Franz Hahn
Über Sinn und Unsinn einer akademischen Laufbahn in kritischer Absicht
Deutschland ist traditionell ein Land der Theorie: „Während die französische Bourgeoisie sich durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herrschaft aufschwang und den europäischen Kontinent eroberte, während die bereits politisch emanzipierte englische Bourgeoisie die Industrie revolutionierte und sich Indien politisch und die ganze andere Welt kommerziell unterwarf, brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum »guten Willen«.“ Bismarck, Wilhelm oder Hitler bzw. in neuerer Zeit Kohl, Schröder oder Merkel konnten daran nichts ändern: es gibt in Deutschland im Allgemeinen nur eine beschämende Praxis und daher den guten Willen. Bei den zahlreicher werdenden Studenten manchmal den Willen, ein kritischer Promotionsstudent zu sein. Das kann ganz gut gehen, solange Deutschland ein Krisengewinner bleibt, solange keine ernsten Probleme auftauchen. Und für Studenten gibt es in unserer zentraleuropäischen Blase bislang nicht so wirklich große Probleme, wenn sie nur ihr Studium abschließen. Zwar gibt es inzwischen Akademiker mit niedrigen Löhnen, hinter einer Bar oder auch mal einen Taxifahrer. Aber nur 2,4% der Akademiker sind ohne Arbeit und so lebt es sich ganz gut mit einem akademischen Abschluss. Das bisschen Praktikum und Volontariat. Und wenn man dazu noch promoviert, dann kann man noch etwas länger eine halbwegs ruhige Kugel schieben und bekommt sogar statistisch gesehen mehr Geld pro Stunde Dienst. Und die Leute hinter der Bar wiederum machen das auch oft nur, weil sie gar keine Lust auf den Lebenslauf eines Akademikers haben und eben nicht Anwalt, Politikberater, Gewerkschaftler, Unternehmensberaterin, Psychologin, Architekt werden wollen oder als was man sich so an der Uni zurichten kann. Viele bekommen auch ein Kind. Vielleicht waren die Siebziger und Achtziger für all das noch einfacher, aber bei allem Genörgel und Gejammer über die Austerität: Die ist hier nicht wirklich angekommen, wenigstens nicht bei den Akademikern in der „Bildungsrepublik Deutschland“ (Merkel).
Kein besonderes Problem also heute mit den den deutschen Studenten. Verträgliche Zeitgenossen. Man kann sich also sophistischen Fragen widmen und etwa über den Sinn und Unsinn einer akademischen Laufbahn in kritischer Absicht sinnieren. Was ist der Sinn oder Unsinn einer akademischen Laufbahn? Was ist eine akademische Laufbahn? Der unaufhaltsame Weg vom Studenten zum Professor? Wohl selten. Aber man kann natürlich nach dem Studium promovieren. Normalerweise macht man das, weil man sich im weiteren Sinne bei der beruflichen Laufbahn einen Vorteil erhofft. Die meisten, die das tun, sind Juristen, Ärzte und Ingenieure. Über die rede ich hier weniger. Es gibt aber auch sogenannte linke Studenten in gefühlt brotlosen Fächern und die träumen manchmal davon, Professor zu werden. Eigentlich ist das einfach eine Abwehr gegen den freien Markt. Der Professor riecht ein wenig nach mühelosem Einkommen auf Staatskosten und man ist, wenn man es denn schafft, diese ganze Marktwirtschaft los, die gerade den linken Studenten im Nacken sitzt. Die können nämlich ihre Angst vor der kapitalistischen Lohnarbeit dadurch noch verdoppeln, dass sie sie durch ihre irgendwie kritische Sicht der Dinge rationalisieren. Sie haben nicht nur Angst, sie wollen sich dieser auch nicht stellen. Aber dann brauchen auch sie irgendwann Geld und die öden oder blöden studentischen Nebenjobs sind keine Perspektive und manchmal an den Status als Student gebunden. Dieser ist andererseits der einzige Status, den der linke Student kennt und den will er behalten. Also geht es auch hier öfters um den Sinn und Unsinn einer akademischen Karriere. Von früher her weiß man, dass in Deutschland eine gewisse Menge linker Professoren zugelassen wurden, weil ja das sogenannte Protestpotential irgendwo hin musste. Aber das klappte schon damals nur für die wenigsten und heute ist das eine absurde Phantasie. (Religion eignet sich wahrscheinlich noch am besten für eine kritische, akademische Laufbahn, wobei man dann besser anarchistischer Pfarrer werden sollte, was wahrscheinlich lustiger ist.) Aber es