Der Lucas Plan
Beginn einer Epoche
Während des wilden Generalstreiks im Mai 1968 nahm sich das französische Volk eine Auszeit von seinen gewohnten Beschäftigungen; einzig die Polizei war zu Überstunden verdammt. Die Arbeit in den Fabriken ruhte ebenso wie der Lehrbetrieb an den Schulen und Universitäten; an vielen Orten wurde diskutiert, wie das Leben in Zukunft besser organisiert werden könne. – Viel herausgekommen ist bei diesen Diskussionen allerdings nicht; jedenfalls nahmen die meisten nach wenigen Wochen ihre Arbeit oder ihr Studium zu den im Wesentlichen unveränderten Bedingungen wieder auf.
Dessen ungeachtet riefen die französischen Ereignisse ein unüberhörbares Echo hervor. In einer Reihe von Ländern kam es – weit weg vom Epizentrum – zu Nachbeben. In den italienischen Fabriken gärte es ebenso wie unter Arbeitern in Polen und der Tschechoslowakei und unter Studenten und Jugendlichen in den USA, Japan und West-Berlin. Die Situationistische Internationale sprach damals vom Beginn einer neuen Epoche. Als dann noch wenig später das Wechselkurssystem von Bretton Woods zusammenbrach und die Preispolitik der Ölscheichs der Weltwirtschaft einen Schock versetzte, war nicht mehr zu leugnen, dass das nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Regime des konsumgesellschaftlich restaurierten Kapitalismus in eine ernsthafte Krise geraten war.
Ursachen der englischen Krise
Diese Krise war eine allgemeine, sie nahm jedoch in den einzelnen Ländern einen unterschiedlichen Verlauf, der von den jeweiligen lokalen Bedingungen abhing. In Großbritannien, dessen Fall im Folgenden etwas näher betrachtet wird, reichen die Ursprünge der ökonomischen Krise weiter zurück als in anderen westlichen Ländern. Als einstige Avantgarde des industriellen Kapitalismus und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stolze Agentin in einem kolonialen Weltreich hatte die britische Bourgeoisie sich zu lange auf den Erfolgen der Vergangenheit ausgeruht und so den Anschluss an die internationale Produktivkraftentwicklung verpasst. Die traditionellen Industrien: Kohle, Stahl und Schiffbau machten einen zu großen Anteil an der Volkswirtschaft aus, während die Investitionen in neue Technologien verglichen mit der Konkurrenz aus dem Ausland viel zu gering waren. Unter den Bedingungen des weltweiten Nachkriegsbooms fiel dies noch nicht besonders auf, da auch die britische Wirtschaft von der allgemeinen Expansion profitieren konnte. Als aber in den 1970er Jahren weltweit die Konjunktur einbrach, wurden Großbritanniens strukturelle Defizite unübersehbar und das Wort von der „englischen Krankheit“ machte die Runde.
Die englische Krise war aber nicht nur auf die Behäbigkeit der Bourgeoise zurückzuführen, sondern auch auf die Anspruchshaltung der britischen Arbeiterschaft. Diese setzte regelmäßig Lohnerhöhungen durch, die weit über der Rate der Produktivitätssteigerung lagen. Dies ging zu Lasten der Profite und damit der Investitionen und trug zur Verschärfung des technologischen Rückstands der englischen Wirtschaft bei. In der bürgerlichen Presse hat man sich daher angewöhnt, die übergroße Macht der Gewerkschaften als Hauptursache der englischen Krankheit zu bestimmen. Dies ist zwar nicht grundsätzlich falsch, aber doch sehr unpräzise. Sieht man genauer hin, so fällt sofort die enorm hohe Zahl der wilden Streiks auf, die in England seit den 1950er Jahren permanent anstieg, sodass Ende der 1960er Jahre ganze 95% aller Arbeitskämpfe ohne Genehmigung durch die zuständige trade union geführt wurden. Was dem britischen Kapital zu schaffen machte, waren also weniger die sich in den offiziellen Tarifauseinandersetzungen ausdrückende Macht der Gewerkschaften als vielmehr die unkontrollierte Militanz an der Basis.
Wie in anderen Teilen der industrialisierten Welt hatten sich auch in England die Organisationen der Arbeiterklasse spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts in bürokratische Apparate verwandelt, deren Funktionäre zu respektablen und verantwortungsbewussten Juniorpartnern der Bourgeoisie aufgerückt waren und die über ihre Klientel verfügten wie ein Monopolist über seine Waren. Unter dieser erstarrten Hülle begann sich jedoch bereits in den 1950er Jahren eine lebendige Basisbewegung der shop stewards zu entwickeln. Dies sind gewerkschaftliche Vertrauensmänner, die von ihren Kollegen im Betrieb gewählt werden. Da die Arbeiter ihren shop steward sofort abwählen konnten, sobald er aufhörte, ihre Interessen zu vertreten, setzte er sich viel unmittelbarer für ihre Interessen ein als hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre oder lokale Labourabgeordnete. Die Arbeiter nahmen zahlreiche Gelegenheiten wahr, durch spontane Streiks auf Werksebene ihre jeweilige Situation zu verbessern. Es gelang ihnen, das System des Akkordlohns von einem Instrument zur Steigerung der Ausbeutung in eine Waffe gegen das Management umzukehren, da ihnen diese Bezahlungsweise ständige Neuverhandlungen bei jeder Änderung der Betriebsorganisation ermöglichte. Damit erzeugten sie den berüchtigten wage drift, der den britischen Unternehmern schlaflose Nächte bereitete: Wann immer diese mit den Gewerkschaftsführern einen nationalen Tarifabschluss erzielten, stellte sich schon bald heraus, dass die tatsächlichen Löhne in den meisten Betrieben weit über die offizielle Vereinbarung geklettert waren, weil die Arbeiter durch lokale Aktionen bessere Konditionen für sich herausgeschlagen hatten.
