Die Unsterblichkeit der Rosa Luxemburg
Nachträglicher Aufruf zur Teilnahme an der LLL-Demonstration! – Geeignet insbesondere für Praktiker!
Auf dem Tresen im Januar 2019 verteiltes Flugblatt. Auf demselben Tresen wurde noch eine zweite Version für Adorniten verteilt. Und wer davon nicht genug hatte, bekam dazu noch geballte 15 Seiten (A5) gegen Bini Adamczak. (Ursprüngliche Eintrag mit Minikommentar hier.)
Die Unsterblichkeit der Rosa Luxemburg
Als Linker hat man nur die Wahl, entweder Voluntarist zu sein, also die Freiheit des subjektiven Willens zu wählen (was wohl eine Tautologie ist: man wählt die Freiheit); oder Ökonomist, und daher die objektiven Gesetze des Kapitals für das Maßgebliche zu erachten (was wohl einer Selbstentmündigung gleichkommt: man wählt die Unfreiheit). Die Voluntaristen sind heute wohl in der Überzahl. Sie wissen, dass die objektiven Gesetze, von denen die Ökonomisten so gerne sprechen, von Menschenhand gemacht sind und daher auch von Menschenhand wieder abgeschafft werden können. Die kleinere, aber dafür besonders stolze Gruppe der Ökonomisten weiß, dass der subjektive Faktor Mensch, von dem die Voluntaristen so gerne reden, zwar logisch ungebunden ist, aber empirisch voller Zwänge. Mit Marx können sie sagen: Entscheidend ist die Notwendigkeit des notwendig falschen Bewusstseins, denn letzteres kann sich nicht autonom entscheiden, plötzlich richtiges zu sein, ohne die Notwendigkeit, die herrscht, zu brechen. Voluntaristen sind sympathischer, aber Ökonomisten haben immer Recht. Nur die geglückte Revolution könnte sie für eine Sekunde widerlegen, ehe sie aufmerken: »Die Verhältnisse waren eben reif!« Philosophen, die immer Recht haben wollen, interessieren sich daher für die Gesetze, die Revolutionäre brechen, da sie das Richtige tun wollen.
Kann man aber aus dem Willen ein Gesetz machen? Rosa Luxemburg hat uns bewiesen, dass wir können.
Wohlbemerkt: es geht hier nicht um die Frage Spontaneität gegen Organisation. Jeder kleine Akt des Widerstands in der Schule oder zu Hause, gegen die Familie oder auf Arbeit, während der Ausbildung oder im Studium – jede Revolte beginnt mit einem kleinen Überschuss, der sich rational nicht einfangen lässt, weil er aus impulsivem Überdruss resultiert. Der Beginn jeder großen Sache gehorcht der Gesetzlosigkeit, Abwesenheit von Ordnung regiert hier, das Ereignis der Revolte gleicht insofern eher einem Nervenzusammenbruch als der Konzentration, auch wenn sich in ihm zweifellos alle Kräfte bündeln. Funktionäre des Allgemeinen haben Recht, wenn sie diesen Überschuss kultivieren wollen; aus heißer Wut muss kalte Berechnung werden, aus dem Unwohlsein Strategie und Taktik: sehe ich, wie mein Nebenmann geschlagen wird, versuche ich unmittelbar einzuschreiten, aber mittelbar zu verhindern, dass es meiner Nebenfrau auch passiert. Das ist der Sinn und Zweck von Organisation: verhindern, dass es wieder passiert. Die Organisation ist also der Ort der Wultpflege, der Hass auf das Bestehende ein Feuer, das gepflegt werden will, da es ansonsten wirkungslos verbrennt. Die Linksradikalen und Anarchisten unter uns wissen, worauf das hinausläuft: die Organisation kann die Wut ersticken, der Überschuss wird dann von Genügsamkeit aufgefressen und die Mittel, die den Hass speisen sollten, haben ihn erdrückend sich gegen den Zweck gewandt wie einer der sein Feuer mit zu viel Holz erstickt. Diesen Übereifer, von dem Verschwörer wie Sozialdemokraten gleichermaßen betroffen sind, nennt Adorno Pseudoaktivität: Handeln, das seinen Zweck aus dem Blick verliert und sich selbst genügt.
