen Ablauf sagen können, ist vielleicht und überraschenderweise folgendes: Als am 9. Juni, nach einem den Tag einnehmenden Marsch, eine kleine Gruppe von Protestierern versuchte, in das Parlament einzubrechen, wurde das nicht allgemein als ein Akt des Wahnsinns abgetan oder schlimmer, als das Werk von China oder von Polizeiprovokateuren. Man erinnere sich, dass am 9. und 12. Juni, bei den beiden bisherigen Versuchen, in den Legislativrat einzubrechen, die gesetzgebende Versammlung nicht tagte. Die Leute versuchten tatsächlich, in ein leeres Gebäude einzubrechen.
Und so sehr wir von vornherein Vorbehalte gegen die Wirksamkeit solcher Sachen haben [4], ist das doch außergewöhnlich, wenn man den Umstand bedenkt, dass der letzte Versuch hierzu unternommen wurde, während eine Beratung stattfand. (Innerhalb eines Protests gegen die Entwicklung in den Nordostgebieten kurz vor der Regenschirmbewegung.) Er wurde noch weithin verdammt und ignoriert. [5] Manche mögen die neue Akzeptanz dieses Vorgehens auf das Vermächtnis der Sonnenblumenbewegung in Taiwan [6] zurückführen, die eine große Inspiration für viele hier bleibt, andere mögen sagen, dass die sich abzeichnende Bedrohung einer Annexion durch China die Öffentlichkeit anstachelt, solche verzweifelten Maßnahmen zu befürworten, die sie ansonsten schelten würden.
Am Nachmittag des 12. Juni, als sich zehntausende Leute plötzlich Angriffen durch die Aufstandspolizei ausgesetzt sahen und krabbelten, um dem Bombardement von Plastikgeschossen und Tränengas zu entkommen, verurteilte niemand die maskierten Gruppen an der Front, die gegen die vorrückenden Polizeilinien zurückschlugen und die Tränengaskanister löschten, wenn sie landeten. Es bestand immer eine alte, scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen „friedlichen“ Protestierern (von den meisten unserer Seite abwertend als „friedliche, vernünftige, gewaltfreie Schwachköpfe“ bezeichnet) und den „kriegslüsternen“ Protestierern, die an die direkte Aktion glauben. Jede Seite tendiert dazu, die andere mit Geringschätzung zu sehen.
Protestierer transportieren Material für den Bau von Barrikaden. Das Graffiti an der Wand kann grob (und frei) mit „Hongkonger sind nichts mit dem man ficken kann!“ übersetzt werden.
Das Onlineforum lihkg fungierte für junge Leute als zentraler Ort, um zu organisieren, politische Wortgeplänkel auszutauschen und den Kampf betreffende Informationen in den Umlauf zu bringen. Zum ersten Mal widmeten sich eine ganze Reihe von Diskussionsfäden auf dieser Website der Heilung dieser Wunde oder man entwickelt dort zumindest Respekt für diejenigen, die nichts anderes tun, als jeden Sonntag auf den Märschen zu erscheinen – und sei es nur, weil Märsche, die in die Millionen gehen und Teile der Stadt vorübergehend zum Erliegen bringen, eine ziemlich große Sache sind, so todlangweilig sie auch in Wirklichkeit sein mögen. Das letzte Mal, als die Märsche annähernd so groß waren, trat ein Regierungschef zurück und die Änderung eines Gesetzes über die Meinungsfreiheit wurde auf Eis gelegt. Alle Arten von Gruppen versuchen, sich Weg zu auszudenken, mittels derer sie zum Kampf beitragen können. Am bemerkenswertesten ist vielleicht die Gemeinde der Christen, die sich vor den Polizeilinien am gesetzgebenden Rat versammelt und dieselbe Hymne eine Woche lang ohne Atempause gesungen hat. Diese Hymne wird wahrscheinlich als Refrain durch die Kämpfe der Zukunft widerhallen. Im Guten wie im Schlechten.