Uneigentlicher Syndikalismus
Aufgrund ihres Misstrauens gegenüber der hierarchischen Gewerkschaftsbürokratie, ihrer direktdemokratischen Organisation, ihres Desinteresses an offizieller Parteipolitik und ihrer Taktik des wilden Streiks ist die shop steward-Bewegung mit dem traditionellen Syndikalismus verglichen worden. Dies ist jedoch nur bedingt richtig. Das Ziel des alten Syndikalismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts in den romanischen Ländern zuhause war, bestand im Sturz der kapitalistischen Ordnung, die man durch den generalisierten Massenstreik erreichen wollte. In den Zusammenschlüssen der Arbeiter in der Industrie sahen die Syndikalisten bereits die Keimformen der Organisationsstruktur der künftigen sozialistischen Gesellschaft. Von solchen Zielen waren die britischen Arbeiter der 1960er Jahre weit entfernt. Bei aller Militanz ging es ihnen fast nur um Lohnerhöhungen oder moderate Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen, wie etwa der Geschwindigkeit der Fließbänder, der Länge der Pausen oder – in England nicht unwichtig! – der Qualität des Tees in der Kantine. Keinesfalls jedoch stellte man das Fabrikregime als solches oder gar die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt infrage. Man wollte seine Situation als Lohnabhängiger verbessern, nicht die Lohnarbeit selbst abschaffen.
Das Fehlen einer weiteren gesellschaftlichen Perspektive der Bewegung brachte einen extremen Sektionalismus und Lokalismus mit sich. Oft machte das Interesse der Arbeiter am eigenen Werkstor halt, firmen- oder branchenübergreifende Zusammenschlüsse von Basisaktivisten kamen kaum zustande und eine umfassende Solidarisierung als Klasse lag vollends außerhalb des Blickfelds. Dies hatte mitunter verheerende Konsequenzen. Im Jahre 1968 hielt der konservative Politiker Enoch Powell eine Rede, in der er aggressiv gegen Einwanderer hetzte. Als er daraufhin aus dem Schattenkabinett der Tories entfernt wurde, legte eine große Zahl von Londoner Hafenarbeitern die Arbeit nieder und marschierte vor das Parlament – um sich mit dem Rassisten zu solidarisieren! Militante Selbstorganisation und übler Chauvinismus schlossen einander keineswegs aus.
Jugendliche Unzufriedenheit
Die britische Arbeiterklasse der 1960er Jahre war also weit entfernt davon, den negativen Pol der Gesellschaft zu verkörpern, als welchen die Herrschenden früherer Zeiten das Proletariat gefürchtet hatte. Die einzige Gruppe, die damals, wenn auch auf diffuse Art, eine grundsätzliche Ablehnung der allgemein akzeptierten Lebensweise bekundete, war ein kleinerer Teil der meist bürgerlich-studentischen Jugend. Bereits Ende der 50er Jahre hatten die jugendlichen Aktivisten der Campaign for Nuclear Disarmament darauf hingewiesen, dass mit der Schönen Neuen Welt der erwachsenen Generation etwas nicht stimmen konnte, da ihre Ordnung offenbar nur durch die permanente Drohung ihrer Selbstauslöschung mittels eines atomaren Armageddon aufrecht erhalten werden konnte. Etwa zur selben Zeit fanden sich einige jüngere Ex-Mitglieder der Communist Party of Great Britain zusammen, denen anlässlich von Chruschtschows Geheimrede über die Verbrechen Stalins aufgefallen war, dass die östliche Bürokratie eine schlechte Alternative zum westlichen Imperialismus darstellte. Sie gründeten Coffee Houses, in denen Jazz gehört und konfuse Gedanken über einen libertären Sozialismus gesponnen wurden. Mitte der 60er erreichte die nordamerikanische Hippiebewegung die britische Insel. Untergrundzeitschriften wie Oz, Friends und International Times denunzierten die protestantische Arbeitsethik und die bürgerliche Familie und forderten, die falsche Trennung von Arbeit und Freizeit im Spiel aufzuheben. Die traditionelle Linke verwarfen sie, da sie „die Heiligkeit der Mühsal, das Recht auf Arbeit, Belohnung und Bestrafung“ nicht infrage stelle. Der politischere Teil dieser Szene organisierte 1968 sit-ins an den Universitäten und Demos gegen den Vietnamkrieg, die aber im Vergleich mit anderen Ländern eher moderat ausfielen. Wenig später war die Bewegung auch schon wieder am Ende, als sich herausstellte, dass der Rest der Gesellschaft sich von ihren Forderung nach einer anderen Organisation des Lebens unbeeindruckt zeigte. Der Antagonismus der Klassengesellschaft, der für kurze Zeit in der verkehrten Form eines Gegensatzes der Generationen in Erscheinung getreten war, ließ sich auf diese Weise nicht auflösen und so verschwand er bald wieder weitgehend aus dem Bewusstsein.
Das Lucas Aerospace Combine Shop Stewards’ Committee
Einen der Wege, den das britische Kapital seit den 60er Jahren zur Überwindung seiner Krise beschritt, bestand in einem energischen Konzentrationsprozess. Im Zuge dessen kaufte der Maschinenbaukonzern Joseph Lucas Ltd. um 1970 eine Reihe von kleineren Zulieferern der Luftfahrtindustrie auf und formte aus diesen die Tochtergesellschaft Lucas Aerospace. Durch diese Übernahmen war Europas damals größter Hersteller von Flugzeugkomponenten entstanden. In 17 über England verstreuten Werken mit insgesamt 18.000 Beschäftigen stellte das neue Unternehmen u.a. Kraftstoffanlagen, Messtechnik, elektrische Ausrüstung und Cockpitzubehör für unterschiedliche Maschinen her. Etwa die Hälfte der Produktion war für den militärischen Bereich bestimmt; Lucas Aerospace war beispielsweise an der Herstellung eines europäischen Mehrzweckkampfflugzeugs und am Sting Ray Missile System der NATO beteiligt.
Die Belegschaft dieses neu geschaffenen Unternehmens sollte einige Jahre später mit einem recht bemerkenswerten Projekt von sich reden machen, das unter dem Namen Lucas Plan bekannt wurde. Bevor wir uns diesem zuwenden, muss jedoch die Selbstorganisation der Lucas-Arbeiter vorgestellt werden, die die Basis darstellte, auf der der Plan entstehen konnte. Ein wesentlicher Zweck von Firmenzusammenschlüssen ist bekanntlich, Arbeiter einzusparen und im Zuge der Umstrukturierung schlechtere Bedingungen für die verbliebenen Beschäftigten durchzusetzen. Um sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen, schlossen sich die lokalen shop steward commitees der an Lucas Aerospace beteiligten Werke zu einem konzernweiten combine committe zusammen, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Solche Ansätze, den Lokalismus der shop steward-Bewegung zu überwinden, gab es auch anderswo; allerdings wies die Initiative der Lucas workers zwei Besonderheiten auf.