Um diesen Widerspruch geht es also nicht. Die Organisierten wissen, dass es ihnen um die spontanen Massen geht sowie jeder wahrlich Spontane weiß, dass man auf die Spontaneität vorbereitet sein muss: ich muss eine schwarzes Regenjacke und Handschuhe dabeihaben, wenn ich in Hamburg beweisen will, dass der Verblendungszusammenhang nicht geschlossen ist. Da man das schon weiß, kann es darum kann nicht gehen.
Worum geht es also? Rosa Luxemburg veröffentlicht einen Tag vor ihrer Ermordung jenen berühmten Artikel Die Ordnung herrscht in Berlin, welcher seitdem für uns Revolutionäre das gleiche ist, was für die Naturwissenschaften Newtons Principia Mathematica. Sie Schreibt: »Es ist ein inneres Lebensgesetz der Revolution, nie beim erreichten Schritt in Untätigkeit, in Passivität stehenzubleiben. Die beste Parade ist ein kräftiger Hieb. Diese elementare Regel jeden Kampfes beherrscht erst recht alle Schritte der Revolution. Es versteht sich von selbst und zeugt von dem gesunden Instinkt, von der inneren frischen Kraft des Berliner Proletariats, daß es sich nicht bei der Wiedereinsetzung Eichhorns in sein Amt beruhigte, daß es spontan zur Besetzung anderer Machtposten der Gegenrevolution: der bürgerlichen Presse, des offiziösen Nachrichtenbüros, des »Vorwärts« schritt.« Das erste Luxemburg ́sche Gesetz lautet also, dass jeder Kampf auf die Spitze getrieben werden muss. Wir können das auf unsere eigene Praxis anwenden: in jeder politischen Auseinandersetzung, in jeder Demonstration ist die Weiterentwicklung derselben zu suchen. Es gibt immer eine höhere Stufenleiter und der Revolutionär wird sie finden, er wird sich den Begriff der Eskalation nicht streitig machen lassen, der vom französischen lescalier (Treppe) stammt: Produktivkräfte können anwachsen und genauso der Intensitätsgrad eines Konflikts, aber auf den Intensitätskraft des Konflikts hat der Revolutionär direkten Einfluss, auf die Entwicklung der Produktivkräfte nicht. Erstes Prinzip der Luxemburg.
Aus dem ersten Prinzip der Luxemburg folgt das zweite: »Sobald das Grundproblem der Revolution klar aufgestellt worden ist - und das ist in d i e s e r Revolution der Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann als des ersten Hindernisses für den Sieg des Sozialismus -, dann taucht dieses Grundproblem immer wieder in seiner ganzen Aktualität auf, und jede einzelne Episode des Kampfes rollt mit der Fatalität eines Naturgesetzes das Problem in seinem vollen Umfang auf, mag die Revolution zu seiner Lösung noch so unvorbereitet, mag die Situation noch so unreif sein«. Es gibt keine Intensivierung der politischen Auseinandersetzung, wenn die logische Struktur des Kampfes nicht klar erkannt wird. Wissen die Revolutionäre nicht, was ein Etappenziel wäre und was der vorläufige Sieg, können sie ihre Fortschritte nicht messen und bleiben planlos. Jede politische Auseinandersetzung in revolutionärer Absicht muss daher einer Losung folgen: in einem Satz muss zusammengefasst werden können, worum es geht. Solch eine Losung ordnet unter sich, wie von selbst, bestimmte Parolen, die sich aus einzelnen Situationen ergeben. So verwandelt sich z.B. die Losung: »Nieder mit der Regierung Ebert-Scheidemann« in die die Parole: »Besetzt das Gebäude des Vorwärts!«. Die Losung ordnet als allgemeines Gesetz des Aufstandes das Feld, welches die Parolen konkreter bemessen, ihre Beziehung ist die von Tagesaufgabe und Telos, wobei das Tagwerk seiner Verwirklichung entgegendrängt: dem Abend des untergehenden Kampfes im Sieg der Revolution.
