Rezension
Nur für internen Handgebrauch
Vermehrt taucht Guy Debord in der gegenwärtigen Raumzeit auf. Zwar nicht in leiblicher Ausdehnung, aber als Abbild.
Das Urbild ist schwer einzuschätzen, was die Bedeutung seiner Rolle angeht. Sicher ist, daß ihm schon vor den kleinen Unruhen in Frankreich 1968 und Italien 1977 gelang dieselben theoretisch zu fassen und zwar auf die merkwürdige Weise, daß sein Begriff der Sache spekulativ vorweg hüpfte und diese so erst den Schein einer geschichtlichen Tat bekam. Den Positivisten sind beide Revolten ein kleines Polizeiproblem, Anlaß für eine kleine Strukturreform des Systems und ein bißchen auch vergebliches Aufbäumen gegen die verwaltete Welt. Derweil Debord in der Erscheinung den Beginn eines zweiten gründlicheren Versuchs der Arbeiter sah, vereinigt mit desertierenden Studenten eine rotte Produktionsweise zu beseitigen. Er hat der Revolte ihren inneren Gehalt gezeigt, er gab ihr den Begriff. Wenn man ihn liest, bekommt man den Eindruck hier ziehe sich die Nullzeit zusammen und verdichte sich zur neuen Qualität. Man bekommt die angenehme Illusion als seinen die Revolten nur eine kleine Exposition, welche den Drehpunkt der Geschichte einleitet, auf welchen die Juden ihr ganzes Leben lang warteten. ¾ Als Quelle für Historiker scheidet Debord damit aus, wenn man auch nicht sagen muß, daß es dem Idealisten an Realitätssinn mangelte. Beliebiges Beispiel: Nachdem die Studenten die Universität kurzfristig für die Revolution requiriert hatten und einige Fabriken still standen, bemerkte er die Möglichkeit die Akten der Universität zu vertilgen, um so die Desertation der Studenten unumkehrbar zu machen.
Unsicher dagegen, ob es Debord gelang auch Triebmittel des historischen Sumpfes zu sein: „Allen bedeutsamen Revolutionen, die ins Auge springen, geht notwendig im Geist der Epoche eine verborgene Revolution voraus, die nicht für alle sichtbar ist und die noch weniger von den Zeitgenossen wahrgenommen werden kann und die ebenso schwer durch Worte auszudrücken, wie zu begreifen ist.“ (Hegel) Er konnte der verlockenden Illusion nicht widerstehen, sich selbst in diesem Licht zu sehen. Es wäre aber dem damaligen Zeitgeist zu viel Ehre erwiesen, wenn man Debord für Zeitgeist nehmen würde und so bleibt er kommenden Generationen aufgespart. „So wird das, was ein Jahrhundert, wenn man so sagen darf, nur ausgebrütet hat, durch das ihm folgende Jahrhundert hervorgebracht.“ Seine Illusion konnte aber immerhin nach dem lächerlichen Untergang seiner Organisation dadurch gerechtfertigt werden, daß sich das Epizentrum der Revolution nun scheinbar von Frankreich nach Italien bewegte. (Vgl. Zur wirklichen Spaltung der situationistischen Internationale) Nachdem auch das vorbei war, zog sich Debord zunächst auf eine realistische negative Position zurück (Nachwort zur Gesellschaft des Spektakels), um dann – nach dem wenig spektakulären Fall der Planökonomien – das Leben zu nehmen.