Bietet diese Besetzung eindeutige Öffnungen oder sind da Fluchtlinien, die Eingriffe ermöglichen würden, die die Macht der Polizei, des Gesetzes und der Ware untergraben, ohne ein militantes Subjekt hervorzubringen, das identifiziert und entfernt werden kann?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Trotz der Tatsache, dass Proletarier die überwiegende Mehrheit der diesen Kampf führenden Menschen ausmachen – Proletarier, denen das Leben durch seelenlose Jobs geraubt wird und die gezwungen sind, immer mehr von ihrem Lohn für die Zahlung der Mieten auszugeben. Diese gehen weiter durch die Decke, wegen umfassender, von Staatsbeamten und privaten Bauunternehmern (oft ein und dasselbe) durchgeführter Gentrifizierungsprojekte. Wie gesagt sehen viele den „Kapitalismus des freien Marktes“ als ein bestimmendes Merkmal der kulturellen Identität Hongkongs an, das es vom „roten“ Kapitalismus abgrenzt, der von der Kommunistischen Partei verwaltet wird. Die derzeitige Lage in Hongkong ist für manche Menschen alles andere als ideal. Wenn man „die Reichen“ sagt, ruft das Bilder von Tycoon-Monopolen hervor – von Kartellen und kommunistischen Speichelleckern, die einen dunklen Pakt mit der Partei geschlossen haben, um sich vom Blut der Armen zu nähren.
Genauso wie sich die Menschen leidenschaftlich für eine Regierung und für Institutionen begeistern, die wir zu Recht als „unsere eigenen“ bezeichnen können – ja, inklusive der Polizei –, wünschen sie sich einen Kapitalismus, den wir schließlich „unser eigen“ nennen können, einen Kapitalismus frei von Korruption und politischer Schikane und dergleichen. Es ist leicht, darüber zu schmunzeln, aber wie über jede Gemeinschaft, die sich um einen Gründungsmythos herum sammelt, bei dem vor Verfolgung fliehende Pioniere unter Opfern und mit harter Arbeit ein Land der Freiheit und des Überflusses aufbauen… Es ist es leicht zu verstehen, warum diese Fixierung die Vorstellungskraft so fest im Griff hat.
In dieser Stadt wird die Initiative des Unternehmers, die Privatwirtschaft vehement verteidigt und jede Art von Schwindel als Möglichkeit verstanden, den Lebensunterhalt zu verdienen, als Taktik im mit Klauen und Zähnen geführten Kampf ums Überleben. Dieses verbissene Lebensgefühl als Überleben ist in unserer Rede allgegenwärtig; wenn wir von „arbeiten“ sprechen, verwenden wir den Begriff „搵食“, der wörtlich bedeutet, nach unserer nächsten Mahlzeit suchen. Dies erklärt, warum es die Protestierer traditionell sehr sorgfältig vermieden, die Arbeitermassen vor den Kopf zu stoßen, etwas durch Aktionen wie die Blockade einer Straße, die von Bussen benutzt wird, die arbeitende Leichen zurück nach Hause transportieren.
Obwohl wir verstehen, dass ein Großteil unseres Lebens mit der Arbeit beschäftigt und von ihr verzehrt wird, wagt es niemand, die Verweigerung der Arbeit vorzuschlagen, um sich der Demütigung zu widersetzen, als Produzent-Konsument unter der Herrschaft der Ware behandelt zu werden. Die Polizisten werden angeklagt, „Laufhunde“ eines bösen totalitären Imperiums zu sein, statt dafür, was sie tatsächlich sind: die Fußsoldaten des Eigentumsregimes.
Neu an der gegenwärtigen Lage ist, dass jetzt viele Menschen akzeptieren, dass Solidaritätshandlungen mit dem Kampf, wie klein auch immer [7], zur Verhaftung führen können. Sie sind darauf vorbereitet, diese sich ändernde Linie zwischen Legalität und Illegalität zu betreten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir das Auftauchen einer Generation erleben, die auf Gefangenschaft vorbereitet ist, etwas das früher auf „professionelle Aktivisten“ beschränkt war, die an der Spitze der sozialen Bewegungen standen. Gleichzeitig gibt es keine Diskussion darüber, was die Gesetzeskraft ist, wie sie funktioniert oder über die Legitimität der Polizei und der Gefängnisse als Institutionen. Die Menschen haben einfach das Gefühl, das Gesetz übertretende Maßnahmen ergreifen zu müssen, um die Heiligkeit des Gesetzes zu wahren, das von den Cowboys der kommunistischen Korruption verletzt und entehrt wurde.
Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass dies das erste Mal ist, dass Vorschläge für Streiks in verschiedenen Sektoren und für Generalstreiks in Bezug auf ein Thema gemacht wurden, das oberflächlich gesehen nichts mit Arbeit zu tun hat.
Unsere Freunde von der „Hausfrauen gegen Auslieferung“-Sektion des Marsches am 9. September. Das Bild zeigt eine Gruppe von Hausfrauen und Tanten, von denen viele zum ersten Mal auf der Straße waren.
Wie reproduzieren sich im Kontext von Hongkong die Barrikaden und Besetzungen wie die vor wenigen Tagen?
Barrikaden sind jetzt schlicht üblich. Immer wenn sich massenhaft Menschen mit der Absicht versammeln, ein bestimmtes Territorium zu besetzen, um eine Front zu eröffnen, werden schnell und effektiv Barrikaden errichtet. Es gibt ein schleichendes Gefühl, dass Besetzungen routinemäßig und vergeblich werden, körperlich anstrengend und letztendlich ineffizient. Das Interessante an diesem Kampf ist, dass die Menschen wirklich viel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, was „funktioniert“, was den geringsten Arbeitsaufwand erfordert und was die maximale Wirkung erzielt, um Teile der Stadt zu lähmen oder um die Zirkulation zu unterbrechen, und nicht darüber, was die größte moralischer Anziehungskraft auf eine imaginäre „Öffentlichkeit“ hat, die sich alles aus der Sicherheit des Wohnzimmers ansieht – oder gerade umgekehrt, nicht darüber, was sich am kämpferischsten „anfühlt“.
Es gab viele populäre Vorschläge für „nicht kooperative“ Alltagsaktionen. Etwa die Störung einer ganzen U-Bahn durch miteinander abgestimmte Gruppen von Freunden, mit dem Ziel, die Autos für einen ganzen Nachmittag samt Personen und Gepäck zu stauen. Oder dass man die Ersparnisse von den Sparkonten abhebt und die Bankkonten kündigt, um eine Inflation zu erzeugen. Einige haben Vorschläge verbreitet, wie man sich davor drücken kann, den Rest seines Lebens Steuern zu zahlen. Dies scheint nicht viel zu sein, aber interessant daran ist die unablässige Verbreitung solcher Anregungen aus allen möglichen Vierteln und von Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen. Vorschläge wie Menschen auf eigene Initiative handeln können, da wo sie leben oder arbeiten und in ihrem täglichen Leben, anstatt sich den „Kampf“ so vorzustellen, dass er ausschließlich von maskierten, kräftigen Jugendlichen auf der Straße geführt wird.
Welche Kritik einem auch immer an den bisherigen Ereignissen einfällt, diese ungeheuerliche Übung in Schwarmintelligenz ist wirklich unglaublich beeindruckend – eine Aktion kann in einer Nachrichtengruppe oder in einem anonymen Strang eines Internetforums vorgeschlagen werden, ein paar Leute organisieren sich, um es zu machen, und so ist es ohne viel Aufhebens oder Fanfare gemacht. Formen machen die Runde und vervielfachen sich, sobald andere Gruppen sie ausprobieren und modifizieren.
Im Westen haben Leninisten und Maoisten Zeter und Mordio über eine „CIA Psyop“ oder „westlich gestützte Farbenrevolution“ geschrien. Haben vorherrschende Kräfte in Hongkong das Motiv vom „von außen kommenden Agitator“ beschworen, am Boden und auf narrativer Ebene?
