Geisterzug
Marginalie zum Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
In der mondänen Stadt Paris gibt es eine Métrolinie welche führerlos fährt. Für diesen Zug mit der Liniennummer 14 ist der ermüdende Beruf des Métro-Führers abgeschafft, während er für alle anderen Linien noch besteht. Im Vergleich mit den anderen Métros ist es ein Genuß, mit diesem Zug zu fahren. Die Bahn fährt, ohne zu rucken, gleichmäßig beschleunigend und ebenso gleichmäßig wieder abbremsend. Sie ist im Gegensatz zu den anderen Linien nie wirklich überfüllt, weil genügend Züge eingesetzt werden, auf die sich die Fahrgäste verteilen können.
Während der Fahrt kann man an den Zugenden in die Schwärze des Tunnels schauen: Solche Möglichkeit der Kontemplation eröffnet sich, weil es keine schmutzigen Führerhäuschen gibt, welche die Sicht behindern könnten. Putziger Anblick, wenn dann ein Zug aus der Gegenrichtung kommt: Ebenfalls führerlos, aber dennoch vollbesetzt mit Menschen. Durch die herrschende Raum-Zeit-Organisation jagend warten sie in diese oder jene Richtung schauend darauf, daß dieser oder jener Bahnhof erreicht werde, damit sie dieses oder jene Ziel, in einem jeweils auf diese oder jene Art vorgegebenen Quantum der Zeit erreichen können, die ihnen in ihrer Zeiteinheit Tag zur Verfügung steht.
So rauscht mehrmals auf der Strecke ein ganzer Haufen Menschen an einem anderen Haufen vorbei; das Licht der Züge leuchtet für einen Moment den ganzen Tunnel aus, und danach wieder Schwärze. Die Fahrgäste sehen allesamt so aus, als wüßten sie nicht recht, wie ihnen geschieht. Es ist nämlich kein einziger unter ihnen, der für das Erreichen der Bahnhöfe einen Finger auf dem Fahren- oder Bremsen-Hebel krümmte. So sind sie ganz unter sich und der Einsamkeit der Masse ausgeliefert; es ist keiner da, der ihnen die tröstliche Illusion geben könnte, sie würden irgendwohin gebracht.
Der nächste Haltebahnhof der Métro wird immer zweimal angesagt, von einer zwar körperlosen, doch sehr freundlichen weiblichen Stimme, die ihre Intonation vom ersten zum zweiten Mal jeweils verändert. Die Türen öffnen sich ebenfalls vollautomatisch, wenn die Bahn zum völligen Stillstand gekommen ist: Zuerst die Türen der Métro und, präzis unmittelbar darauffolgend, die gläsernen Türen auf dem Bahnsteig. Diese sind in eine übermannshohe Glasfront eingelassen, die den Bahnsteig von den Geleisen abgrenzt.
Solches gläserne Hindernis gibt es natürlich nur deswegen, damit Suizidanten sich einen anderen Platz zum Sterben aussuchen. Wer einmal aufmerksam die wartenden Menschen betrachtet, stellt fest, daß ihre Blicke wie unwiderstehlich angezogen immer wieder auf die Geleise irren, um sich dort für ein paar Sekunden zu verlieren, bevor sie sich wieder irgendwo gefunden zu haben scheinen. Und tatsächlich ist nahezu immer eine der weniger modernen Métro-Linien gestört oder gesperrt; wegen „technischer Probleme“, wie die Durchsagen behaupten. In Wirklichkeit hat es nur wieder jemand vorgezogen, sich von einem Zug überrollen statt sich mittels selbigem von A nach B befördern zu lassen.
Zwar transportieren die öffentlichen Verkehrsmittel heute recht zuverlässig von einem Punkt zum anderen: Kein Vergleich zu jenen Zeiten, wo etwa die Holzräder der Droschken leicht zu Bruch gingen, weswegen man immer mit Verspätungen von ganzen Tagen zu rechnen hatte. Aber da heute sowohl am Startpunkt A als auch am Zielpunkt B nichts als die Monotonie des Immergleichen waltet, hat eigentlich niemand einen Grund, immer schneller von hier nach dort zu gelangen. Weil es gleichgültig ist, wie schnell man sich von A nach B bewegen kann, ist eine noch schnellere Métro niemandem von Nutzen.
