Frankreichs strategisches Verhältnis zu Russland
Aus einer Rede des französischen Staatspräsidenten bei der Botschafterkonferenz 2019
Im Folgenden eine Passage aus einer richtungsweisenden Rede des französischen Präsidenten Macron vom 27.8.2019, gehalten vor Botschaftern und Botschafterinnen seines Landes. Er kündigt hier eine außenpolitische Wende auf „strategischer Ebene“ an, die Annäherung an Russland. Europa solle nicht weiter der Schauplatz eines Konflikts zwischen den USA und Russland sein. Dieser Konflikt nämlich „entstand im Grunde in den 90er und 00er Jahren“, als „Europa offenbar nicht seine eigene Strategie verfolgt hat“, vielmehr zweifellos „als trojanisches Pferd“ der USA fungierte. Er spricht auch davon, daß diese Wende auf den Widerstand des tiefen Staats und einiger Ländern treffen wird, „denn zahlreiche Akteure in den Behörden und wirtschaftliche Kräfte werden mittels Attacken und Provokationen versuchen, diesen Weg zu schwächen.“ Insbesondere, so unser petite Jupiter, liegt er „nicht im Interesse einiger unserer Partner, das muss klar gesagt werden. Und einige werden uns immer zu mehr Sanktionen drängen, weil es in ihrem Interesse ist. Aber es liegt ganz klar nicht in unserem Interesse.“ Und so bittet er seine Diplomaten eindringlich, den Weg der Annäherung an Russland diskret und den tagespolitischen Verwirrungen zum Trotz zu gehen, selbst wenn er aus taktischen Gründen hier und dort, „wenn er auf Reisen ist“, etwas anderes sage: „Nichts davon ist selbstverständlich, nichts davon ist einfach, und jeden Tag werden sich Gründe finden, diesen Weg nicht einzuschlagen. Ich bitte Sie, den Provokationen in nichts nachzugeben, stetig unsere Interessen, unsere Souveränität zu verteidigen und stark zu bleiben.“ Seither ist einiges passiert und Frankreichs Rolle – man schaue nur, wie er von Putin bei der letzten Konsultation Anfang Februar platziert wurde – sollte man wahrlich nicht überschätzen, aber diese strategische Ausrichtung sollte man beachten, wenn man über die gegenwärtige Scheinunterstützung der EU für das Mafiaregime in der Ukraine nachdenkt. (Eine weitere Passage derselben Rede ist bereits hier dokumentiert.)
Wir haben voll und ganz die Rolle der ausgleichenden Macht eingenommen. Um diese Rolle bei großen Konflikten sinnvoll ausüben zu können, müssen wir die notwendige Unabhängigkeit unserer Diplomatie und Strategie voll entfalten können. Dafür müssen unsere Beziehungen zu einigen Mächten grundlegend überdacht werden. Allerdings weiß ich, dass wir, wie es bestimmte ausländische Theoretiker nennen, ebenfalls einen deep state haben. Und so sagt mitunter der Präsident der Republik etwas, wenn er auf Reisen ist, und daraufhin könnte die allgemeine Tendenz sein, zu sagen: „Er hat das zwar gesagt, aber wir kennen die Wahrheit und werden weitermachen wie eh und je.“ Ich kann Ihnen nur raten, diesen Weg nicht einzuschlagen. Zunächst, weil er kollektiv ineffizient ist, da das Wort des französischen Staatspräsidenten und folglich das Wort derjenigen, die ihn vertreten, diskreditiert wird. Aber vor allem schadet er unserer Handlungsfähigkeit.
Und daher steht diese Fähigkeit, unsere wichtigen Beziehungen zu überdenken, im Zusammenhang mit unserer Beziehung zu Russland. Ich weiß, dass viele von Ihnen – manchmal ihr gesamtes Berufsleben – Angelegenheiten geleitet haben, bei denen sie allen Grund dazu gehabt haben, Russland gegenüber misstrauisch zu sein – mitunter zu Recht. Und wir, wir haben diese Beziehungen – eigentlich seit dem Mauerfall – in diesem Misstrauen aufgebaut, mit einer Reihe von Missverständnissen.
In meinem Wunsch, diese Beziehungen neuzugestalten, bin ich frei von jeglicher Naivität. Ich bin mir aber einiger Dinge gewiss. Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland. Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegend unproduktive Spannung fortbestehen. Es wird weiterhin festgefahrene Konflikte überall in Europa geben. Europa wird weiterhin Schauplatz eines strategischen Machtkampfes zwischen den USA und Russland sein.
