Die Sterblichkeit der kritischen Theorie
Nachträglicher Aufruf zur Teilnahme an der LLL-Demonstration! – Geeignet insbesondere für Adorniten!
Auf dem Tresen im Januar 2019 verteiltes Flugblatt. Auf demselben Tresen wurde noch eine zweite Version für Praktiker verteilt. Und wer davon nicht genug hatte, bekam dazu noch geballte 15 Seiten (A5) gegen Bini Adamczak. (Ursprüngliche Eintrag mit Minikommentar hier.)
Die Sterblichkeit der kritischen Theorie
Könnte man nicht sagen, es gibt nur zwei philosophische Richtungen? - Den Idealismus, der annimmt, dass die Dinge anders sind, als sie erscheinen und den Realismus, der im Gegenteil davon überzeugt ist, dass sie sind, wie sie sind? Entsprechend gäbe es nur zwei Marxlektüren: die erste verstünde den Kapitalismus als eine abstrakte Struktur, als das unsichtbare, sich selbst bewegende Kapit»al, das wie Hegels Idee funktioniere, während die andere ihn als eine sehr konkrete Auseinandersetzung begriffe, nämlich als den Kampf zwischen Klasse und Klasse. Hieraus folgen zwei praktische Antworten auf das Problem unserer Gesellschaft: die eine betont die Unangreifbarkeit der Struktur, die sich dem Zugriff der Menschen entzogen hätte wie eben jene Idee, Erbe Gottes, den auch kein Mensch je erreicht hat; die andere hingegen das Menschliche an Gott: da er Produkt unserer Phantasie ist, wie das Kapitalverhältnis, müssten wir auf letzteres doch ebenso Zugriff haben wie die Moderne auf alle Transzendenzen. Hatten die Menschen Gott nicht getötet? Die Voluntaristen hypostasieren subjektiv die menschliche Macht, während die Adorniten seine objektive Ohnmacht vergötzen.
Der Voluntarismus (Realismus) ist sympathischer, aber der Adornismus (Idealismus) hat immer Recht. Solange die Menschen nicht praktisch bewiesen haben, dass eine andere Welt möglich ist, bleibt der Satz, sie sei es, eine Behauptung; logische Possibilität und kein empirisches Faktum. Kann aber aus dem Voluntarismus ein Idealismus gemacht werden? Kann die theoretische Überlegenheit der Einsicht in die objektive Struktur umgemünzt werden in eine praktische Doktrin, doppelt so mächtig wie der Voluntarismus? Nur, indem letzterer negativ verstanden wird. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind die Erfinder dieser Lehre.
Horkheimer und Adorno beschreiben in einem Aphorismus mit dem Titel »Quand Méme« den gesellschaftlichen Charakter der Mörder von Luxemburg und Liebknecht: »Die Menschen sind weich, sofern sie vom Stärkeren etwas wollen, abstoßend, sofern der Schwächere sie darum angeht. Das ist der Schlüssel zum Wesen der Person in dieser Gesellschaft«. Übersetzt bedeutet das: In der subjektiven Erbarmungslosigkeit der Protofaschisten, denen unsere Genossen zum Opfer fielen, drückt sich die Erbarmungslosigkeit der objektiven Struktur aus. Einigen von ihnen musste die Lizenz zum Töten nicht erst erteilt werden. Ohne dass es einen Befehl gab, vollzogen sie, was anderen erst aufgetragen werden musste, spontan und aus freien Stücken befanden sie sich im Einklang mit der herrschenden Gewalt. Das Subjekt ist Substanz: »Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur...Dem widersprechen heißt, aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen«. Der zweite Satz bedeutet: Anders als zu Zeiten des Januaraufstandes gibt es für uns keine Hoffnung mehr. Die objektive Bewegung der Geschichte hat uns verraten wie die Sozialdemokratie, keine Tendenz erlaubte den Glauben an die revolutionäre Erlösung. Nach einem Wort Hegels darf Philosophie nicht trösten wollen, das Gleiche gilt für den Marxismus, der ihr Erbe antritt. Sicher ist nur eins: es gibt keine Hoffnung. Aber es ist ein Unterschied, ob man hofft, oder ob man Einsicht in die Hoffnungslosigkeit hat. Es ist ein Unterschied, ob man gegen die bisherigen Naturgesetze an ein Wunder glaubt, oder den bisherigen Naturgesetzen zuwiderhandelt. Deshalb fahren Horkheimer und Adorno, wie folgt, fort: »Verschiedenste Konsequenzen können daraus gezogen werden: von der Anbetung faschistischer Barbarei bis zur Zuflucht zu den Höllenkreisen. Es gibt noch eine weitere: der Logik spotten, wenn sie gegen den Menschen ist«.
Ist das nicht die Lehre, uns Luxemburg und Liebknecht mit auf den Weg gegeben haben?