Erstens war den Arbeitern in diesem Fall das Kunststück gelungen, sich zusammenzutun, noch bevor der offizielle Firmenzusammenschluss erfolgte. Sobald Gerüchte über eine möglich Fusion auftauchten, nahmen die shop stewards der betreffenden Werke Kontakt zueinander auf, mit dem Ergebnis, dass sie bereits über eine gemeinsame Organisationsstruktur verfügten, während in den Chefetagen noch erbittert über die Modalitäten der Zusammenarbeit gestritten wurde. Die Arbeiter waren dem Management also von Anfang an einen Schritt voraus und dieser Vorsprung sollte sich in den folgenden Auseinandersetzungen als vorteilhaft erweisen.
Die zweite Besonderheit des Lucas Aerospace Combine Committee bestand darin, dass es Kopf- und Handarbeiter gemeinsam organisierte. Dies war unüblich in der britischen Gewerkschaftsbewegung, die traditionell nach Berufsgruppen getrennt organisiert war. Erleichtert wurde diese Zusammenarbeit durch die spezielle Natur des Arbeitsprozesses in der Luftfahrtindustrie: In diesem forschungsintensiven Sektor hatten geringe Stückzahlen und Einzelanfertigungen die Oberhand gegenüber der Serienproduktion. Die Beziehungen zwischen Ingenieuren und ausführenden Arbeitern waren unter diesen Bedingungen weniger standardisiert und distanziert; es war üblich, dass die Handarbeiter in der Fabrik Entwürfe ausprobierten und Veränderungen an ihnen vorschlugen, die sie mit den Ingenieuren aus dem Konstruktionsbüro diskutierten.
In den ersten Jahren des neuen Konzerns gelang es dem Combine Committee immer wieder, den Rationalisierungsplänen des Managements einen Strich durch die Rechnung zu machen. Durch koordinierte Arbeitskampfmaßnahmen gelang es den Beschäftigten, viele Entlassungen zu verhindern, sowie Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Die Stärke der Organisation lag in ihrer Kombination von gemeinsamem Handeln und lokaler Autonomie: Das Combine konnte lediglich Maßnahmen vorschlagen und einmal beschlossene Aktionen koordinieren, hatte aber selbst keine Entscheidungsbefugnis. Diese lag ausschließlich bei den lokalen Werkkomitees. So wollte man verhindern, dass sich erneut ein bürokratischer Wasserkopf herausbilden konnte, der seinen Kontakt zur Basis und damit seine Stärke verlor.
Infragestellung der Kopfarbeiter I
Von den Arbeitern unterschiedlichster Berufe, die das Lucas Combine Committee in sich vereinte, taten sich die Ingenieure als besonders aktives Element hervor. Bisher hatten die geistigen Arbeiter in der Industrie generell dazu tendiert, sich aufgrund ihrer privilegierten Stellung als etwas Besseres als die handarbeitenden Kollegen zu fühlen und sich an deren gewerkschaftlichen Organisationsbemühungen nicht zu beteiligen. Diese Haltung, die allerdings in der Luftfahrtbranche ohnehin weniger ausgeprägt war, wurde nun von der neuen Rationalisierungswelle des Kapitals radikal infragegestellt. Die vormals vergleichsweise idyllischen, relativ unabhängigen Arbeitsverhältnisse von technischen Zeichnern und Konstrukteuren wurden gemäß den neuen Profitmaximierungsstrategien einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Ein betroffener Ingenieur bei Lucas berichtet: „Bis in die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts lag der gesamte Vorgang des Entwerfens beim technischen Zeichner allein. Er entwarf ein Bauteil, zeichnete es, ermittelte seine Belastbarkeit, bestimmte das Material und das richtige Schmiermittel. Heute ist diese Arbeit in einzelne, isolierte Funktionen zerlegt. Der Konstrukteur entwirft, der Zeichner zeichnet, der Metallurge bestimmt das Material, der Spannungsanalytiker untersucht die Struktur und der Tribologe kümmert sich um die geeignete Schmierung.“ Durch diese zunehmende Spezialisierung seien die Aufgaben des einzelnen jeweils auf einen engen Bereich beschränkt worden, wodurch Abwechslung in der Arbeit und der Überblick über das Ganze verloren gegangen seien.
Hinzu kam ein Automatisierungsschub durch den massiven Einsatz von Computertechnologie. Anstatt mit Bleistift und Lineal am Reisbrett zu arbeiten, gab der Konstrukteur nun Variablen in ein Computerprogramm ein, welches Steuerkarten für die Fertigungsmaschinen erstellte oder diese sogar direkt steuerte. Von ihren Entwicklern wurden die rechnergestützten Konstruktionssysteme als geniale Hilfsmittel angepriesen, die dem Ingenieur Routinetätigkeiten abnehmen und ihn für kreative Arbeit freistellen würden. Im Gegensatz dazu nahmen die betroffenen Konstrukteure die Computerisierung als Verarmung ihrer Tätigkeit und als Entwertung ihrer Fähigkeiten wahr. „Steht dem Entwicklungsingenieur ein solches Gerät zur Verfügung, muss er keine Zeichnungen mehr anfertigen und damit ist das subtile Wechselspiel zwischen dem ersten Entwurf und seiner Modifikation im Verlauf des Konstruktionsprozesses, in den auch die Facharbeiter in der Werkhalle einbezogen waren, zerstört“. Neben der Tatsache, dass ihre manuelle Zeichenkunst überflüssig gemacht wurde, störte die Konstrukteure die Abhängigkeit von Computerprogrammen, deren standardisierte Funktionen sie nicht durchschauen und verändern konnten, was sie als Verlust von Autonomie und Unterwerfung unter die Maschine empfanden.
Als problematischer Aspekt des Computereinsatzes wurde weiterhin die zunehmende Distanz des Konstrukteurs sowohl vom Werkstoff als auch von den manuellen Arbeitern benannt. Elektronische Datenübermittlung und -verarbeitung machen den Gang in die Werkhalle überflüssig und verwandeln den vor seinem Bildschirm sitzenden Ingenieur tendenziell zu einem „Robinson Crusoe auf einer Insel voller Maschinen“. Die Auswirkungen, nicht nur für die individuelle Schaffensfreude, sondern auch für die Qualität des Konstruktionsprozesses insgesamt, können unter Umständen extrem sein. Ein Lucas-Aktivist berichtet von einem Fall, wo ungelernte Arbeiter in einer Fabrik eine zehnmal zu große Zündvorrichtung bauten, weil der Konstrukteur am Rechner sich um eine Kommastelle vertan hatte. Als dieser mit der Monstrosität konfrontiert wurde, wusste er zunächst gar nicht, wo das Problem lag.
