Aus der Abderitengeschichte
„Sagen Sie mir doch“, fuhr die Base fort, „in welchem unter allen diesen Ländern gefiel es Ihnen am besten?“
„Wo könnt es einem besser gefallen, als – zu Abdera?“
„O wir wissen schon daß dies Ihr Ernst nicht ist. Ohne Komplimente! antworten Sie der jungen Dame wie Sie denken“, – sagte der Ratsherr.
„Sie werden über mich lachen“, erwiderte Demokrit: „aber weil Sie es verlangen, schöne Klonarion, so will ich Ihnen die reine Wahrheit sagen. Haben Sie nie von einem Lande gehört, wo die Natur so gefällig ist, neben ihren eigenen Verrichtungen auch noch die Arbeit der Menschen auf sich zu nehmen? Von einem Lande, wo ewiger Friede herrscht? wo niemand Knecht und niemand Herr, niemand arm und jedermann reich ist; wo der Durst nach Golde zu keinen Verbrechen zwingt, weil man das Gold zu nichts gebrauchen kann; wo eine Sichel ein eben so unbekanntes Ding ist als ein Schwert; wo der Fleißige nicht für den Müßiggänger arbeiten muß; wo es keine Ärzte gibt weil niemand krank wird, keine Richter weil es keine Händel gibt, keine Händel weil jedermann zufrieden ist, und jedermann zufrieden ist, weil jedermann alles hat was er nur wünschen kann; – mit Einem Worte, von einem Lande, wo alle Menschen so fromm wie die Lämmer, und so glücklich wie die Götter sind? – Haben Sie nie von einem solchen Lande gehört?“
„Nicht, daß ich mich erinnerte.“
„Das nenn ich ein Land, Klonarion! Da ist es nie zu warm und nie zu kalt, nie zu naß und nie zu trocken; Frühling und Herbst regieren dort nicht wechselsweise, sondern, wie in den Gärten des Alcinous, zugleich, in ewiger Eintracht. Berge und Täler, Wälder und Auen sind mit allem angefüllt, was des Menschen Herz gelüsten kann. Aber nicht etwa daß die Leute sich die Mühe geben müßten die Hasen zu jagen, die Vögel oder Fische zu fangen, und die Früchte zu pflücken, die sie essen wollen; oder daß sie die Gemächlichkeiten, deren sie genießen, erst mit vielem Ungemach erkaufen müßten. Nein! alles macht sich da von selbst. Die Rebhühner und Schnepfen fliegen einem gespickt und gebraten um den Mund, und bitten demütig daß man sie essen möchte; Fische von allen Arten schwimmen gekocht in Teichen von allen möglichen Brühen, deren Ufer immer voll Austern, Krebse, Pasteten, Schinken und Ochsenzungen liegen. Hasen und Rehböcke kommen freiwillig herbei gelaufen, streifen sich das Fell über die Ohren, stecken sich an den Bratspieß, und legen sich, wenn sie gar sind, von selbst in die Schüssel. Allenthalben stehen Tische, die sich selbst decken; und weich gepolsterte Ruhebettchen laden allenthalben zum Ausruhen vom – Nichtstun und zu angenehmen Ermüdungen ein. Neben denselben rauschen kleine Bäche von Milch und Honig, von Cyprischem Wein, Zitronenwasser und andern angenehmen Getränken; und über sie her wölben sich, mit Rosen und Schasmin untermengt, Stauden voller Becher und Gläser, die sich, so oft sie ausgetrunken werden, gleich von selbst wieder anfüllen. Auch gibt es da Bäume, die statt der Früchte kleine Pastetchen, Bratwürste, Mandelkrapfen und Buttersemmeln tragen; andere, die an allen Ästen mit Geigen, Harfen, Cithern, Theorben, Flöten und Waldhörnern behangen sind, welche von sich selbst das angenehmste Konzert machen, das man hören kann. Die glücklichen Menschen, nachdem sie den wärmern Teil des Tages verschlafen und den Abend vertanzt, versungen und verscherzt haben, erfrischen sich dann in kühlen marmornen Bädern, wo sie von unsichtbaren Händen sanft gerieben, mit feinem Byssus, der sich selbst gesponnen und gewebt hat, abgetrocknet, und mit den kostbarsten Essenzen, die aus den Abendwolken herunter tauen, eingebalsamt werden. Dann legen sie sich auf schwellende Polster um volle Tafeln her, und essen und trinken und lachen, singen und tändeln und küssen die ganze Nacht durch, die ein ewiger Vollmond zum sanftern Tage macht; und – was noch das angenehmste ist?–“
„O gehen Sie, Herr Demokrit, Sie haben mich zum besten! Was Sie mir da erzählen, ist ja das Märchen vom Schlaraffenlande, das ich tausendmal von meiner Amme gehört habe, wie ich noch ein kleines Mädchen war.“
„Aber Sie finden doch auch, Klonarion, daß sichs gut in diesem Lande leben müßte?“
„Merken Sie denn nicht, daß unter allem diesem eine geheime Bedeutung verborgen liegt?“ sagte der weise Ratsmann; „vermutlich eine Satire auf gewisse Philosophen, welche das höchste Gut in der Wollust suchen.“
Schlecht geraten, Herr Ratsherr! dachte Demokrit.