Intellektuelle widmen ihre Denkabstraktionen manchmal solchen „Maulwürfen der Geschichte“. Hier geht es um ein im Schmetterling-Verlag erschienen Büchlein, welches dem Titel nach eine „Aneignung der situationistischen Revolutionstheorie“ verspricht. Über dieses Buch kam es in der Redaktion dieser Zeitung zu einigem Streit, der mit dem Ausschluß eines Schwachkopfes endete. Zunächst beauftragt diese kleine Rezension zu schreiben, schrieb er im Wesentlichen folgendes:
„… Die beiden Autoren glotzen Guy Debord an, unfähig seinen Geist zu begreifen und sich also im selben Medium zu bewegen. Ihr Verhältnis zum historischen Stoff ist insgesamt nur sklavisch zu nennen. Ihre glorreiche Entdeckung etwa, daß es den Situationisten um die Abschaffung der Ware ging – um was geht es der kommunistischen Revolution denn sonst? – verdinglichen sie gleich zum Kern einer ‚situationistischen Theorie‘. Der Exkurs zu den entsprechenden Kapiteln des alten Marx ist so gehalten, daß man fast den Eindruck bekommt, es handle sich bei ihm um einen Kretin; man wird schläfrig und tatsächlich hören spätestens hier die mir bekannten Leserinnen auf zu lesen, nachdem sie zunächst sich durch den historischen Teil quälten, um wenigstens die dort verstreuten kargen Informationen über die sagenhafte Avantgarde des Pariser Mai zu erhaschen. … Unfähig also sich das Gelesene zu eigen zumachen, also nicht ständig scheinbar referierend zu zitieren, um aber in Wahrheit dem Zitiertem allen Sinn zu nehmen, verbleiben die Autoren völlig in ihrer attentistischen Rolle. Sie geben vor die Situationisten naiv zu erklären und erklären so das Publikum zu Schwachköpfen – um am Ende nur ihre eigene Naivität zu erklären. Es verhält sich nicht so, daß Debord und Konsorten schwer zu verstehen wären. Vielmehr schreiben sie klar und deutlich, sofern man ihre Prämissen teilt (Die unbedingte Notwendigkeit den Kapitalismus zu beseitigen, d.i. die Welt mit nüchternen Augen zu sehen) … Klobürsten … Die Autoren sind sich nicht zu blöde, am Ende ihres verdinglichten Machwerks mit 500 unnötigen Fußnoten und völlig belangloser Literaturliste die blinden Flecken der Situationisten ‚schonungslos‘ – wie sie es nennen – zu benennen, als da wären die Pressionen der Frauen und die Beendigung unzähliger Menschenleben durch die von den Deutschen erzwungene Einnahme von Zyklon B zwischen den Jahren 1939 und 1945. Additiv stellen die Autoren zwei Kritikpunkte nach, um Abschließend zu suggerieren sie stünden, was den Stand der Kritik angeht, über den Situationisten. Dies obwohl sie doch ahnen, daß sie selbst in dieser fortgeschrittenen Organisation das Schicksal der Prosituationisten hätten teilen müssen. … ‚Die Prosituationisten bleiben Studenten der Revolutionen. Die Ehrgeizigsten verspüren die Notwendigkeit zu schreiben und ihre Schriften sogar zu veröffentlichen, um abstrakt ihre abstrakte Existenz bekanntzugeben, wobei sie glauben, ihr dadurch einigen Bestand zu verleihen … Der Prosituationist sagt, daß er alles will, weil er in Wirklichkeit, ohne jede Hoffnung, das geringste wirkliche Ziel zu erreichen, nicht mehr will als wissen lassen, daß er alles will, in der Hoffnung, daß jemand auf Anhieb seine Versicherung bewundert und seine schöne Seele. Er braucht die Totalität, die, wie er, ohne jeden Inhalt ist. Er ignoriert die Dialektik, weil er, indem er sich weigert, sein eigenes Leben zu sehen, sich weigert, die Zeit zu begreifen. Die Zeit macht ihm Angst, denn die Zeit macht qualitative Sprünge aus … Nach ihrem Plebiszit für das Geschichtsdenken bleiben sie trocken, weil sie nicht die Geschichte begreifen, und das Denken auch nicht. Um zur Behauptung, die sie sehr reizt, einer autonomen Persönlichkeit zu gelangen, fehlt ihnen nur die Autonomie, die Persönlichkeit, und das Talent, auch nur irgendetwas zu behaupten … Da der Prosituationist stets die Anwendung der kritischen Theorie auf seinen eigenen Fall befürchtet, ist sie ihm jedesmal verhaßt, wenn sie sich in konkrete Tatsachen einmischt, d.h. jedesmal, wenn sie tatsächlich existiert: alle Beispiele erschrecken ihn, denn er kennt nur sein eigenes und das will er verstecken‘ (Guy Debort, Gianfranco Sanguinetti: Die wirkliche Spaltung der Internationalen) … Natürlich muß man dieses Buch nicht zur Kenntnis nehmen und der Umstand das es dennoch Leser findet zeugt nur von deren Hang, weiter stoisch ihren Geist in vollständiger Leere zu spiegeln“
Die Mehrheit der Redaktion hat nun beschlossen den Autor dieser Zeile wegen prosituationistischer Tendenz auszuschließen. Der Prosituationismus ist allgemeiner Ausgedrückt folgendes Phänomen: Wann immer ein vernünftiger Mensch lebt bildet sich ein Kult um ihn. Diejenigen, die in sein Gravitationsfeld geraten und dennoch nicht in der Lage sind, ihm gleich zu tun, bestaunen den Fremdling, dessen messianische Kraft sie erfahren ohne sie aushalten zu können. Wenn sie nicht Ressentiment gegen den Einzelnen entwickeln, so kann dieser sich einer gewissen Achtung erfreuen, ohne das seiner Einsamkeit einen Abbruch getan wird.
