Totengespräch
Zum Behufe der Erbauung der Itzigen
von Ernst Bloch aus dem Hades geschmuggelt
Es ist Mitternachtszeit,
Und unsel’ge Geschlechter
Stehn auf aus vergeßnen, eingesunknen Gräbern,
Und sie blicken mit Sehnsucht
Nach den Kerzen der Burg
und der Hütte Licht
NIETZSCHE: Überall ist hier die Sprache erkrankt, so daß sie nun gerade das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöte die Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in seiner Not vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mitteilen.
SCHILLER: Der Charakter der Zeit muß sich also von seiner tiefen Entwürdigung erst aufrichten, dort der blinden Gewalt der Natur sich entziehen und hier zu ihrer Einfalt, Wahrheit und Fülle zurückkehren.
HEGEL: Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde, sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens. Daß sie diese harte Arbeit ist, macht einen Teil der Ungunst aus, der auf sie fällt. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.
SCHILLER: Beide entgegengesetzten Schranken werden durch die Schönheit gehoben, die in dem angespannten Menschen die Harmonie, in dem abgespannten die Energie wiederherstellen und auf diese Art, ihrer Natur gemäß, den eingeschränkten Zustand auf einen absoluten zurückführt und den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen macht. Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.
WIELAND: Wer wird glauben, daß in diesen stummen Saiten Harmonien verborgen sind, welche das Herz schmelzen und die Seele in wenigen Minuten durch den ganzen Labyrinth der Leidenschaften fortreißen? Aber lasset einen Tonkünstler mit Fingern, deren jeder eine Seele zu haben scheint, diese stummen Saiten beherrschen, und ihr werdet lauter Ohr, lauter Harmonie werden, erstaunen über das, was ein Mensch vermag.
TIECK: Ist es denn nicht erlaubt, in Tönen zu denken und in Worten und Gedanken zu musizieren?
ZELTER: Gestern Abend wurde die Beethoven’sche Schlachtsinfonie auf dem Theater gegeben, und ich hörte sie aus der weitesten Ferne des Parterre, wo sie ohne alle betäubende Wirkung ist und mich dennoch ergriffen, ja erschüttert hat.
ADORNO: Erschütterung, dem üblichen Erlebnisbegriff schroff entgegengesetzt, ist keine partikulare Befriedigung des Ichs, der Lust nicht ähnlich. Eher ist sie ein Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit innewird. Diese Erfahrung ist konträr zur Erfahrung der Schwächung des Ich, welche die Kulturindustrie betreibt.
HEGEL: Ja selbst in den Tränen schon liegt ein Trost; der Mensch, zunächst in Schmerz ganz versunken und konzentriert, vermag dann wenigsten dies nur Innerliche in unmittelbarer Weise zu äußern. Noch erleichternder aber ist das Aussprechen des Inneren in Worten, Bildern, Tönen und Gestalten.
WAGNER: Wer Schmerz fühlt, dem hat die Natur das Weinen gestattet.
YODA: Da muß er durch als Lurch wenn er Frosch werden will.
ROUSSEAU: Wenn Kinder anfangen zu sprechen, weinen sie weniger. Das ist eine natürliche Folge: eine Sprache wird durch die andere ersetzt. Warum sollten sie durch Schreie sagen, wenn sie Schmerzen haben, sobald sie es mit Worten sagen können, es sei denn, der Schmerz sei zu heftig, um durch Worte ausgedrückt werden zu können?
Wie ein blasser Tropfen Bluts
Färbt die Lippen einer Kranken,
Also ruht auf diesen Tönen
Ein vernichtungssüchtger Reiz.
ZELTER: Das Stück ist wirklich ein Ganzes und teilt sich verständlich auf und zu. Die Engländer rücken aus der Ferne mit Trommeln an; wie sie sich nähern, erkennt man sie an dem „Rule Britannia“. Ebenso rückt die Gegenarmee vor. Kanonenschläge und Kleingewehrfeuer sondern sich von beiden Seiten erkennbar ab, das Orchester arbeitet wie ein Schlachtgewühl.