Eigentlich ist das die offizielle Linie der Regierungschefin, die wiederholt erklärt hat, dass sie die Ereignisse der vergangenen Woche als aufrührerisches Verhalten betrachtet, angestiftet von ausländischen Interessen, die eine „Farbenrevolution“ in der Stadt durchführen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie diese Aussage jetzt wiederholen würde, nachdem sie sich öffentlich dafür entschuldigt hat, durch ihre Entscheidungen „Widersprüche erzeugt zu haben“ und Zwietracht. Aber wie auch immer: Es ist urkomisch, dass Tankies die exakt gleiche Meinung haben wie unsere formelles Staatsoberhaupt.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass verschiedene prodemokratische NGOs, Parteien und Denkfabriken amerikanische Mittel erhalten. Das ist keine geheime Verschwörungstheorie, die nur Tankies kennen. Aber diese Panzer erwecken die Vorstellung, dass die die Märsche koordinierende Plattform – ein breites Bündnis von politischen Parteien, NGOs und dergleichen – auch die ideologische Speerspitze und Architektin der „Bewegung“ ist. Das ist einfach ein riesiges Missverständnis. Diese Plattform wurde von der sich überall um uns herum bildenden Tendenz zur „direkten Aktion“ weithin angeprangert, diskreditiert und verspottet, und erst in jüngerer Zeit gibt es, wie oben erwähnt, leicht neidische Threads im Internet, die ihnen ein indirektes Lob dafür anbieten, dass sie in der Lage waren, die Märsche zu koordinieren, die auch wirklich etwas erreichen. Wenn die Tankies nur aufhören würden, alle wie stumpfsinnige neokoloniale Schafe zu behandeln, die auf kryptischen Geheiß der westlicher imperialistischer Geheimdienste handeln.
Das gesagt wäre es unehrlich, wenn wir nicht erwähnten, dass es neben den Diskussionsfäden auf den Nachrichtenbrettern, in denen die Feinheiten der Taktik der direkten Aktionen im Ausland diskutiert werden, auch Threads gibt, die jedermann auf die Tatsache aufmerksam machen, dass Stimmen im Weißen Haus ihre Ablehnung des Gesetzes zum Ausdruck gebracht haben. Einige haben das sogar gefeiert. Außerdem geht auf Facebook eine wirklich verrückte Petition um, die Leute dazu bringen soll, beim Weißen Haus um ausländische Interventionen zu bitten. Ich bin sicher, man würde diese Art von Dingen in jedem Kampf dieser Größenordnung in einer nicht-westlichen Stadt sehen. Sie sind keine schlagende Beweise für eine imperialistische Manipulation, sondern Randerscheinungen, die bislang nicht die treibende Kraft hinter den Ereignissen sind.
Tauchten irgendwelche die Lage charakterisierenden Parolen oder Wortschöpfungen auf, ein neuer Jargon, beliebte Redewendungen oder lustige Sätze?
Ja, viele, wenn wir auch nicht sicher sind, wie wir sie übersetzen würden. Aber die Macht, die diese Meme erzeugt und all diese WhatsApp- und Telegrammaufkleber und Schlagworte inspiriert, ist eigentlich die Polizei.
Neben dem, dass sie Menschen mit Plastikkugeln in die Augen schoss, ihre Schlagstöcke herum schleuderte und wahllos Tränengaskanister auf die Köpfe und in die Leistengegend feuerte, fand sie auch die Zeit, einige wirklich klassische Perlen von sich zu geben, die ihren Weg auf T-Shirts gefunden haben. Eines dieser bons mots ist die eher unselige und politisch inkorrekte „liberale Fotze“. In der Hitze eines Gefechts zwischen Polizei und Protestierern nannte ein Polizist jemanden an der Front mit diesem Beinamen. Unglücklicherweise drehen sich alle unsere kantonesischen Schimpfwörter um männliche und weibliche Geschlechtsteile. Wir haben ziemlich viele Worte für die privaten Teile. Auf Kantonesisch klingt diese Formulierung nicht so gravierend wie auf Englisch. Auf Kantonesisch zusammen gesagt klingt „liberal“ und „Fotze“ geradezu lustig.
Gibt es irgendwelche Verbindungen zwischen diesem Aufruhr und den Fischkloß-Unruhen oder der Hongkonger Unabhängigkeitsbewegung vor einigen Jahren?