Aber die Menschen sind im alltäglichen Schein gezwungen, dem Schein ihres Alltags Folge zu leisten, also ohne wirklichen Grund mehrmals pro Tag zwischen den Orten hin- und herzurasen. Sie sind deswegen nichts als Teil der Innenarchitektur, bewegliches und austauschbares Mobiliar der sogenannten Personenbeförderungsmittel. Eine Funktion der Maschine, deren bloß quantitative Eigenschaften restlos mit Hilfe einer Gleichung mit x errechnet werden können. Auf der Fahrt mit einer führerlos fahrenden Métro, die sie noch schneller an ein Pseudoziel bringt, wissen die Fahrgäste nichts anderes mit sich anzufangen als in der Gegend umherzuschauen: So im Angesicht jener Welt, welche nur allzu offensichtlich nicht ihre eigene ist, kontemplieren sie ihre eigene Ohnmacht. Die Fahrt in diesem Geisterzug läßt sie Langeweile und Angst empfinden, diese zusammengeschossen zu einem diffusen Unbehagen, das ihnen unheimlich ist.
Denn „der Schlaf der dialektischen Vernunft gebiert die Ungeheuer“. In der gegenwärtigen Gesellschaftsformation bestaunen alle Menschen die technischen Dinge und finden in ihnen ein Eigenleben wie einen Poltergeist wohnen. Den größten Respekt pflegt seit jeher etwas einzuflößen, das unbeherrscht, also eigentlich unkontrollierbar ist. „Dadurch daß die abgeschiedenen Dinge als Bilder der subjektiven Intentionen [von Wunsch und Angst] einstehen, präsentieren diese sich als unvergangene und ewige.“
Natürlich, durch den passiven Genuß dieses oder jenes Spektakels, das immer an dieser oder jener Ecke für einen statthat, ist die Entfremdung schon längst so komfortabel gemacht, daß sie nicht mehr als Entfremdung, sondern bloß ganz diffus als Langeweile und Angst wahrgenommen wird. Und freilich, die Intelligenz eines Zeitgenossen vulgo Anhängsels an die Maschine ist durch das lebenslang unrichtige Leben im falschen dazu verdammt, eine sehr verkrüppelte zu sein. Dennoch wäre eigentlich auch mit einer solchen verhältnismäßig unschwer die Faktizität einzusehen, daß der den Dingen innewohnende Geist wesentlich derjenige der Menschen ist, die über Generationen zur Produktion ebendieser Dinge ihre Arbeitskraft verausgabt haben.
Aber „der Geist der Toten lastet sehr schwer auf der Technologie der Lebenden“. Die Macht der Produzierenden, ihnen im Produktionsvorgang enteignet, materialisiert sich in den produzierten Dingen und stellt sich den Produzenten als fremde Macht gegenüber. So macht die Ware aus ihrem Produzenten einen Ohnmächtigen: Ihm gegenüber schließt sich seine Welt ab, zu einer fremden Welt, welche als schlechthin statische keine andere Bewegung aufweist als die sich zuspitzende Konzentration, das Streben nach der Gleichheit mit sich selbst, also den immer konsequenteren Ausschluß des Produzenten sowohl aus dem Produktionsprozeß als auch aus dem Genuß der von ihm produzierten Dinge. Den warenförmig verfaßten Dingen wohnt als Telos inne, nicht gebraucht, sondern nur besessen werden zu können. Daher sind alle zu Spezialisten des Besitzes der Dinge geworden. Spezialisten des Besitzes der Dinge sind aber selbst Besitz der Dinge. Und deswegen handelte das kleine Raisonnement eines dicken schwitzenden Mannes gegenüber seiner Frau, die offenbar beide zum ersten Mal die vollautomatische Linie 14 benutzten, ehrfürchtig von einer gewissen „maschinellen Intelligenz“
. So substantiell fremd stehen die Dinge vor einem, der sie gebrauchen will, so nachhaltig entzieht sich jedes Ding seinem vernünftigen Gebrauch, daß jeder versucht, ihrer unfaßbaren Wunderlichkeit wenigstens mit magischen Formeln beizukommen. Selbige Magie ist zunächst wesentlich das Stehenbleiben bei partiellen Schlußfolgerungen. Der leere Raum, der Abgrund, der sich dabei zwischen unzureichendem Begriff und unbegriffener Sache aufzutun pflegt, wird mit beschwörendem Raunen ausgefüllt. Unbewußte Lüge muß schließlich zur systematischen Lüge werden, wenn mit ihrer Hilfe das tote Denken vergangener Epochen wieder zum Leben erweckt ist. Das ist der Nachvollzug jener großen Bewegung der Historie, welche die Totalität instauriert und schließlich geschlossen hatte. Tägliche Reproduktion der Ideologie noch im Allerkleinsten.