Schließlich brachte die Computerisierung auch eine starke Beschleunigung der Arbeit mit sich. Um die hohen Kosten der elektronischen Systeme zu amortisieren, wurde der Arbeitsdruck stark erhöht. In manchen Betrieben wurde das Schichtsystem von den Werkshallen auf die Konstruktionsbüros ausgedehnt, damit die teuren und schnell veraltenden elektronischen Geräte optimal ausgenutzt würden. Die vormals privilegierten Bedingungen der Kopfarbeiter begannen sich zunehmend denen der zu monotoner Routine verdammten Handarbeit anzuähneln, was sich unter anderem in einem sprunghaften Anstieg der gewerkschaftlichen Organisierung dieser Berufsgruppe niederschlug.
Infragestellung der Kopfarbeiter II
Als sei die als eklatante Verschlechterung empfundene Umwälzung ihrer Arbeitsbedingungen nicht schon schwer genug zu verkraften, sahen sich die wissenschaftlichen Angestellten in der Industrie seit Ende der 60er Jahre auch in ihrem bisherigen Selbstverständnis infragegestellt. Ein Betroffener bei Lucas Aerospace erinnert sich: „Auf der subjektiven Ebene erlitten Ingenieure und Wissenschaftler im Vereinigten Königreich und in vielen anderen hoch industrialisierten Ländern einen kulturellen Schock. Diejenigen in ihren 40ern und 50ern hatten die Universität nicht bloß mit einem papiernen Zertifikat verlassen, sondern erfüllt vom Ethos des technologischen Optimismus der Nachkriegszeit. Viele von ihnen betrachteten sich selbst als Gottesgeschenk für die Gesellschaft, ausgerüstet mit der Fähigkeit, all unsere ökonomischen, politischen und sozialen Probleme auf technologische Weise in Ordnung bringen zu können. Die Studentenrevolte der späten 60er begann all dies auf einer politischen und sozialen Ebene infragezustellen. Anfang bis Mitte der 70er Jahre geriet die erdrückende Tatsache ins Bewusstsein, dass wir nicht weitermachen konnten, Energie und Material zu verschwenden wie bisher. Die unmenschliche Natur der modernen Technologie begann sogar in Form des Rückgangs der Studentenzahlen technischer und naturwissenschaftlicher Fächer seinen Tribut zu fordern. … Auf der persönlichen Ebene waren viele Ingenieure ziemlich geschockt, als sich ihre eigenen Söhne weigerten, in ihre Fußstapfen zu treten. Manche Ingenieure und Wissenschaftler wurden von ihren halbwüchsigen Kindern zur Rede gestellt, die von ihnen wissen wollten, ob sie an der Entwicklung von technischen Apparaten beteiligt seien, die Flüsse verseuchen, das Land zerstören und Leuten die Arbeit wegnehmen.“
Es wird an dieser Aussage deutlich, dass die die studentische Bewegung, ungeachtet ihrer unmittelbaren Erfolglosigkeit, doch eine untergründige Wirkung auf andere Sektoren der Gesellschaft ausübte. Die Ingenieure von Lucas Aerospace boten der jugendlichen Kritik dabei ein leichtes Ziel, da es angesichts der von ihnen vornehmlich hergestellten Militärgeräte kaum Mühe bereitet haben dürfte, Zweifel am menschlichen Nutzen ihrer Tätigkeit zu säen.
Reaktion einiger Ingenieure bei Lucas Aerospace
Die doppelte Infragestellung der Ingenieure durch den technischen Wandel einerseits und die studentische Kritik andererseits führte dazu, dass sich einige Konstrukteure bei Lucas Aerospace zu Diskussionszirkeln zusammentaten, um gemeinsam zu versuchen, die neue Situation zu verstehen. Einer der führenden Köpfe war der Ingenieur Mike Cooley, Ex-Mitglied der KP Großbritanniens, der die Partei aufgrund deren Kungelei mit den Gewerkschaftsbürokraten verlassen hatte. Umgekehrt hatten seine ehemaligen Genossen Cooley seine Sympathie für die chinesische Kulturrevolution übel genommen, in welcher er Ansätze zur einer Überwindung des Bürokratismus zu erkennen glaubte. Cooleys Buch Architect or Bee?, das sich mit den Auswirkungen der kapitalistischen Rationalisierung auf den Ingenieurberuf auseinandersetzt, ist eine der Hauptquellen zur Rekonstruktion der damals bei Lucas geführten Debatten.
Es war ein Novum in der Shop-Steward-Bewegung, dass die Ingenieure bei Lucas Aerospace begannen, nicht nur ihre unmittelbaren Arbeitsbedingungen zu kritisieren, sondern auch nach den gesellschaftlichen Auswirkungen des Produktionsprozesses zu fragen, an dem sie beteiligt waren. Sie gingen über die Annahme hinaus, Wissenschaft und Technik seinen neutrale Kräfte, die erst durch ihre kapitalistische Anwendung korrumpiert würden; vielmehr seien diese in sich zutiefst von den gesellschaftlichen Bedingungen geprägt, von denen sie hervorgebracht wurden. Während sich die Mehrheit der alten Arbeiterbewegung von der seit den 60er Jahren entstehenden neuen Kritik unbeeindruckt zeigte, nahmen die Leute um Mike Cooley deren Gedanken auf und dachten sie auf ihre eigene Weise weiter.
Die Veränderung ihres Arbeitsumfelds interpretierten die Lucas-Ingenieure als Wiederholung dessen, was den industriellen Handarbeitern Anfang des 20. Jahrhunderts widerfahren war. Damals wurde mit der Einführung von Frederick Taylors Scientific Management der Arbeitsprozess in kleinste, rigide festgelegte Teilschritte zerlegt und der manuelle Arbeiter im Zuge einer verschärften Trennung von Kopf und Hand auf ein passives Anhängsel der Maschinerie reduziert. Nun würde auch die geistige Arbeit diesem Prozess unterworfen. Der Computer, so Mike Cooley, sei das „trojanische Pferd“, mit dessen Hilfe der Taylorismus in die Gebiete des Managements und der wissenschaftlichen Arbeit eingeschmuggelt werde. Ein zentrales Instrument des Scientific Management sind die berüchtigten time studies, bei denen per Stoppuhr eine Standardzeit für bestimmte Arbeitsschritte ermittelt wurde, nach der sich dann alle Arbeiter zu richten hatten. Die Zeitschrift Workstudy, ein Fachblatt für Betriebsorganisation, informiert 1974 über die Fortschritte bei der Übertragung des Verfahrens auf geistige Arbeit: „Alle Elemente der körperlichen Arbeit bestehen aus einer kleinen Zahl grundlegender Körperbewegungen, die zuerst von Gilbreth kodifiziert wurden (Therbling – der Name dieser kleinsten Einheit – ist ein Anagramm aus Gilbreth). Das logische Raster wäre komplett, wenn eine ähnliche Kodifizierung der einzelnen Elemente der grundlegenden Geistesbewegungen – oder Yalcs – vorhanden wäre.“ (Yalc ist ein Anagramm aus dem Namen ihres Erfinders Clay.) Der Aufsatz beschreibt, wie Eingabe-, Ausgabe- und Verarbeitungs-Yalcs zu definieren sind und wie diese wiederum in grundlegende geistige Tätigkeiten zerfallen.