Der nun ausgeschlossene Radakteur hat nun nur die negative Seite der Charakterisierung des Prosituationismus durch Guy Debord und den Italiener Gianfranco Sanguinetti erfasst. In voller Schönheit und Barbarei Nachzulesen in den §§ 25 – 29. Vor allem aber § 29. Außerdem §§37ff in der Auflösungsschrift ‚Die wirkliche Spaltung der Internationalen‘, Paris 1972) Die Personalpolitik der SI erscheint so als eine Art jakobinischer Furor gegen Danton und tatsächlich scheint es uns so, daß der Autor insgeheim Angst davor hat ein Danton (bzw. Vaneigem) zu sein. Vergessen hat er nämlich die historische Rechtfertigung des Prosituationismus und damit die Position. Vordergründig hat man es nur mit unbrauchbaren Elementen der Revolution zu tun. Aber Debort/Sanguinetti weiter: „In Wirklichkeit drückt dieses Milieu den Teil der wirklichen modernen Revolution aus, der noch ideologisch bleiben mußte, Gefangener der spektakulären Entfremdung und nur in ihren Begriffen unterrichtet. Der Druck der Geschichte ist heute so stark geworden, daß die Träger einer Ideologie der geschichtlichen Gegenwart gezwungen sind, vollkommen abwesend zu bleiben. … Die prosituationistische Rückentwicklung wurde als eine Verirrung, als mondän betrachtet, und nie als das, was sie wirklich war: die qualitative Schwäche der Gesamtheit, ein für den globalen Fortschritt des revolutionären Projekts notwendiges Moment.“ (Dieselben) Was will man sagen. Es gibt keine revolutionäre Bewegung und hätte der Genosse den späten Debord wenigstens so ungründlich gelesen, wie den Früheren, so wäre ihm nicht entgangen, daß dieser die Welt so düster sah, wie der Philosoph Th.W.Adorno schon 50 Jahre zuvor. Der Prosituationismus kann daher nicht weiter als ein Moment der Schwäche des revolutionären Projektes interpretiert werden.