gibt ja auch noch den Mittelbau, seltsame Sonderforschungsprojekte oder so etwas wie die Herausgabe und Edition von Werken, vielleicht von einem staatlichen Topf gefördert. Das ist die vage Aussicht. Prekär ist es eh und wenn die Projekte auslaufen und keine Verlängerung ansteht, entpuppt sich das mehr als Galgenfrist. Dann merken plötzlich Enddreißiger, dass sie, um zu leben, irgend eine gesellschaftlich anerkannte, sprich bezahlte Arbeit brauchen und dann helfe ihnen Gott. Oder momentan noch das Harz IV oder wie man diesen Mechanismus der unmittelbaren Staatsabhängigkeit gerade nennt. Die Arbeit der Dissertation selbst ist dabei auch nicht besonders vergütet und für viele sehr nervenaufreibend. Es wird viel zu viel Zeit auf diese öden Themen verschwendet, denn schreiben kann keiner und man soll auch nicht gut schreiben, sondern in einem öd akademischen Stil. Die ganze Sache ist dabei auch eine Selbstdisziplinangelegenheit und diese Leute stehen oft freiwillig früh auf und lesen noch das allerletzte Sekundärgeschreibsel in 8-Stundenschichten und machen Sport. Am Ende liest dann keiner diese Arbeiten und selbst der Lit-Verlag, der sich auf diese Gattung spezialisiert hat, nimmt i.d.R. Geld, damit er das überhaupt druckt. Das wiederum machen die Studenten manchmal, um etwas im Lebenslauf eintragen zu können: Ein Publikation, so sinnlos kann das Studium dann ja nicht gewesen sein.
Der linke oder auch kritische Student hat aber außerdem manchmal den Traum, dass gerade sein kritisches Denken im Grunde gebraucht wird und stützt sich dabei vage auf den sehr ernstzunehmenden Umstand, dass es ernstzunehmende Kritik gerade gar nicht gibt. Aber das rettet den kritischen Studenten nicht. Wenn er fleißig ist, schafft er es tatsächlich ein kritisches Buch zu veröffentlichen, beim Dampfbootverlag oder auch bei theorie.org. Aber es ist ja schon viel geschrieben worden. Manchmal gehen diese kritischen Bücher auf Dissertationen zurück und das wäre dann wohl eine akademische Laufbahn in kritischer Absicht. Eine der Illusionen dürfte darin bestehen, dass viele sich einbilden, diese Gesellschaft wäre noch zu wenig erforscht oder es bedürfe sehr komplizierten Denkens, um diese Gesellschaft zu verstehen. Es ist sehr schwer unsere Gesellschaft loszuwerden und das menschliche Zusammensein kollektiv so zu organisieren, dass die Individuen zum Beispiel nicht gezwungen ist, ihre Hände und Köpfe zu verkaufen, damit andere bestimmen, was sie jeweils denn tun sollen. Und das auch noch nach Maßgabe der Kapitalverwertung! Verstehen kann man das im Grunde leicht. Es gibt Gründe, warum wir uns heute weitgehend dumm halten und tatsächlich leidet die Konversation unter dieser Selbstverdummung. Aber das liegt sicher nicht am komplizierten Gegenstand, sondern folgt einfach aus der objektiven Ohnmacht und der Angst vor den Konsequenzen jeder auch nur partikularer Einsicht.
Also es geht beim kritischen Studieren jedenfalls nicht um die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden. Rücksichten muss man im akademischen Betrieb sehr viele nehmen. Sklavensprache. Eher drückt man sich sehr verständlicherweise vor der wirklichen Welt und versucht dabei dem Leben einen Sinn zu verleihen, indem man sich einbildet, über ein Thema kritisch zu arbeiten, irgendeinen Aspekt zu analysieren, den so keiner analysiert hat und der wichtig sei. Z. B. irgendeinen Aspekt der Geschichte, als Linker am besten die Verfolgung einer Minderheit. Dann gibt es sogar die Möglichkeit im Political-Correctness-Gewerbe unterzukommen und etwa in der europäisch geförderten antirassistischen Bildungsarbeit zu wirken. Oder man schlüpft in einer Gedenkstätte unter. Und dabei, so oft das Argument, macht man im Grunde etwas, das man wirklich will und das Gewissen ist auch kaum angekratzt. Wenn schon arbeiten, so doch bitte etwas Befriedigendes. Aber das ist Ideologie, kaum geglaubte Selbsttäuschung und die Sozialstatistik könnte mühelos herausbringen, dass Promovierende, wie man sie heute nennt, auch nicht glücklicher sind und dabei sicher nichts Interessantes aus ihrem Arbeitsleben erzählen können. Spätestens nach ein paar Jahren Arbeit sehen die meisten die Sache nüchterner.