Die „Fischkloß-Unruhen“ waren in vielerlei Hinsicht eine anschauliche Lektion, insbesondere für Menschen wie uns, die wir uns als Zuschauer wiederfanden, in einiger Entfernung von den beteiligten Personen. Es war eine krampfartige Explosion der Wut gegen die Polizei, ein völlig unerwartetes Nachbeben nach dem Zusammenbruch der Regenschirmbewegung. Eine ganze Partei verdankt diesem Aufruhr ihre Karriere: die „Hong Kong Indigenous“ [8], einst allerorten die Lieblinge der rechten Jugend. Sie stellten absolut sicher, dass jeder von ihrer Teilnahme wusste, sind in Uniform aufgetaucht und schwenkten vor Ort ihre königsblauen Fahnen. Sie wurden ins Amt gewählt, ausgeschlossen und inhaftiert – eines der zentralen Mitglieder sucht nun Asyl in Deutschland, wo seine Ansichten über die Unabhängigkeit von Hongkong erheblich weicher wurden, nachdem er mit deutschen Grünen herumgehangen war. Diese Erinnerung ist frisch bei den Leuten, die wissen, dass das oberstes Gebot jetzt in Unsichtbarkeit besteht.
Wie hat sich die Freilassung von Joshua Wong ausgewirkt?
Wir sind uns nicht sicher, wie überrascht Leser aus Übersee sein werden, wenn sie, nachdem sie vielleicht diesen schrecklichen Dokumentarfilm über Joshua Wong auf Netflix gesehen haben, erfahren, dass seine Freilassung gar keine große Fanfare anregte. Demosisto sind nun tatsächlich das „linke Plastik“ in einer neuen Menge von Schülern.
Funktionieren populistische Fraktionen als echte Kraft der Wiedereingemeindung/Rekuperation?
All das von uns oben Geschriebene illustriert, dass, während der Kampf derzeit jeder etablierten Gruppe, Partei und Organisation entglitten ist, sein Inhalt per default populistisch ist. Der Kampf hat ein weitläufiges Ausmaß angenommen und einen großen Umfang von Akteuren hineingezogen. Im Augenblick weitet er sich von Minute zu Minute aus. Es wird jedoch wenig darüber nachgedacht, dass viele derjenigen, die am offensichtlichsten und unmittelbar vom Gesetz betroffen sind, Aktivisten sein werden, deren Arbeit auf der anderen Seite der Grenze stattfindet – die zum Beispiel mit den Arbeitern in Shenzhen zusammenarbeiten oder ihnen Unterstützung anbieten.
Niemand ist sich ganz sicher, was die tatsächlichen Auswirkungen des Gesetzes sind. Sogar die von professionellen Anwälten verfassten Berichte weichen weit voneinander ab, und dies gibt den Presseerzeugnissen, die sich als „Stimmen des Volkes“ [9] labeln, reichlich Raum, um das gesamte Thema als bloße Frage der Gefährdung der verfassungsmäßigen Autonomie Hongkongs zu fassen, während die ganze Stadt sich in Aufruhr gegen die Auferlegung eines allumfassenden Überwachungsstaates befindet.
Beim Durchlesen der Foren und wenn man mit Leuten über den Regierungsapparat spricht, könnte man denken, dass die Einführung dieses Gesetzes dazu führen könnte, dass online geäußerte abweichende Meinungen oder anstößige Textnachrichten an Freunde auf dem Festland zur Auslieferung führen könnten. Dies ist nach dem Wortlaut des Gesetzes keineswegs der Fall. Aber die Ereignisse der letzten Jahre – während derer Buchhändler in Hongkong verschwunden sind, weil sie auf dem Festland verbotene Veröffentlichungen verkauften, und Aktivisten in Hongkong beim Grenzübertritt festgenommen und jedes Kontakts beraubt wurden – bieten wenig Anlass, einer Partei zu vertrauen, die bereits dafür berüchtigt ist, Anklagen auszuhecken und gegen den Buchstaben des Gesetzes zu verstoßen, wann immer dies zweckmäßig ist. Wer weiß, was sie tun wird, sobald die behördliche Genehmigung erteilt wurde?