HEGEL: Die Kühnheit der Komposition verläßt den bloß konsonierenden Fortgang, schreitet zu Gegensätzen weiter, ruft alle stärksten Widersprüche und Dissonanzen auf und erweist ihre eigene Macht in dem Aufwühlen aller Mächte der Harmonie, deren Kämpfe sie ebensosehr beschwichtigen zu können und damit den befriedigenden Sieg melodischer Beruhigung zu feiern die Gewißheit hat. Es ist dies der Kampf der Freiheit und der Notwendigkeit: Ein Kampf der Freiheit der Phantasie, sich ihren Schwingen zu überlassen, mit der Notwendigkeit jener harmonischen Verhältnisse, deren sie zu ihrer Äußerung bedarf.
SCHÖNBERG: Jeder Akkord also, der neben dem Hauptton gesetzt wird, hat mindestens ebenso die Neigung, von ihm wegzuführen, wie zu ihm zurückzukehren. Soll Leben, soll ein Kunstwerk entstehen, so muß dieser bewegungserzeugende Konflikt angegangen werden. Die Tonalität muß in Gefahr gebracht werden, ihre Herrschaft zu verlieren, den Selbstständigkeitsgelüsten und Meutereibestrebungen muß Gelegenheit gegeben werden, sich zu betätigen, man muß sie ihre Siege erzielen lassen, ihnen gelegentlich Gebietsvergrößerungen gönnen, weil es einem Herrscher nur Vergnügen machen kann, Lebende zu beherrschen; und Lebende wollen rauben.
ADORNO: Der große Rhythmus der Durchführung wird selber einer von Notwendigkeit und Freiheit. Jede Anspannung wird gewissermaßen belohnt. Auch die Gasse der Freiheit ist kein Naturschutzpark.
HEGEL: Der Duft der Belebung, die Seele materieller Formen liegt allein darin, daß jeder Teil für sich in seiner Besonderheit vollständig da ist, ebensosehr aber durch den vollsten Reichtum der Übergänge in stetem Zusammenhange nicht nur mit den zunächstliegenden, sondern mit dem Ganzen bleibt. Dadurch ist die Gestalt auf jedem Punkte vollkommen belebt; auch das Einzelnste ist zweckmäßig, alles hat seinen Unterschied, seine Eigentümlichkeit und Auszeichnung und bleibt doch in durchgängigem Fluß, gilt und lebt nur im Ganzen, so daß sich selbst in Fragmenten das Ganze erkennen läßt und solch ein abgesonderter Teil die Anschauung und den Genuß einer ungestörten Totalität gewährt.
ADORNO: Auf der Höhe des Satzes dann bricht die Fanfare in den Trompeten, den Hörnern, den hohen Holzbläsern durch, außer aller Proportion zum Orchesterklang zuvor, auch zu der Steigerung, die zu ihr geleitet. Diese erreicht nicht sowohl die Klimax, als daß die Musik mit körperlichem Ruck sich dehnte. Der Riß erfolgt von drüben, jenseits der eigenen Bewegung der Musik. In sie wird eingegriffen. Für ein paar Sekunden wähnt die Symphonie, es sei wirklich geworden, was ängstlich und verlangend ein Leben lang der Blick von der Erde am Himmel erhoffte.
MAHLER: Meine Sinfonie wird etwas sein, was die ganze Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Träume ahnt!
SOLLERTINSKI: Hier wird die Natur weniger abstrakt und kontemplativ behandelt: Im Gegenteil – stürmisch die Eisdecke brechend und über die Ufer tretend, scheint sie dem Kollektiv der Menschen zu ähneln, das die alten Beziehungen im Namen der neuen niederreißt. Es ist kein Zufall: Gerade im Kopfsatz dieser Sinfonie – einem gigantischen Marsch, eröffnet durch ein plastisches Thema der acht Hörner im Unisono, mit tragischen Ausflügen, mit Spannungssteigerungen, die bis zu Kulminationspunkten von nicht mehr menschlicher Macht geführt werden, mit pathetischen Rezitativen der Hörner oder der solistischen Posaunen, die gleichsam zum Aufstand blasen – vernahmen die Kritiker den Schritt von Arbeiterkolonnen bei einer Maidemonstration.