Bei der Einführung der industriellen Massenfertigung des klassischen Taylorismus war das geistige Element des Produktionsprozesses den alten Facharbeitern entzogen und auf akademisch ausgebildete Experten übertragen worden – wodurch das relativ privilegierte Berufsbild des technischen Zeichners oder Konstrukteurs entstand, dessen Verschwinden die Lucas-Ingenieure nun beklagten. Wohin aber verzog sich der Geist bei der nun stattfindenden Taylorisierung der Kopfarbeit – etwa in die Köpfe der EDV-Spezialisten, welche für die Entqualifizierung der Ingenieurstätigkeit verantwortlich waren? Mike Cooley bezweifelte diese Möglichkeit. Weit entfernt, sich auf Kosten der Konstrukteure eine Domäne interessanter Tätigkeit und Kreativität zu sichern, würden vielmehr „die Entqualifizierer selbst entqualifiziert“. Auch in diesem neuen Bereich sei die trennende Spezialisierung bereits weit fortgeschritten und mit dem Aufkommen vorgegebener Programm-Module und undurchsichtiger Betriebssysteme ginge die kurze Epoche individueller Formen der Software-Erstellung bereits wieder zu Ende. In einem Artikel für die Zeitschrift Realtime von 1973 bestätigt ein Kollege aus der Computer-Branche dieses Urteil: „Das zentralisierte Betriebssystem mystifiziert den Computer, indem es seine wichtigsten Funktionen in ein Software-Paket einbaut, das jenseits der Kontrolle und Kenntnis des Anwendungsingenieurs liegt. Damit dringt selbst in das exklusive Reich der Datenverarbeitung die Teilung zwischen Software-Experten und anderen Programmierern vor und bestärkt uns in dem Eindruck, dass wir die Werkzeuge, die wir benutzen, nicht wirklich beherrschen, sondern nur das tun können, was das System zulässt.“
Entstehung des Lucas Plans
Die Entqualifizierung ihres Berufs einerseits und die latente Sinnkrise angesichts des fragwürdigen gesellschaftlichen Zwecks ihrer Tätigkeit andererseits hatte also einige Beschäftigte von Lucas Aerospace zu einer Selbstreflexion veranlasst, die eine recht weitgehende theoretische Kritik der von ihnen aufrechterhaltenen Produktion hervorbrachte. Den Anlass, diese Kritik in ein praktisches Programm umzusetzen, bildeten jedoch keine neuen theoretischen Einsichten, sondern die unmittelbare Bedrohung durch Arbeitslosigkeit. Als 1974 die neue Labour-Regierung Kürzungen des Militäretats ankündigte, sah sich die Lucas-Belegschaft vor die Wahl gestellt, entweder gegen Abrüstung zu protestieren oder aber der Streichung eines erheblichen Teils ihrer Jobs zuzustimmen. Aus der Ablehnung dieser schlechten Alternative entstand die Idee einer Kampagne für die Umstellung der Produktion der Lucas-Werke von Rüstungsgütern auf „sozial nützliche Produkte“. Das Combine Committee beschloss, Vorschläge für Produkte zu sammeln, die an den Lucas-Standorten produziert werden könnten, um die dort Angestellten weiter zu beschäftigen. Es ging dabei explizit nicht darum, das bessere Management zu spielen und eine Palette von profitabel vermarktbaren Artikeln zu präsentieren. Vielmehr sollte das Kriterium für die Auswahl der Vorschläge nicht in erster Linie deren Tausch- sondern deren Gebrauchswert sein. Man wollte auf den Widersinn hinweisen, dass bei Lucas Fertigkeiten und Produktionsmittel brachliegen gelassen werden sollen, während anderswo im Land dringende Not herrscht, der mittels dieser Fertigkeiten und Produktionsmittel abgeholfen werden könnte. „Es ist etwas grundsätzlich verkehrt an einer Gesellschaft die das technologische Niveau erreicht hat, um das Überschallflugzeug Concorde zu konstruieren und zu bauen, die aber nicht genug einfache städtische Heizungen bereitstellen kann, um die Rentner zu schützen, die jeden Winter an Unterkühlung sterben“, so eine Stellungnahme des Combine.
Bei der Ausarbeitung des alternativen Produktionsplans konnte das Combine die Arbeitsfähigkeit seiner Organisationsstruktur erneut unter Beweis stellen. Durch Befragung der lokalen shop steward Committees erstellte man zunächst eine detailierte Liste, in der die technische Ausstattung aller Produktionsstätten sowie die Qualifikationen ihrer Beschäftigten beschrieben wurden. Diese Liste wurde dann in einem Rundschreiben mitsamt der Aufforderung verschickt, Vorschläge für eine sinnvolle alternative Nutzung dieser Produktionsmöglichkeiten zu machen. Das Schreiben ging an Wissenschaftler und Organisationen, die sich auf die eine oder andere Art für eine Humanisierung der Technik und für ihren sozial- und umweltverantwortlichen Gebrauch ausgesprochen hatten. Von den 180 Adressaten beantworteten jedoch nur drei das Schreiben. Als wesentlich einfallsreicher als diese verantwortungsbewussten Akademiker erwies sich die Lucas-Belegschaft selbst: Als das Combine diese mittels eines in den Werken verbreiteten Fragebogens zur Mitarbeit aufrief, ging binnen kurzem eine Fülle von Vorschlägen ein, sodass schon bald nicht weniger als 150 alternative Produktideen vorlagen. In den einzelnen Werken bildeten sich Arbeitsgruppen, um die Vorschläge zu besprechen. Die Erfahrungen einiger Designer und Konstrukteure in den oben beschriebenen Diskussionszirkeln erwiesen sich dabei als sehr hilfreich; es waren an der Entwicklung der Produktideen aber nicht nur diese, sondern alle Abstufungen von Beschäftigten bis hinunter zum Lehrling oder ungelernten Arbeiter beteiligt. In einigen Fällen kamen die Vorschläge direkt aus der Erfahrung konkreter Bedürfnisse in den Gemeinden, in denen die Arbeiter lebten. So entwarfen Lucas-Arbeiter in Wolverhampton ein spezielles Gefährt, für die an Spina Bifida – einer Missbildung der Wirbelsäule – erkrankten Kindern des örtlichen Kinderheims, um diesen eine leichtere Fortbewegung zu ermöglichen. Für die als sinnvoll erachteten Produkte wurden detaillierte Konstruktionsskizzen angefertigt, in einigen Fällen stellte man bereits Prototypen her. Die Voraussetzungen hierfür waren insofern günstig, als in der forschungsintensiven Luftfahrtbranche Neuentwicklungen und Prototypen ohnehin zum Tagesgeschäft gehörten.