„Ich erinnere mich in den Amphiktyonen des Teleklides eine ähnliche Beschreibung des goldnen Alters gelesen zu haben“, – sagte Frau Salabanda.
„Das Land, das ich der schönen Klonarion beschrieb“, sprach der Naturforscher, „ist keine Satire: es ist das Land, in welches von jedem Dutzend unter euch weisen Leuten zwölf sich im Herzen hinein wünschen und nach Möglichkeit hinein arbeiten, und in welches uns eure Abderitischen Sittenlehrer hinein deklamieren wollen; wenn anders ihre Deklamationen irgend einen Sinn haben.“
„Ich möchte wohl wissen, wie Sie dies verstehen!“ – sagte der Ratsherr, der (vermög’ einer vieljährigen Gewohnheit, nur mit halben Ohren zu hören, und sein Votum im Rate schlummernd von sich zu geben) sich nicht gern die Mühe nahm einer Sache lange nachzudenken.
„Sie lieben eine starke Beleuchtung, wie ich sehe, Herr Ratsmeister“, erwiderte Demokrit. „Aber zu viel Licht ist zum Sehen eben so unbequem als zu wenig. Helldunkel ist, deucht mich, gerade so viel Licht, als man braucht, um in solchen Dingen weder zu viel noch zu wenig zu sehen. Ich setze voraus, daß Sie überhaupt sehen können. Denn wenn dies nicht wäre, so begreifen Sie wohl, daß wir beim Lichte von zehentausend Sonnen nicht besser sehen würden, als beim Schein eines Feuerwurms.“
„Sie sprechen von Feuerwürmern?“ – sagte der Ratsherr, indem er bei dem Worte Feuerwurm aus einer Art von Seelenschlummer erwachte, in welchen er über dem Gaffen nach Salabandens Busen, während Demokrit redete, gefallen war. – „Ich dachte wir sprächen von den Moralisten.“
„Von Moralisten oder Feuerwürmern, wie es Ihnen beliebt“, versetzte Demokrit. „Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frei und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist; – mit Einem Wort, ein Land, wie Ihre Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land sein, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immer währende Eintracht – kurz, die Saturnischen Zeiten, wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Ratsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo man keine Bedürfnisse hat. Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich Ihre Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie sie ist: und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß warum sie nicht anders sein kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet; so begegnen sie ihm als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt.“
„Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten tun sollen?“
„Die Natur erst ein wenig kennen lernen, ehe sie sich einfallen lassen es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam gegen die Torheiten und Unarten der Menschen sein, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Wirkungen fordern wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen daß wir die Spitze eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind.“
„So unsinnig wird doch niemand sein?“ – sagte der Abderiten einer.
„So unsinnig sind neun Zehnteile der Gesetzgeber, Projektmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage!“ – sagte Demokrit.
Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun wieder nach Hause, und träumte unterwegs, beim Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sphinxen, Einhörnern, Gymnosophisten und Schlaraffenländern; und so viel Mannigfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin überein: daß Demokrit ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bei allem dem ganz kurzweiliger Sonderling sei . – „Sein Wein ist das Beste, was man bei ihm findet“, sagte der Ratsherr.
Gütiger Anubis! dachte Demokrit, da er wieder allein war: was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich – die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen!
CHRISTOPH MARTIN WIELAND