Und wir werden im Grunde weiterhin die Auswirkungen des Kalten Krieges auf unserem Boden zu sehen bekommen und nicht die Bedingungen für das Projekt der Neuschöpfung der europäischen Zivilisation, das ich eben erwähnt habe, schaffen können. Denn dies ist nur möglich, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland sehr, sehr gründlich überdenken. Ich denke zudem, dass es ein schwerwiegender strategischer Fehler ist, Russland von Europa abzustoßen. Denn somit zwingen wir Russland entweder in eine Isolation, die die Spannungen erhöht, oder zu Allianzen mit anderen Großmächten wie China, was überhaupt nicht in unserem Interesse läge. Zugleich muss gesagt werden, dass unsere Beziehungen sich strukturiert und das Misstrauen verankert haben.
Die Attacken im Cyberraum, die Destabilisierungsversuche der Demokratie, ein heute offen zur Schau getragenes russisches Projekt, das zutiefst konservativ und gegen das Projekt der Europäischen Union ist. Und das alles entstand im Grunde in den 90er und 00er Jahren, als sich eine Reihe Missverständnisse abgespielt hat und Europa offenbar nicht seine eigene Strategie verfolgt hat, sondern zweifellos das Gefühl vermittelt hat, als trojanisches Pferd für eine westliche Welt zu fungieren, dessen Endziel Russlands Zerstörung war. Eine Zeit, in der Russland sein Augenmerk auf die Zerstörung der westlichen Welt und somit auf die Schwächung der Europäischen Union gerichtet hat. Hier stehen wir nun. Man kann es bedauern, man kann in diesem Stellungskrieg verharren. Dies entspricht aber nicht unserem eigentlichen Interesse.
Es liegt ebenfalls nicht in unserem Interesse, sich Russland gegenüber von einer schuldhaften Schwäche zu zeigen, alle Meinungsverschiedenheiten und vergangenen Konflikte vergessen zu wollen und sich wieder in die Arme zu fallen, nein. Aber eine grundlegende Neugestaltung ist denke ich notwendig. Ich glaube, wir müssen in Europa ein neues Gerüst aus Vertrauen und Sicherheit aufbauen. Denn der europäische Kontinent wird nie stabil, nie sicher sein, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland nicht befrieden und klären. Dies liegt nicht im Interesse einiger unserer Partner, das muss klar gesagt werden. Und einige werden uns immer zu mehr Sanktionen drängen, weil es in ihrem Interesse ist, auch wenn es unsere Freunde sind. Aber es liegt ganz klar nicht in unserem Interesse.
Und ich glaube, dass die Europäische Union und Russland es unbedingt schaffen müssen, zusammen zu halten, um das gerade erwähnte Ziel zu erreichen, in dieser Welt, in der eine Polarisierung droht, wieder ein echtes europäisches Projekt aufzubauen […]. Und deshalb müssen wir – und das habe ich Präsident Putin letzte Woche in Brégançon gesagt – Schritt für Schritt vorangehen. Jeden Tag werden Ihnen Gründe begegnen, diesen Weg nicht einzuschlagen. Jeden Tag, denn Akteure der einen und der anderen Seite werden jeden Tag versuchen, dieses Projekt zu unterminieren, einschließlich auch von russischer Seite.
Denn zahlreiche Akteure in den Behörden und wirtschaftliche Kräfte werden mittels Attacken und Provokationen versuchen, diesen Weg zu schwächen. Wenn unsere Souveränität oder die eines Partners bedroht ist, muss für uns das Prinzip der Nulltoleranz gelten. Aber wir müssen auf strategischer Ebene die Möglichkeiten einer derartigen Annäherung sondieren und unsere grundlegenden Bedingungen definieren. Wir müssen aus den festgefahrenen Konflikten auf dem europäischen Kontinent aussteigen. Wir müssen gemeinsam die Kontrolle der konventionellen, nuklearen, biologischen und chemischen Waffen überdenken.
Denn schauen Sie sich an, in welcher Situation wir uns de facto befinden. Wir sind in einem Europa, wo das Thema Waffen von Abkommen geregelt wird, die vor dem Ende des Kalten Krieges zwischen den USA und Russland entstanden sind. Ist das ein Europa, das sein Schicksal durchdenkt und gestaltet? Ich persönlich glaube das nicht, daher müssen wir diesen Dialog mit Russland führen. Das Ende des INF- Vertrages zwingt uns zur Aufnahme dieses Dialogs, denn die Flugkörper würden auf unser Staatsgebiet zurückkehren.