Es ist die Entwicklung der Produktionsmittel schon lange so weit vorangeschritten, daß es den Menschen möglich wäre, niemals mehr eine Métro führen, schon gar nicht den überaus stupiden Beruf des Fahrers ausüben zu müssen. Der Beweis dafür, von jedem einseh- und nachprüfbar, ist die Existenz von zumindestens schon einmal einer vollautomatischen Métrolinie. Aber dennoch tun alle so, als sei der Beruf des Zugführers weiterhin vonnöten. Selbstverständlich wird auch nicht das ganze Pariser Métrosystem auf diese Betriebsweise umgestellt werden, und das zweifellos deswegen, weil dann wieder ein Berufsstand ersatzlos von Maschinen abgeschafft worden wäre, und wieder, gemäß eben der fortschreitenden Entwicklung der Produktionsmittel, die Arbeitskraft einer ordentlichen Anzahl von Menschen für diese Tätigkeit überflüssig geworden wäre, wonach genau diese Anzahl plus einige potentielle zukünftige Zugführer gezwungen wären, zu ihrer lebensnotwendigen Selbstverwertung auf den Arbeitsmarkt zu drängen. Wo die industrielle Reservearmee viel zu groß und die Ware Arbeitskraft im Überfluß vorhanden ist.
Alle Métro- und Zugsysteme nicht auf jenen vollautomatischen Betrieb umzustellen, ist etwa so, wie wenn die Rolltreppe erfunden und eingeführt worden wäre, sie aber nicht automatisch, mit Strom liefe, sondern zu ihrem Betrieb ein, zwei oder beliebig viele Menschen eingestellt werden würden, welche sie durch die Verausgabung ihrer Muskelkraft an Kurbeln antreiben. Also nach wie vor ein sinnvoller Beruf, zu dem Sozialschmarotzer zwangsverpflichtet werden können: Rolltreppenkurbelsklave. Das Gleiche wie Gras-in-Parkanlagen-von-Hand-statt-mit-Rasenmäher-Pflücker, mit der Arbeitsbezeichnung: „spezialisierter Hilfsgärtner“, oder einer noch menschenverachtenderen. Klofraudasein, während nebenan ein vollautomatisch selbstreinigendes Toilettenhäuschen steht. Oder eben Zugführer.
Es ist ein boshaftes Aperçu, daß die Verhältnisse dem ihrer Unvernunft restlos Unterworfenen regelmäßig, hier und da, in einem schimärischen Bild vorführen, wie es sein könnte, wenn es nicht so wäre, wie es nun einmal ist. Die fortgeschrittensten und die rückständigsten Momente pflegen in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen in scheinbar perfekter Harmonie nebeneinanderzustehen. Es ist eine wahrhaft teuflische Harmonie, denn in der Vorgeschichte ist aller Fortschritt nur Schein. Wir haben deswegen nicht einmal die Möglichkeit, klar zwischen Fortschritt und Regression der technischen Entwicklung zu unterscheiden. Jeder weiß, daß der Fortschritt des ökonomischen Unterbaus zur Zeit eher einen weiteren Schritt in Richtung des Abgrundes darstellt als irgendetwas anderes. Auch daher fürchten sich alle vor komplexeren technischen Dingen. Jedes einzelne ist Teil eines riesigen Ensembles von Apparaten, das von den Menschen zwar geschaffen wurde, das sie aber nicht beherrschen. Das stumme Postulat aller Technik fordert, daß sich der ihr der Möglichkeit nach innewohnende Sinn real, nicht nur als Trugbild, in der Welt manifestieren solle. Solange die Notwendigkeit jedoch keine eingesehene ist, mithin von Freiheit nicht einmal die Rede sein kann, wird er weitergehen, jener Spuk, welcher Tische tanzen und noch das unbedeutendste Ding ein „sinnlich-übersinnliches“ sein läßt.
EMIL FUCHS