ADORNO: Seine Symphonien und Märsche sind keine des disziplinierenden Wesens, das triumphal alles Einzelne und alle Einzelnen sich unterjocht, sondern sammeln sie ein in einen Zug der Befreiten, der inmitten von Unfreiheit anders nicht zu tönen vermag, den als Geisterzug.
SOLLERTINSKI: Ihr Zentrum ist der verzweifelte Versuch, von neuem eine kollektivistische Weltsicht zu erlangen, die „aus den Fugen gegangenen Zeiten“ neu zu ordnen und die Beethovensche Idee der Menschheitsbrüderschaft trotz und inmitten der Schrecken der Ausbeutung im imperialistischen Europa aufrechtzuerhalten. Das ist ein Schmerz, aber nicht der Schmerz des Verzichts.
ADORNO: Identifiziert Mahlers Musik sich mit der Masse, so fürchtet sie diese zugleich.
SOLLERTINSKI: In Mahler reift das Bewußtsein der Unmöglichkeit, unter den Bedingungen des imperialistischen Europa als philosophischen Kern einer Sinfonie eine große gemeinschaftsbildende Idee zu finden. Darum ist Mahlers sinfonische Welt die Welt unaufhörlicher Exaltation, eine Welt der Spasmen und Zuckungen: Alle Dinge werden im Zustand des Paroxysmus gezeigt. Die ganze Zeit über gigantische, krampfhafte Kontraste; betäubende Ausbrüche des gesamten Orchesters wechseln hier mit dramatisch gespannten, dort mit lyrischen Pianissimi; die dynamischen Zeichen wechseln mitunter mehrmals in einem Takt, es wimmelt nur so von Crescendi und Sforzati. Die Musik gewinnt den Charakter des Abgerissenen, Nervösen und verrät eine außerordentliche emotionale Anspannung, die beinahe in einen Aufschrei mündet. Man gewinnt den Eindruck, als seien die Partiturseiten buchstäblich mit Blut geschrieben.
NIETZSCHE: Oh Mensch gib acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht?
SOLLERTINSKI: Der Mensch prallt frontal mit der Realität zusammen – mit einer Welt, erfüllt von fieberhafter Tätigkeit, von Tränen, Gewinnen, Verbrechen und Heldentaten.
ADORNO: Auf Mahler allein paßte das Wort sozialistischer Realismus, wäre es nicht selber so depraviert von Herrschaft.
Wilder Lust Accorde störren
Der Verzweiflung eisgen Traum –
Wie ein blasser Tropfen Bluts
Färbt die Lippen einer Kranken.
SCHÖNBERG: Die Entscheidung eines erfolgreichen jungen Komponisten: „Die heutige jüngere Generation mag keine Musik, die sie nicht versteht“, stimmt nicht überein mit dem Empfinden der Helden, die sich auf Abenteuer einlassen. Man könnte erwarten, daß ein junger Mensch dieser Art, der von dem Schwierigen, Gefährlichen, Geheimnisvollen angezogen wird, eher sagen würde: „Ja, bin ich den ein Kretin, daß man mir nur solches dummes Zeug vorsetzt, das ich verstehe.“
ADORNO: Ja, leider. Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.
NIETZSCHE: Wagt es zu eurem Heil und laßt einmal da trüb erleuchtete Stück Natur und Leben, welches ihr allein zu kennen scheint; ich führe euch in ein Reich, das ebenfalls wirklich ist, ihr selber sollt sagen, wenn ihr aus meiner Höhle in euren Tag zurückkehrt, welches Leben wirklicher und wo eigentlich Tag, wo die Höhle ist.
BRUHN: Vitalist!