Drittes Thema: Wir müssen gemeinsam über eine Raumfahrtstrategie nachdenken. Im Laufe unserer Geschichte haben wir dies übrigens schon einmal gemacht, und im Bereich der Raumfahrt sind unsere wichtigsten Partner meines Wissens nicht die USA. Wir müssen gemeinsam über eine Strategie für den Cyberraum nachdenken. Davon sind wir noch weit entfernt, die Angriffe sind heute alltäglich. Aber wir müssen offen darüber reden können, ohne Naivität. Uns darüber ununterbrochen austauschen, um wieder Vertrauen zu schaffen. Wir müssen ebenfalls, davon bin ich fest überzeugt, eine echte strategische Diskussion führen, um die Grundlagen für eine technologische Souveränität auf industrieller Ebene im weitesten Sinne zu schaffen.
Nichts davon ist selbstverständlich, nichts davon ist einfach, und jeden Tag werden sich Gründe finden, diesen Weg nicht einzuschlagen. Ich bitte Sie, den Provokationen in nichts nachzugeben, stetig unsere Interessen, unsere Souveränität zu verteidigen und stark zu bleiben. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir ebenfalls im Rahmen eines ehrlichen und anspruchsvollen Dialogs mit Russland die Karten von Grund auf neu mischen müssen. Und ich möchte, dass wir diese Richtung einschlagen, denn sie ist unerlässlich, um Ergebnisse und eine echte europäische Strategie zu erreichen. Das werden der Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten und die Ministerin der Streitkräfte machen, wenn sie in einigen Tagen nach Moskau fliegen, um den 2+2-Dialog wiederaufzunehmen.
Dieses Ziel verfolgen wir durch einen kontinuierlichen Dialog mit Präsident Putin, und wir werden eine Arbeitsgruppe aufstellen, um dieses gemeinsame Konstrukt voranzubringen. Und natürlich ist eine der entscheidenden Voraussetzungen, um in dieser Richtung voranzukommen, unsere Fähigkeit, bezüglich des russisch- ukrainischen Konflikts Fortschritte zu erzielen, und das heißt, die Vereinbarungen von Minsk umzusetzen. Diesbezüglich konnten im Rahmen der jüngsten Diskussionen konkrete Fortschritte erreicht werden, die uns dazu veranlassen, mit der Kanzlerin in den nächsten Tagen ein Treffen im Normandie-Format vorzuschlagen. Ich kann mir vorstellen, dass bei einigen von Ihnen Zweifel aufkommt, während Sie mir zuhören, aber ich bitte Sie einmal mehr, diesem Weg zu folgen. Nicht aus Naivität, sondern weil ich der festen Überzeugung bin, dass dies der richtige ist. Und um die Beweisführung zu vollenden, möchte ich Sie bitten, gemeinsam zu überlegen, welche Strategie Russland für sich selbst verfolgen kann.
Schauen Sie sich dieses große Land an, das dank unserer Schwächen Handlungsspielräume zurückgewonnen hat. Seit fünf Jahren spielt Russland in allen großen Konflikten eine beispiellose Rolle. Das Land hat einen außergewöhnlichen Platz eingenommen, weil die USA, Großbritannien und Frankreich schwach waren. Wir haben rote Linien festgelegt. Diese wurden überschritten, und wir haben nicht gehandelt. Das haben sie sehr wohl zur Kenntnis genommen und weitergemacht. Und daher kann man nicht gleichzeitig ächten und dann Schwäche zeigen: Man muss sich für eine Handlungslogik entscheiden. Und es liegt nicht im unserem Interesse, es mit unserem Nachbarn auf eine Logik des Stärkeren anzulegen. Russland hat im aktuellen Kontext all seine Interessen maximiert: Sie sind zurück in Syrien, sie sind zurück in Libyen, sie sind zurück in Afrika; sie sind an allen Krisen beteiligt, aufgrund unserer Schwächen oder Fehler. Doch ist diese Situation von Dauer? Ich glaube nicht, und wäre ich an Russlands Stelle – diesen Blickwinkel müssen wir immer einnehmen –, würde ich mir Fragen stellen. Denn diese Großmacht, die viel in ihre Rüstung investiert, die uns so Angst macht, hat das BIP Spaniens, verzeichnet einen Bevölkerungsrückgang, hat ein alterndes Land und einen stetig steigenden politischen Druck. Denken Sie, man kann so weitermachen? Ich denke, es ist nicht Russlands Berufung, Minderheitspartner Chinas zu sein. Und deshalb müssen wir es an einem gewissen Punkt schaffen, durch den anspruchsvollen Dialog und die von uns festgelegten Bedingungen, diesem Land, das sich diese Frage zwangsläufig stellen wird, eine strategische Lösung anzubieten. Und es liegt an uns, es darauf vorzubereiten und bei dieser Frage voranzukommen.
Quelle: Rede des französischen Staatspräsidenten bei der Botschafterkonferenz 2019 am 27. August 2019
3.3.2022