Paranoia setzt immer dann ein, wenn das Thema China aufkommt. Am Abend des 12. Juni, als sich die Tränengaswolken zu klären begannen, wurde der Gründer einer Telegram-Nachrichtengruppe mit über 10.000 aktiven Mitgliedern von der Polizei verhaftet, die ihm befahl, sein Telefon zu entsperren. Seine Zeugenaussage enthüllte, dass ihm gesagt wurde, sie würden, wenn er sich weigerte, sein Telefon trotzdem hacken. Später berichteten die Nachrichten, dass er zu der Zeit ein Xiaomi-Telefon benutzte. Diese Nachricht ging viral und viele kommentierten, dass seine Wahl des Telefons sowohl gewagt als auch idiotisch war, da es der städtischen Legende zufolge bei Xiaomi-Telefonen nicht nur eine „Hintertür“ gibt, durch die Xiaomi auf die Informationen auf jedem seiner Telefone zugreifen und die Kontrolle über die darin enthaltenen Informationen übernehmen kann, sondern dass Xiaomi – da es seine Server in China hat – alle auf seiner Cloud gespeicherten Informationen in die Datenbank der Parteioberhäupter lade. Es ist vergeblich nahezulegen, dass Benutzer, denen solche Dinge Sorgen bereiten, Maßnahmen ergreifen können, um Hintertüren abzudichten, oder vorzuschlagen, dass man das im Hintergrund stattfindende Entweichen von Informationen feststellen kann, indem man schlicht den Datenverbrauch auf ihrem Telefon untersucht. Xiaomi wird effektiv als ein meisterhaft entwickeltes kommunistisches Ortungsgerät angesehen, und Streit darüber ist nicht länger technisch, sondern bis zum Aberglauben ideologisch.
Diese „Post-Wahrheit“-Dimension dieses Kampfes macht, zusammen mit all den psychopathologischen Faktoren, die wir oben aufgezählt haben, alles Geschehende so viel verwirrender und überwältigender. Schon so lange ist die Fantasterei der Antrieb der sozialen Kämpfe dieser Stadt – der Traum einer nationalen Gemeinschaft, weltgewandt, frei denkend, zivilisiert und alle haben Teil an den negativen Freiheiten, die das Gesetz bietet. Die Fantasien der Wahldemokratie… Wann immer diese zustimmenden Phantasiegebilde auf dem Spiel stehen, werden sie in der Öffentlichkeit massenhaft verteidigt und inszeniert, und die Verkäufe für „Ich bin Hongkonger“ [sic] gehen durch die Decke.
Dies verleiht der Vorgehensweise, bei aller Radikalität und Dezentralität der neuen Aktionsformen, einen ausgesprochen konservativen, reaktionären Geschmack. Uns als Kollektiv bleibt da nur übrig, nach Wegen zu suchen, diese Fantasiegebilde zu untergraben, ihre Leere an Form und Inhalt aufzudecken und vorzuführen.
Es fühlt es sich zurzeit unwirklich an, dass jeder um uns herum sich so sicher und klar darüber ist, was sie tun müssen – sich diesem Gesetz mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu widersetzen –, während die Gründe dafür hoffnungslos dunkel bleiben. Es könnte durchaus sein, dass diese erstickende Trübung vorerst unser Los ist, in dieser Phase, die auf mehr Handeln und weniger Reden basiert und auf der unermüdlichen Notwendigkeit, mit dem sich beständig beschleunigenden Informationsfluss schrittzuhalten und in ihm zu agieren.
In vielerlei Hinsicht ist das, was wir um uns herum sehen, eine Erfüllung dessen, wovon wir seit Jahren geträumt haben. So viele beklagen den „Mangel an politischer Führung“, den sie als schädliche Angewohnheit ansehen, die sich über die Jahre gescheiterter Bewegungen entwickelt hat. Aber die Wahrheit ist, dass diejenigen, die es gewohnt waren, Protagonisten von Kämpfen zu sein, uns selbst als Kollektiv eingeschlossen, von den Ereignissen überholt wurden. Es handelt sich nicht länger um eine winzige Szene von Aktivisten, die eine Reihe von Taktiken und Programmen aushecken und versuchen, diese an die Öffentlichkeit zu vermarkten. „Die Öffentlichkeit“ tritt überall um uns in Aktion, tauscht auf Foren Verfahren aus, entwickelt Wege, um der Überwachung und um jeden Preis einer Verhaftung zu entgehen. Es ist jetzt möglich, an einem Nachmittag mehr über die Bekämpfung der Polizei zu lernen als wir in einigen Jahren.