MAHLER: Das Publikum – o Himmel – was soll es zu diesem Chaos, das ewig auf’s Neue eine Welt gebärt, die im nächsten Moment wieder zugrunde geht, zu diesen Urweltsklängen, zu diesen sausenden, brüllenden, tosenden Meer, zu diesen tanzenden Sternen, zu diesen verathmenden, schillernden, blitzenden Wellen für ein Gesicht machen.
TH. MANN: Bei der Premiere gleicht das überfüllte Theater vor Begeisterung einem Tollhause. Rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie, fremde Menschen fallen einander schluchzend in die Arme, Frauen wanken halb ohnmächtig zur Tür – so geht es zu im Saal.
WIELAND: Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen, glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Scene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer unter dessen Gewalt sie waren gefiel.
ADORNO: Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre. Nur vermöge der Trennung von der empirischen Realität, die der Kunst gestattet, nach ihrem Bedürfnis das Verhältnis von Ganzen und Teilen zu modeln, wird das Kunstwerk zum Sein zweiter Potenz.
MAHLER: Es klingt alles wie aus einer anderen Welt herüber. Und – ich denke, der Wirkung wird sich niemand entziehen können. – Man wird mit Keulen zu Boden geschlagen und dann auf Engelsfittichen zu den höchsten Höhen gehoben.
SCHILLER: Erhebet euch mit kühnen Flügel / Hoch über euren Zeitenlauf! / Fern dämmre schon in eurem Spiegel / Das kommende Jahrhundert auf!
MAHLER: Alle Fesseln zu durchbrechen und über Leid und Leben dieser Erde hinaus im höchsten Flug in andere, freiere, leuchtendere Weltenkreise sich zu erheben.
SCHÖNBERG: So werden wir einst sein, wenn wir uns durchgerungen haben. Das Genie leuchtet voran, und wir bemühen uns nachzukommen. Dort wo es sich befindet ist’s schon hell; aber wir können diese Helligkeit nicht ertragen. Wir sind geblendet.
BRUNO: So werden die einen, kaum daß sie einmal freie Luft verspürt haben, sogleich nach Art des blinden Maulwurfs wieder das Erdreich aufgraben und ihrem angestammten dunklen Bau zustreben. Andere werden wie Nachtvögel ihre düsteren Schlupfwinkel aufsuchen, sobald ihre schwachen Augen von der Morgenröte geblendet werden, die im Osten den leuchtenden Sonnenaufgang ankündigt.
JACOBSEN: Flüchtend durchraschelt der Falter die Hecken, / Springen die Frösche nach feuchten Verstecken.
SCHÖNBERG: Das Genie leuchtet voran, und wir bemühen uns nachzukommen! Bemühen wir uns wirklich genug? Hängen wir nicht zu sehr am Tag? Es wird immer plötzlich ganz still, nachdem einer dieser Großen gesprochen hat. Wir lauschen. Aber bald hat uns das Leben wieder mit seinem Lärm.
ADORNO: Das Bild, das dem Durchbruch sich entgegenstreckt, bleibt versehrt, weil er in der Welt ausblieb wie der Messias. Ihn musikalisch realisieren heißt zugleich, sein reales Mißlingen bezeugen. Was die Immanenz der Gesellschaft versperrt, kann der Immanenz der Form nicht glücken, die jener abgeborgt ist. Beides wollte der Durchbruch sprengen.
SCHÖNBERG: Soviel durfte MAHLER von dieser Zukunft verraten; als er mehr sagen wollte, wurde er abberufen. Denn es soll noch nicht ganz still werden; es soll noch Kampf und Lärm weiter sein. Wir sollen noch weiter kämpfen und ringen, sehnen und wünschen. Und es soll uns weiter versagt sein. Wir sollen blind bleiben, bis wir Augen erworben haben.
Und der Wind schüttelt spottend
nieder auf sie Harfenschlag und Becherklang und Liebeslieder.
und sie schwinden und seufzen:
„Unsere Zeit ist um.“