Präsentation des Plans
Alle Produktbeschreibungen wurden in einer umfangreichen Dokumentation gesammelt und nach zwölfmonatiger Arbeit im Januar 1976 der Öffentlichkeit präsentiert. Die vorgeschlagenen Produkte sind jeweils in Gruppen zusammengefasst, darunter u.a.:
- Medizinische Geräte wie z.B. künstliche Gliedmaßen oder Dialysegeräte (künstliche Nieren). Letztere wurden von Lucas Aerospace bereits hergestellt, allerdings in viel zu geringer Stückzahl, um den Bedarf britischer Patienten zu decken.
- Alternative Energiegewinnungsanlagen wie z.B. Solarzellen und Windräder, wobei die Kenntnisse aus der Luftfahrttechnik gute Dienste leisten könnten.
- Transportsysteme wie z.B. ein Straßen-Schienen-Fahrzeug, das auch als Prototyp gebaut wurde. Es ist viel leichter als herkömmliche Schienenfahrzeuge, kann größere Steigungen überwinden und eignet sich zum Einsatz im öffentlichen Verkehr in entlegenen Gegenden.
- Bremssysteme für schwere Fahrzeuge wie Busse und U-Bahnen. Dies aufgrund eines zu dieser Zeit geschehenen verheerenden Busunglücks, anlässlich dessen herausgekommen war, dass nur 10% der in Großbritannien eingesetzten Busse über ausreichende Bremsen verfügten.
- Oceanics: Unterwasserfahrzeuge zum Abbau von Rohstoffen auf dem Meeresgrund.
Wie aber wollten die Autoren des Plans dessen Verwirklichung durchsetzen? War es nicht reichlich naiv, anzunehmen, innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft ihren Wunsch nach einer am Kriterium der „sozialen Nützlichkeit“ orientierten Produktion einlösen zu können? Die Verlautbarungen und die Politik des Combine weißt hier eine gewisse Widersprüchlichkeit auf. Einerseits bemühte man sich ganz pragmatisch um Verhandlungen mit der Konzernleitung und der Regierung, um erstere zu überzeugen, die marktwirtschaftlich profitablen Produktideen zu realisieren und letztere dazu zu bewegen, einige der nicht profitablen zu subventionieren. Andererseits wird im Präsentationspapier des Plans betont, dass dieser „eine fundamentale Infragestellung vieler ökonomischer und ideologischer Annahmen unserer Gesellschaft“ darstelle und dass sich seine Ziele keinesfalls vollständig realisieren ließen, solange er ein isoliertes Projekt bleibe – dafür sei vielmehr eine allgemeine gesellschaftliche Umwälzung nötig. Die Autoren sehen sich als Pioniere einer neuen Form von Forderungen: „Wir wollen den beschränkten Ökonomismus überwinden, der die Gewerkschaftsaktivitäten der Vergangenheit prägte und wollen unsere Forderungen dahingehend erweitern, dass wir auch die Produkte, die wir herstellen sowie die Art und Weise, wie wir sie herstellen, der Kritik unterziehen.“ Sie hofften darauf, durch ihr Beispiel andere Arbeiter in anderen Sektoren zu ähnlichen Forderungen zu animieren und so zu einer Verallgemeinerung einer qualitativen Kritik der kapitalistischen Produktion beizutragen, welche sie wiederum als Voraussetzung für den letztendlichen Erfolg ihrer eigenen Bemühungen sahen. Der Lucas Plan stellte so auch einen Vorschlag dar, wie die britische Shop-Steward-Bewegung insgesamt auf ein höheres Niveau kommen könnte, indem die Produzenten beginnen, ihre eigene Rolle im Produktionsprozess infragezustellen.
Ein utopischer Arbeitsbegriff
Der Begriff der sozialen Nützlichkeit, den die Lucas Arbeiter ihrem Alternativplan zugrunde legten, war zunächst eher implizit und intuitiv. Erst im Laufe der Zeit kam man dazu, genauer zu bestimmen, wodurch sich sozial nützliche Produkte auszeichnen: Sie sollen so konstruiert sein, dass sie „den Menschen helfen und sie befreien, anstatt sie zu beschränken, zu kontrollieren, körperlich und geistig beschädigen“. Ihre Funktionsweise soll dem Benutzer möglichst verständlich sein, man soll sie reparieren können, weder bei der Produktion noch beim Gebrauch sollen Ressourcen verschwendet werden. Die Herstellung des Produkts soll „in einer unentfremdeten Weise, ohne autoritäre Direktiven erfolgen. Stattdessen soll die Arbeit so organisiert sein, dass sie praktische und theoretische Aufgaben verbindet und menschliche Kreativität und Enthusiasmus freisetzt.“
Interessanterweise bezog sich das Kriterium der sozialen Nützlichkeit also nicht nur auf die Seite des Konsums, sondern auch auf die der Produktion. Der Lucas Plan war auch als Versuch gedacht, der Entqualifizierung der Arbeit durch die kapitalistische Betriebsorganisation etwas entgegenzusetzen. Es ging dabei nicht um eine pauschale Zurückweisung aller technischen Neuerungen, sondern darum, zu prüfen, wie sie in einer den Produzenten gemäßen Weise eingesetzt werden könnten. Als wesentliches Moment der Entqualifizierung bestimmten die Lucas-Ingenieure die Entwertung dessen, was sie tacit knowledge oder „stilles Wissen“ nannten. Es handelt sich dabei um Erfahrungswissen, das aus jahrelanger Handhabung stammt, das aber vom betreffenden Arbeiter nicht in abstrakt-begrifflicher Form expliziert werden kann. Mike Cooley berichtet etwa von älteren Mechanikern, die am bloßen Geräusch oder an der durch Abtasten gefühlten Vibration eines defekten Flugzeugtriebwerks erkennen konnten, wo der Fehler lag. Die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Entwicklung, so die Autoren des Lucas-Plans, bestehe nun darin, solches Erfahrungswissen obsolet zu machen. Zunächst werde die Funktionsweise eines Arbeitsvorgangs in theoretischen Abstraktionen festgehalten, dann würden diese in das Programm einer Maschine übersetzt, welches automatisch abläuft und den Menschen, der es bedient, auf mechanische Handlungen reduziert. Demgegenüber käme es darauf an, Produktionsverfahren zu erfinden, die das Erfahrungswissen der Beteiligten erhalten und erweitern, sich aber gleichzeitig die Vorzüge moderner, auf wissenschaftlicher Abstraktion basierender Technologie zunutze machen.