Ist es möglich, inmitten dieser atemlosen Beschleunigung einen anderen Rhythmus einzuführen, in dem wir uns auf eine kollektive Betrachtung dessen einlassen können, was aus uns geworden ist und was wir werden, wenn wir uns in den Tumult stürzen?
Wir stehen hier wie immer, kämpfen an der Seite unserer Nachbarn und suchen leidenschaftlich nach Freunden.
Quelle: CrimethInc.
Handgeschriebene Aussagen von Protestierern, durchnässt nach einem Nachmittag heftigen Regens.
Anmerkungen:
[1] „Scholarism (chinesisch 學民思潮) war eine Studentenbewegung, welche 2011 von den Oberstufenschülern Joshua Wong und Ivan Lam Long-yin als Reaktion auf die geplante Einführung des Schulfaches ‚Moralische und Nationale Erziehung‘ gegründet wurde und von Joshua Wong angeführt wurde. Die Gruppe erlangte breite internationale Aufmerksamkeit durch ihre Teilnahme an den Protesten in Hongkong 2014. Nachdem sich die Bewegung im März 2016 aufgelöst hatte, schlossen sich mehrere Schlüsselpersonen der Bewegung der neuen, von Joshua Wong gegründeten Partei Demosistō an.“ (Die Freie Enzyklopädie. Hinzugefügt durch den Übersetzer.)
[2] Nachdem wir den Vorentwurf dieses Artikels diskutiert hatten, erhob eine von uns Bedenken gegen dieses Statement und erklärte, dass es sich um keine völlig genaue Darstellung der Ereignisse handelt. Während viele tatsächlich diese Anweisungen derjenigen mit den Mikrophonen ignoriert hätten, waren andere empfänglich für sie und zogen sie in Betracht, während sie auch Informationsströme über verschiedene Nachrichtenkanäle empfingen. Man muss sich ins Gedächtnis rufen, dass ein wesentlicher Teil der die Straßen nehmenden Leute da zum ersten Mal war und ziemlich oft von Panik überwältigt werden konnte – da waren zum Beispiel Szenen, bei denen junge Menschen direkt gegenüber der Polizeilinie mit Heulanfällen zusammenbrachen und von anderen aus der Schusslinie gebracht werden mussten. Es ist auch lohnenswert, unsere eigenen Erfahrungen vom 21. Juni zu beschreiben, als Protestierer mehrere Blockaden von Regierungsgebäuden organisierten, nachdem es die Regierungschefin unterlassen hatte, auf ein öffentliches Ultimatum zu antworten. Dieser Nachmittag verwickelte Hunderte Protestierer, die auf spontane Weise schnell darin waren, Vorschläge zu unterbreiten, zu diskutieren, einzuschätzen und Entscheidungen zu treffen. Das überführt Andeutungen der Lüge, diese neue Generation vermeide Diskussionen aus Angst vor Vereinnahmung. Natürlich gibt es dubiose Phänomene in dieser Bemühung, Formen der Entscheidungsfindung in Volkskämpfe einzuführen – die Besetzung des Eingangs des Hongkonger Polizeihauptquartiers, die sich in den Abend zog, wurde zu einem kleinen Debakel, als eine Debatte darüber, ob man diese Besetzung weiterführen sollte, zu einer umkämpften Abstimmung gestellt wurde. Auch fragt man sich, ob die kopf- und gestaltlose Natur der Bewegung, die aus Anfängern zusammengesetzt ist, die die Sachen so machen, wie sie kommen, sie nicht anfällig für Gefangennahmen macht – An diesem Nachmittag des 21. Juni war es Joshua Wong, der die verstreuten Einheiten der Protestierer dazu sammelte, sich vor dem Polizeihauptquartier aufzustellen. Wir vermuten, dass dies mehr mit dem Umstand zu tun hatte, dass alle ohne klare Idee davon, was sie tun könnten, in diesem Gebiet auftauchten, als mit der Person Joshua Wong selbst. Aber man wundert sich immer noch.