Wenn man also eine Doktorarbeit schreibt, dann besser nur, wenn es einem wirklich etwas für einen Job helfen könnte. Denn wie sagte es neulich der ehrwürdige Präsident einer dieser Berliner Ausbildungswerke: „Wer heute als erfolgreich wahrgenommen werden will, braucht den Doktortitel.“ Kann sein und gut ist. Allerdings formt auch in diesem Fall die Arbeit den Körper und je ernster man sie nimmt, desto schlimmer steht es danach mit der Denkfähigkeit gerade über das Thema, zu dem man sich einen länglichen Aufsatz aus den Fingern saugte. (Und es fällt vielen Doktoranden sehr schwer, Sätze zu schreiben und es ist unmenschlich, dass sie es krampfhaft versuchen müssen.) Aber man kann Dissertationen tatsächlich auch nebenher erledigen und dabei noch ein Kind haben, Psychoanalytikerin werden etc. Man kann davon halten was man will, aber wenn man wirklich auf etwas mehr Geld aus ist, kann sich das sogar auszahlen, schreibt zumindest jemand in der Zeit: „Der Median des Erwerbseinkommens der vollzeitbeschäftigten Promovierten im Erwerbsalter lag zwischen 2006 und 2010 im Schnitt bei 2.874 Euro. Die nicht promovierten Akademiker erzielten dagegen nur ein Medianeinkommen von 2.250 Euro monatlich.“ Also das geht, ist aber sicher nicht kritisch. Und man sollte sich diesen Lebensweg sehr genau überlegen. Man kann auch einen normalen Job machen wie Buchhändlerin und vielleicht lebt man dann glücklicher. Oder man nimmt das Stipendium, sucht sich ein Thema, dass leicht von der Hand geht - Philosophie oder Politik eignet sich da besser als z.B. Geschichte. Und schon hat man drei Jahre Zeit für anderes. Z. B. Kritik oder Alkohol.
Kritik, was auch immer das sei, macht man jedenfalls am besten außerhalb der Uni. Alle relevanten Anstöße kommen und kamen eigentlich von außerhalb der Uni und die wenigen Leute wie Adorno oder Agnoli, die trotz Unititel etwas beitragen konnten, sind aus einer anderen Generation und oft schon gestorben. Außerdem waren das immer Ausnahmeerscheinungen. Universität und Kritik vertragen sich nicht. Ich kann das gerade nicht beweisen, aber seit der positivistischen Revolution muss ich das auch nicht mehr: Es ist empirisch. Ich kenne sehr viele, die an der Uni waren und wenige sind gute Kritiker und diese wenigen sind immer trotz der Uni oder unabhängig von der Uni kritisch. Alle die, die behaupten mussten, die Uni wäre mindestens teilweise interessant, spannend gar, hatten un cadavre dans la bouche. Sie haben nie gelernt, für die Allgemeinheit zu schreiben, sprich für Leute mit Problemen, die sie lösen wollen. Tatsächlich hatten diese Studenten das nicht einmal im Kopf und dachten tatsächlich ihre Denkform, die Denkform der Uni, wäre universell. Oft schreiben sie überhaupt nur für den akademischen Betrieb und sollten sie freie Zeitungen herausgeben, so ist das einfach nur eine Verdopplung dieses Betriebs. (Es gibt einige freie akademische Zeitungen: Etwa Phase II oder Sans Phrase) Aber freie Zeitungen können natürlich nicht akademisch sein. Aber wie dann? Womit dann die Probleme letztlich erst anfangen würden, wenn man die hier gestellte Fragestellung verlassen würde.
Quelle: Huch N°79, Frühling/Sommer 2014