Als Beispiel hierfür werden im Lucas Plan so genannte „telechiric devices“ oder mechanische Hände beschrieben. Solche Geräte erlauben es einem Arbeiter, durch seine eigenen Bewegungen in Echtzeit einen Roboterarm zu steuern, der beispielsweise unter Wasser eine Ölförderanlage repariert oder an einem anderen für Menschen gefährlichen oder unangenehmen Ort Arbeiten verrichtet. Die Lucas-Ingenieure hatten zunächst über einen vollautomatischen Roboter nachgedacht, waren aber angesichts der dabei aufgetretenen Programmierungsschwierigkeiten auf die Fernsteuerungslösung verfallen. Schon die Automatisierung des Anziehens einer Schraube mit dem richten Schraubenschlüssel und Drehmoment hätte ungeheuer komplizierte Rechenoperationen erfordert, während ein erfahrener Arbeiter diese wie auch weit komplexere Aufgaben im Schlaf ausführt, ohne sich etwa über den Torsionsbeiwert eines Bolzens oder die Scherkrafttoleranz seines Materials Gedanken zu machen. Die telechirischen Geräte entwerten diese handwerkliche Geschick des Arbeiters nicht, sondern verschaffen ihm durch technische Hilfsmittel einen erweiterten Aktionsradius. Ähnliches gilt für die Methode der analogen Teileprogrammierung, die Mike Cooley für den Werkzeugbau vorschlägt. Hier werden die Operationen, die eine Maschine ausführen soll, nicht in ein symbolisches Zeichensystem übersetzt, sondern ein erfahrener Dreher programmiert sie manuell, indem er ihr mit einem elektronischen Schalthebel „vormacht“, was sie zu tun hat. Bei dieser Art des Einsatzes von Computertechnologie könnten die Fähigkeiten des Drehers bewahrt und erweitert werden und die Trennung von Kopf- und Handarbeit wäre weniger schroff als üblicherweise.
Die genannten Beispiele sind erste Gehversuche einer neuen Art der Kritik der modernen Industriearbeit, die dem Problem der dort herrschenden Entfremdung noch nicht annähernd gerecht werden. Zudem wurden ähnliche Ideen mittlerweile vom kapitalistischen Management selbst verwirklicht, wodurch die Unfreiheit der Produzenten nicht verringert, wohl aber der unternehmerische Profit gesteigert wurde (s. z.B. den Artikel: Schüler aus Metall. Wie Roboter durch Zuhören und Hinschauen neue Aufgaben lernen können, aus der Berliner Zeitung vom 29.05.09). Wichtiger als die konkreten Einzelvorschläge sind daher die utopischen Zielvorstellungen, die hinter den damaligen Experimenten standen. In seinem Buch Architect or Bee? skizziert Mike Cooley einen Begriff unentfremdeter Arbeit. Eine solche müsste zugleich schöpferisch und ausführend sein, Elemente quantifizierend-abstrakten Denkens wie qualitativ-individueller Erfahrung enthalten, körperliche und geistige Tätigkeiten müssten in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. In der hier anvisierten Idee einer freien, produktiven Tätigkeit klingt die von den Romantikern der jugendlichen Gegenkultur der 60er Jahre geforderte Aufhebung der Trennungen von Arbeit und Freizeit, Kunst und Leben an, allerdings in einer viel konkreteren, lebenspraktischeren Form als in den hippiesken Phantasien. Als historische Vorbilder dienen Cooley die mittelalterlichen Bauhüttenmeister wie Villard de Honnecourt, sowie die großen Handwerker-Künstler der Renaissance. Deren ganzheitliche Arbeitsweise auf der Höhe der modernen Produktivkraftentwicklung neu zu erfinden, sah er als Aufgabe einer zukünftigen Umwälzung der Gesellschaft. Wichtig sei es dabei vor allen Dingen, dem wissenschaftlichen Jargon den Kampf anzusagen, mit dem die diversen Spezialisten aller Sparten ihr Wissen geheim halten. Dieses Latein unserer Tage müsse in die Volkssprache übersetzt werden, andernfalls sei alles Reden von industrial democracy nichts als leeres Geschwätz.
Scheitern des Plans und Untergang der Gewerkschaftsbewegung
Wie wir gesehen haben, hatte der Lucas Plan einen Doppelcharakter als pragmatisches Verhandlungsangebot und subversive Propagandaaktion. Er scheiterte auf beiden Ebenen. Weder die Lucas-Konzernleitung noch die Regierung hatten ein ernsthaftes Interesse daran, über die Vorschläge des Combine Committees zu diskutieren. Es gelang den shop stewards auch nicht, etwa durch Streiks oder Betriebsbesetzungen, einen Druck aufzubauen, der die Gegenseite an den Verhandlungstisch hätte zwingen können. So blieben ihre Pläne in der Schublade und die alternativen Produkte wurden nicht verwirklicht.