Beziehen sich die ersten beiden Gesetze auf die lokale Auseinandersetzung und sind genuin praktisch, so dreht das dritte und entscheidende Prinzip um die Geschichte. Luxemburg rekapituliert hierin, einen Tag vor ihrer Apotheose, den zurückliegenden Kampf und wie sich sein Scheitern in den Geschichtsverlauf einfügt: »Was zeigt uns die ganze Geschichte der modernen Revolutionen und des Sozialismus? Das erste Aufflammen des Klassenkampfes in Europa: der Aufruhr der Lyoner Seidenweber 1831, endete mit einer schweren Niederlage. Die Chartistenbewegung in England - mit einer Niederlage. Die Erhebung des Pariser Proletariats in den Junitagen 1848 endete mit einer niederschmetternden Niederlage. Der ganze Weg des Sozialismus ist - soweit revolutionäre Kämpfe in Betracht kommen - mit lauter Niederlagen besät.« Erstaunlicherweise folgert Luxemburg daraus aber: »Die Revolution ist die einzige Form des »Krieges« - auch dies ihr besonderes Lebensgesetz -, wo der Endsieg nur durch eine Reihe von »Niederlagen« vorbereitet werden kann!« Es wäre ein Irrtum, hierin eine Geschichtsphilosophie zu erkennen, in der ein Plan, quasi göttlich, über alle Zeiten regiert und das im Anfang angelegte Werk vollendet. Derlei Gute Nacht- Geschichten wären der Trost, der in der Philosophie verboten ist. Es geht auch nicht um das Anwachsen des Drucks, das den Kessel sprengt, so als könne akkumuliertes historisches Leiden bei ausreichender Konzentration die Ende der Verhältnisse zerbersten. Überhaupt ist hier keine Akkumulationslogik am Werk, sondern die des Schatzbildners: die Erfahrungen des Scheiterns sind unser wertvollster Besitz.
Der Schatzbildner unterscheidet sich vom Kapitalisten, weil er auf seinem Besitz sitzen bleibt, er reinvestiert es nicht, sonst würde er es in Kapital verwandeln, sondern hütet und vergräbt es. So vergräbt sich der Revolutionär am höchsten Punkt seiner Entwicklung in den gescheiterten Revolutionen. Nicht die objektiven Verhältnisse drängen ihn fortan, dieselben verändern zu wollen, sondern die subjektive Verpflichtung auf die Geschichte der Revolution, die sich jetzt ihr eigenes Gesetz schafft und von den Verhältnissen löst. Objektiv spricht alles gegen die Revolution aber Denken hält an ihnen fest – das steckt hinter der ewig gültigen Parole Trotz alledem. Das ist das Unabgegoltene der Revolution: Nur solange es Menschen gibt, kann die Idee des Menschen nicht vergehen, aber man hüte sich das mit Hoffnung zu verwechseln, deren Gegenteil es gerade ist. Aus der Verzweiflung wächst die größte Macht und die Reflexion auf die Ohnmacht ist die stärkste Waffe im Kampf für die Verwirklichung der Vernunft – Sinn des Satzes: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen«.
Rosa Luxemburg ist die erste, die auf dieses Paradox gestoßen ist. Die Selbstgenügsamkeit der Revolution beweist sie in ihrem Rückblick: ihre letzten Zeilen zitieren die letzten Zeilen eines anderen Revolutionärs, der seinerzeit auf die missglückte 48er-Revolution blickte und schrieb:
»Nun ade – doch nicht für immer ade!
Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder!
Bald richt ich mich rasselnd in die Höh',
Bald kehr ich reisiger wieder!«
Im Rückblick, nicht im Blick nach vorn, reflektiert sich die Revolution. Die Unsterblichkeit der Rosa Luxemburg ist eine selbstgegebene Unsterblichkeit, ein wahrlich göttlicher Akt, der sich aus der Kraft der Revolution, sich auf sich zu beziehen, speist: actus purus. Solange die Menschheit in der Vorgeschichte verharrt, lebt Rosa Luxemburg, und erst am Tag der siegreichen Weltrevolution werden wir sie endgültig begraben. Rosa Luxemburg stirbt mit dem Sieg der Revolution. Paradox der Luxemburg. Oder anders: wenn wir zurückblicken, wie Luxemburg zurückblickte, erst dann blicken wir nach vorn, wenn wir verzweifeln, sind wir hoffnungsvoll, wenn wir unsere Aufgabe der Gegenwart in der Vergangenheit suchen. Und so erinnern wir heute an Rosa Luxemburg, in dem wir sie reden lassen, wie sie damals den Revolutionär Ferdinand Freilingrath zu Worte kommen lies. Mit ihrem Blick, der sich auf die Häscher richtete, die ihr kurz darauf ans Leben gingen, blicken wir uns in unserer Gegenwart um und schleudern ihr entgegen:
»›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure »Ordnung« ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon »rasselnd wieder in die Höh' richten« und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden:
Ich war, ich bin, ich werde sein!«