Wenn nun vermehrt Menschen auftauchen, die dies abstrakt die Eigentumsverhältnisse als Problem wahrnehmen – wenn es ihnen auch nicht Möglich ist dieser abstrakten Einsicht mehr als abstrakte Folgen folgen zu lassen – so zeugt es nicht gerade von der Fähigkeit zum historischen Denken, wenn der ehemalige Redaktuer dieses Magazins großmäulig behauptet, daß entstehende prosituationistische Milieu wäre zu etwas anderem fähig, als zu ¾ Nichts. (Wer den Umkehrschluß noch nicht beherrscht, mache sich klar, daß unserer Schreiberling – indem er sich echaufiert – ex negativo unterstellt, die Autoren hätten auch anders schreiben können, als sie es taten) Natürlich sind die Autoren des besprochenen Buches Sklaven ihrer Zeit und ihres Stoffs. Schließlich muß die Menschheit sich erst aus ihrer Erniedrigung aufrichten; der Kampf ist erst wieder auf höheren Niveau aufzunehmen. Natürlich folgt aus dieser absolut nicht revolutionären Situation eine übertriebene Hoffnungslosigkeit und ebenso daß Unvermögen die Raumzeit anders als quantitativ zu betrachten. Daraus folgt auch, daß die Individuen zunächst Zuschauer bleiben müssen. Wären sie geschichtliche Individuen, so würden sie als Intellektuelle nicht nur Guy Debord rezipieren, sondern auch Blanqui, Holbach und wegen uns auch Freiherr von Knigge. Sprich die Geschichte würde sich um ihre revolutionären Momente ordnen. Die geschichtlichen Personen der Zukunft werden sich in den geschichtlichen Personen der Vergangenheit erkennen. Aber es ist doch klar, daß man aktuell mit den ‚Instruktionen für den Aufstand‘ kaum etwas anfangen kann, daß man sich noch in keinem der relevanten Toten wiederfindet, außer eventuell in irgendwelchen Vertretern der Romantik. Außerdem hat ein deutscher Intellektuellen-Magen schon genug mit einem Revolutionär zu tun – was will man ihn dafür tadeln. Dagegen kann man zugunsten des erschienen Buches immerhin anführen, daß der seltsame Stil dafür sorgt, daß das Buch einige Leser findet, welche in ihrer absoluten Mehrzahl von den Orginalschriften der SI geblendet würden. Wenn sie sie überhaupt lesen, so wissen sie mit ihnen so wenig anzufangen, wie mit dem ‚Manifest der kommunistischen Partei‘. Sie können sich aber an das Licht gewöhnen, indem sie es zunächst durch einen dichten Nebel hindurch betrachten.
Was nun aber die kleinen Kritikpunkte angeht, welche die Autoren des besprochenen Buches schüchtern äußern, um ihre souveräne Distanz, ihr souveränes Ich zu beweisen, so ist auch die Einschätzung dieses weit verbreiteten Phänomen völlig falsch. Der Mensch will erlöst sein, aber unter keinen Umständen sich selbst erlösen. Er sucht sich seinen Erlöser und wittert zugleich dessen Schwäche. Er traut ihm nicht zu, es tatsächlich zu vollbringen. In unserem Fall war das Gespür nicht schlecht. Wäre Debord der Geist seiner Zeit gewesen, er wäre nicht ein gutes Immitat von Bakunin, den Enzyklopädisten, dem frühen Marx und freilich noch zahlreichen anderen gut aufgenommenen Vorläufern gewesen. Tatsächlich hat er sich der historischen Aufgabe gar nicht gestellt, sonst hätte er über Krematorien nicht hinwegsehen können. Was nun aber die Frauenfrage angeht, so hatte das 20. Jahrhundert neben dem, daß es verpfuscht war, immerhin auch dafür gesorgt, daß der nächste Versuch ohne die Hälfte der Menschheit nicht vonstatten gehen wird. Und Frau Michèle Bernstein ist keine Hälfte. Die Behäbigkeit des Vortrags dieser Beschuldigung und auch die Unfähigkeit solche Punkte organisch in das Gefüge der Gedanken einzubeziehen spielt keine Rolle. Unserer Rezensent hätte es besser auf sich genommen sich diesen Problemen zu widmen, statt sie abzuwehren nur wegen dem absolut notwendigen Versagen einiger linken deutschen Intellektuellen, die doch positiv unser Interesse nicht finden, vielmehr uns als Indikator einer möglichen neuerlichen Erschütterung der Totalität dienen. Denn war der vergangene Prosituationismus eine Funktion des marginalen revolutionären Gedankens einer kleinen radikalen Minderheit, so ist der Aktuelle nicht anders zu begreifen, den als heimlich-schüchternes Flüstern: Es wäre doch besser mit einer revolutionären Avantgarde. Das die intellektuellen Bemühungen so schwach sind, wie die spontanen Aktionen einzelner Proleten etwa in Arbeitsämtern, liegt darin, daß erst vorbereitet werden muß, was die Chronisten dann aufschreiben werden. Dazu braucht es Zeit.
DIE REDAKTION