[3] Wenn wir über die Probleme reflektieren, die von der scheinbaren Einstimmigkeit der „Hongkonger“ verborgen werden, könnten wir damit anfangen nachzufragen, wer von diesem Konzept als Eigentümer der Stadt gesehen wird und wen dieses eingebildete Subjekt umfasst. Wir haben auf der Straße nepalesische und pakistanische Brüder und Schwestern gesehen, aber sie zögern, ihre Anwesenheit bekannt zu machen, aus Angst, beschuldigt zu werden, von der Polizei angestellte Schläger zu sein.
[4] „Diese Orte der institutionalisierten Macht üben eine magnetische Anziehung auf die Revolutionäre aus. Aber wenn es die Aufrührer schaffen, in ein Parlament, in den Präsidentenpalast oder in andere Hauptquartiere der Institutionen einzudringen, wie in der Ukraine, in Libyen oder in Wisconsin, dann nur, um leere Orte zu entdecken, von jeder Macht verlassen und geschmacklos eingerichtet. Nicht weil man das ‚Volk‘ davon abhalten will, ‚die Macht zu übernehmen‘, hindert man es so heftig an der Einnahme solcher Orte, sondern um es von der Erkenntnis abzuhalten, dass die Macht nicht länger in diesen Institutionen wohnt. Da sind nur verlassene Tempel, still gelegte Festungen, nichts als Bühnenbilder – wirkliche Fallen für Revolutionäre“ – Das Unsichtbare Komitee. An unsere Freunde.
[5] Übrigens war dieser Versuch viel spontaner und erfolgreicher. Die Polizei wird sich kaum vorgestellt haben, dass Menschenmassen, die eben noch friedlich mit den Köpfen in den Händen gesessen hatten und sich hilflos fühlten, als die Entwicklung amtlich bestätigt wurde, plötzlich die Türen des Rates mit Gewalt zu stürmen suchten und einige Fenster zerbrachen.
[6] „Die Sonnenblumen-Bewegung (chinesisch 太陽花學運, Pinyin Tàiyánghuā xuéyùn) war eine vorwiegend studentische Protestbewegung in Taiwan vom 18. März bis zum 10. April 2014, während der das Parlamentsgebäude (der Legislativ-Yuan) in Taipeh von etwa 400 Demonstranten 24 Tage lang besetzt gehalten wurde.“ (Die Freie Enzyklopädie. Hinzugefügt durch den Übersetzer.)
[7] In der Nacht des 11. Juni wurden alle jungen Kunden in einem McDonalds in der Admiralität durchsucht und ihre Personalien aufgenommen. Am 12. Juni ging ein Video viral, das einen jungen Mann zeigt, wie er den Protestierern eine Kiste Wasserflaschen brachte und dabei brutal von einem Polizeitrupp mit Schlagstöcken zusammengeschlagen wurde.
[8] „Hong Kong Indigenous (Chinesisch: 本土民主前線) ist eine radikale, nativistische politische Gruppe, gegründet 2015. Sie ist für ihren lokalistischen Standpunkt und ihre kämpferischen Proteste bekannt. Sie war in Protesten aktiv und in gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei verwickelt. Darunter die Proteste gegen Parallelhandel und die Mong-Kok-Unruhen. Ray Wong Toi-yeung ist der ehemalige Obmann und die Schlüsselfigur dieser Gruppe“ (Die Freie Enzyklopädie. Hinzugefügt durch den Übersetzer.)
[9] Das beinhaltet, um zwei recht unterschiedliche Beispiele zu geben, die populistische, fremdenfeindliche und vehement antikommunistische Apple Daily und die „Hong Kong Free Press“, ein unabhängiger englischer Online-Schund der Fraktion der „wütenden Liberalen“, betrieben von Auswanderern mit Nähe zu jungen lokalistischen/nativistischen Führern.