Ebenso wenig erfüllte sich die Hoffnung auf eine Verallgemeinerung der qualitativen Infragestellung der Produktion, die wiederum für die Forderungen der Lucas-Arbeiter bessere Bedingungen geschaffen hätte. Zwar wurde dem Plan eine große mediale Öffentlichkeit zuteil und er wurde sowohl unter Gewerkschaftsaktivisten als auch in anderen sozialen Bewegungen wohlwollend bis enthusiastisch aufgenommen. Es blieb jedoch weitgehend bei zuschauender Begeisterung. Nur ganz wenige Arbeiter fanden sich bereit, ebenfalls die Unvernunft ihres Sektors und ihrer Tätigkeit zu untersuchen und über sinnvollere Verwendungen der von ihnen gehandhabten Produktionsmittel nachzudenken. So stellten etwa die Beschäftigten eines Chrysler-Werks in Coventry die Forderung auf, in Zukunft keine Autos mehr produzieren zu müssen. Zur Begründung schrieben sie in einer Erklärung: „Die weit verbreitete ökologische Kritik des benzinbetriebenen Privatautos als eines sozial unverantwortlichen Verkehrsmittels legt es uns nahe, dass wir die Machbarkeit neuartiger, sozial nützlicher Produkte erkunden müssen, um die Möglichkeiten des bestehenden Werks und seiner Maschinerie zu nutzen und sie von einer Ware wegzulenken, deren Profitabilität und Nützlichkeit rasant abnehmen.“
Von solchen seltenen Ausnahmen abgesehen, fuhr die Mehrzahl der britischen Arbeiter fort, mit großer Verve auf ihren unmittelbaren Lohninteressen zu beharren und sich um Zwecke und Methoden ihrer Produktion nicht weiter zu bekümmern. Die Krise des englischen Kapitalismus, die die Arbeiter durch ihre beherzten Lohnforderungen mit heraufbeschworen hatten, hatte sich unterdessen Mitte der 1970er Jahre weit zugespitzt: explodierende Arbeitslosenzahlen, galoppierende Inflation, desolate Staatsfinanzen, die die einstige Weltmacht in die demütigende Lage brachten, einen IWF-Kredit anzunehmen – d.h. eine Maßnahme, die eigentlich zur Rettung von Drittweltländern vor dem völligen Ruin gedacht war. Zur Überwindung der Misere bemühten sich Unternehmer und Regierung – neben der bereits beschriebenen Rationalisierungsstrategie – endlich eine Senkung des Lohnniveaus durchzusetzen. Sie trafen jedoch auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter, die nun auch dazu übergingen, ihre Fabriken zu besetzen. Bei aller Militanz wurden die Kämpfe aber zunehmend perspektivlos. Die Taktik der lokalen wilden Streiks für unmittelbare Verbesserungen, die die Shop-Steward-Bewegung während des Aufschwungs erfolgreich angewendet hatte, funktionierte in der Krise nicht mehr. Auch der entschlossenste Streik macht wenig Eindruck, wenn das bestreikte Werk ohnehin stillgelegt werden soll. Die Lohnarbeit kann auf Dauer nur prosperieren, wenn auch das Kapital prosperiert, das sie beschäftigt. Wenn die Lohnarbeiter aus borniertem Eigeninteresse beharrlich das Kapital an seiner Fortentwicklung hindern, ohne eine grundsätzlich andere Gesellschaftsorganisation anzustreben, schneiden sie sich letztendlich ins eigene Fleisch. Etliche Briten müssen diesen Zusammenhang instinktiv gespürt haben, als sie 1979 Margaret Thatcher zur Premierministerin wählten. Die Eiserne Lady sorgte dann dafür, dass die Profitrate des englischen Kapitals sich erholte. Oft wird gesagt, sie hätte dies erreicht, indem sie „die Gewerkschaften zerschlagen“ hätte. Das ist nicht richtig. Die Arbeiter hatten sich vielmehr selbst in eine Sackgasse manövriert, indem sie sich weigerten, ihre eigene Rolle im Produktionsprozess infragezustellen. Thatcher mag die Totengräberin der britischen Gewerkschaftsbewegung gewesen sein, umgebracht hat diese sich selbst.
Konklusion
In der nichtrevolutionären Situation Großbritanniens der 1970er Jahre war der Lucas Plan zum Scheitern verurteilt. Das Combine Committee hatte darauf gesetzt, dass sich seine Perspektive der qualitativen Kritik an Zielen und Methoden der Produktion verallgemeinern würde und zumindest angedeutet, dass die letztendliche Verwirklichung ihrer Ziele von einem Bruch mit der Warenform abhängt. Davon wollte aber kaum jemand etwas wissen und so blieb ihr Vorschlag ein utopischer Traum, der an den unerbittlichen Gesetzen des Marktes zerplatzte.
Stellen wir uns jedoch für einen Moment vor, die Initiative der Lucas-Arbeiter wäre auf eine gesellschaftliche Situation getroffen, in der das Funktionieren der kapitalistischen Maschinerie ausgesetzt gewesen wäre – wie etwa im eingangs erwähnten französischen Mai 1968. Wenn die meisten Fabriken besetzt sind und die Produzenten den Anweisungen ihres jeweiligen Managements wenigstens kurzzeitig nicht Folge leisten, könnte eine entschlossene Gruppe von Arbeitern unmittelbar mit der Herstellung von als sinnvoll erachteten Produkten beginnen, sofern sie deren Baupläne schon in der Tasche hat. Es dürfte dann möglich sein, mit den Arbeitern von Zuliefererfirmen Kontakt aufzunehmen und sie um die Bereitstellung benötigter Rohstoffe oder Bauteile zu bitten. Schließlich wären diese gerade ebenfalls im Streik und hätten nichts Besseres zu tun. Auch würden sich sicher ohne weiteres Leute finden, die die Verteilung der hergestellten Güter übernehmen und sie denen zukommen lassen, die Bedarf an ihnen haben.
Wie bereits erwähnt, krankte der Mai ’68 daran, dass zwar der normale kapitalistische Betrieb gestoppt wurde, es aber an Mut und Ideen fehlte, die Produktion unter eigener Führung wieder aufzunehmen. Hätte damals in Frankreich eine Arbeitervereinigung wie das Lucas Combine existiert, wäre ihr eine Avantgarderolle zugefallen. Sie hätte mit gutem Beispiel vorangehen und mit der Verwirklichung ihres Alternativplans beginnen können und damit andere Betriebe zur Nachahmung aufgefordert. So wäre eventuell eine gesellschaftliche Dynamik entstanden, welche die Mai-Bewegung über ihren toten Punkt hinausgetrieben hätte… Aber lassen wir das.
In der wirklichen Geschichte fehlte es den Briten ebenso an der Neigung zur generalisierten Fete wie es den Franzosen an Ideen für eine vernünftige Produktion mangelte. So blieben die notwendigen Ingredenzien der Revolution – von denen noch einige weitere zu nennen wären – zeitlich und räumlich getrennt und konnten ihre Wirkung nicht entfalten. Der nächste Anlauf wird sie vereinigen, andernfalls ist er zum Scheitern verurteilt.
JOSEF SWOBODA