Kurz vor ihrem Tod verfassen die beiden Führer der KPD ihr identisch lautendes Vermächtnis, das Liebknecht auf jene ewig gültige Formel brachte: Trotz alledem! Rosa Luxemburg präzisierte den Gedanken: »Die Revolution ist die einzige Form des »Krieges« - auch dies ihr besonderes Lebensgesetz -, wo der Endsieg nur durch eine Reihe von »Niederlagen« vorbereitet werden kann!«. Es gibt keine Hoffnung, denn: »Was zeigt uns die ganze Geschichte der modernen Revolutionen und des Sozialismus? Das erste Aufflammen des Klassenkampfes in Europa: der Aufruhr der Lyoner Seidenweber 1831, endete mit einer schweren Niederlage. Die Chartistenbewegung in England - mit einer Niederlage. Die Erhebung des Pariser Proletariats in den Junitagen 1848 endete mit einer niederschmetternden Niederlage. Der ganze Weg des Sozialismus ist - soweit revolutionäre Kämpfe in Betracht kommen - mit lauter Niederlagen besät.« Hörte man also auf die Bewegungsgesetze der Objektivität, dann gäbe es nie eine erfolgreiche Revolution, sondern ausschließlich Niederlagen. Aber aus dieser Negativität erwächst eine neue Kraft, die der Realität spottet, weil sie ihr den Rücken kehrt.
Die Lehre lautet: Kein Revolutionär richtet seinen Blick auf die Verhältnisse. Ein Revolutionär bezieht sich ganz auf sich selbst. Rosa Luxemburg scheint über die »Ordnung in Berlin« zu schreiben, zumindest suggeriert es der Titel ihres letzten Textes. Aber in Wahrheit blickt sie auf das Scheitern der Revolution. Sie blickt auf Ferdinand von Freilingrath, Revolutionär von 1848 und zitiert sein Gedicht:
Nun ade – doch nicht für immer ade!
Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!
Bald richt ich mich rasselnd in die Höh',
Bald kehr ich reisiger wieder!
Der Geist der Revolution lässt sich nicht töten und die Revolutionärin weiß das. Sie bezieht sich auf den toten Revolutionär und hält diesen Geist am Leben – obwohl die Verhältnisse todbringend sind. Das ist die Lehre der kritischen Theorie, die Luxemburg und Liebknecht erfinden: aus der Negativität erwächst die Macht. »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen«. Nicht der Blick nach vorne gewinnt die Welt, sondern der Blick zurück. Nicht der Blick auf die Verhältnisse, sondern der auf die toten Genossen, in dem sich die Revolution, ihren Geist bildend, auf sich selbst bezieht. Das ist ihre göttliche Macht, durch die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht unsterblich werden: die Revolution bezieht sich auf sich selbst, wird ihr eigenes Gesetz. Die ewige, göttliche Substanz ist in Wahrheit das Subjekt!
Wenn wir das Andenken an unsere Toten pflegen, halten unsere Gegner das für Götzendienst, der beweise, wie sehr es sich beim Marxismus um eine politische Theologie handelt. Wir
sollten diese Bezichtigung nicht ablehnen, sondern affirmieren: ohne jeden Zweifel sind wir Gläubige, falls alles, was über das Bestehende hinausdenkt, religiös ist. Man könnte
sich wehren: nicht das Übersteigen der Fakten sei Aberglaube, sondern der blinde Glaube an die bestehenden Verhältnisse der eigentliche Wahnsinn. Aber nimmt man seinem Gegner nicht
viel eher die Kraft seiner Attacke, indem man sie nicht abwehrt? Wir selbst geraten dadurch in einen, im wahrsten Sinne des Wortes, unendlichen argumentativen Vorteil: auf einer einzigen Voraussetzung - wir glauben nicht, handeln dem aber zuwider – können wir den Rest unserer Lehre wiedererrichten.
Verleugnen wir also nicht, dass der Marxismus-Leninismus eine Ideologie war, und zwar Ideologie in dem Sinne, den Marx kritisierte: der DIAMAT war sich als Wissenschaft ausgebende Feindschaft gegenüber dem Gedanken. Er war nicht besser als seine westlichen Widerparts, aber heute können wir von ihm lernen. Nicht was seinen bescheidenen intellektuellen Gedanken angeht, aber seine Form ist für uns von Bedeutung. In einer Gegenwart, in der Kritik längst zum guten Ton gehört, erhält die Orthodoxie ein wahrlich kritisches Moment: der sich spröde machende Unwille, bestimmte Dinge zu hinterfragen und dessen großer Bruder, der unbedingte Glaube an eine absolute Wahrheit, sind der kritische Stachel für eine Zeit, der solche gedankliche Festigkeit abhanden gekommen ist.
Selbstbewusst kehren wir also den Verhältnissen den Rücken. Scharen uns, wie sonst nur die Religionen, um das Andenken an etwas Vergangenes, das nicht vergeht: die Körper sind verwest und doch nehmen wir an, wofür sie starben, sei anwesend, mag das auch keinen – wissenschaftlichen - Sinn ergeben. Die Revolutionäre beziehen sich auf sich selbst. Sie erinnern, indem sie rückblickend nach vorn blicken, sind hoffnungsvoll, indem sie verzweifeln. Und so erinnern wir heute an Liebknecht und Luxemburg, in dem wir letztere reden lassen, wie sie damals den Revolutionär Ferdinand Freilingrath in der Roten Fahne zu Worte kommen lies, wenige Stunden bevor man ihr ans Leben ging. Mit ihrem eigenen Blick, der ihren Mördern ins Gesicht sah, um sich dann von ihnen ab- und Freilingrath zuzuwenden, blicken wir heute auf Luxemburg zurück, aber schleudern dadurch mit ihren Worten unserer Gegenwart entgegen:
»Ordnung herrscht in Berlin!« Ihr stumpfen Schergen! Eure »Ordnung« ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon »rasselnd wieder in die Höh' richten« und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden:
Ich war, ich bin, ich werde sein!«